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BERICHT/275: Initiativvorschläge - auf die Füße gestellt ... (3) (SB)



Krankheiten und den Umgang damit darf und soll der Mediziner, ungeachtet aller auch ihm irgendwie bekannten gesellschaftlichen Ursachen und Konsequenzen, als persönliches Leiden, als Privatsache der Leute behandeln, die er zur Wiederaufarbeitung entgegennimmt. (...) Die Insassen der "modernen Leistungsgesellschaft" mit ihrem fragwürdigen "Lebensstil" kommen nämlich gar nicht mit der Erwartung, dass da die auch ihnen irgendwie geläufigen, weil erduldeten gesellschaftlichen Krankheitsursachen therapiert, geschweige denn aus der Welt geschafft werden könnten oder sollten. (...) Was den Ärzten da als der zu ihrem Angebot komplementäre Anspruch begegnet, ist das instrumentelle Verhältnis, das moderne Konkurrenzsubjekte zu sich selbst einnehmen, weil sie es müssen: Sie wollen fit sein für die Ansprüche, die "das Leben" an sie stellt (...)"
Sabine Predehl, Rolf Röhrig: Gesundheit - Ein Gut und sein Preis, München 2016, S. 74

"Gesundheit und das gute Leben für Alle - Selbstorganisierte Versorgung und Infrastruktur" - die Diskussion um alternativen Formen medizinischer Versorgung auf dem Kongreß Selber machen wurde mit der Präsentation aktiver oder noch in Planung befindlicher Projekte kollektiver und selbstorganisierter Arbeit in diesem Bereich eröffnet. So plant das Gesundheitskollektiv Berlin die Einrichtung eines partizipativen Sozial- und Gesundheitszentrums im Neuköllner Rollberg- und Flughafen-Kiez, das 2018 eröffnet werden soll. Die Idee dazu entstand im Umfeld des Hamburger Medibüros, wo einige Aktivistinnen und Aktivisten unzufrieden damit waren, Menschen lediglich Zugang zu einem insuffizientem Gesundheitswesen zu verschaffen, aber die sozialen Faktoren von Gesundheit und Krankheit nicht genügend berücksichtigen zu können.

Armut macht nicht nur krank, sondern führt zu gravierenden Unterschieden in der durchschnittlichen Lebenserwartung. So ergab ein Bericht des Robert-Koch-Institutes über gesundheitliche Ungleichheit, daß dieser Abstand zwischen dem am Einkommen bemessenen obersten und untersten Fünftel in der Bundesrepublik bei Männern rund zehn Jahre beträgt, bei Frauen etwas weniger [1]. Laut einer Studie der American Medical Association, die die durchschnittliche Lebenserwartung im kommunalen Vergleich untersucht hat, werden die Menschen in den wohlhabendsten Gemeinden des Landes sogar 20 Jahre älter als in den ärmsten Kommunen [2]. Auch alle anderen Indikatoren körperlichen und seelischen Wohlbefindens belegen, daß sozial benachteiligte Menschen in westlichen Metropolengesellschaften mehr Qualen und Schmerzen auszuhalten haben als ihre privilegierten Vergleichsgruppen.

Dieser klassengesellschaftliche Antagonismus wird hierzulande unter dem Anspruch, jeden Menschen selbst für seine körperliche und geistige Verfassung verantwortlich zu machen, absichtsvoll negiert. Obwohl die empirische Forschung der medizinischen Wissenschaften besagen, daß soziale und politische Faktoren zu zwei Drittel Einfluß auf den Gesundheitsstatus einer Person nehmen, während deren eigene Verantwortung sich auf ein Drittel der krankmachenden Faktoren beschränkt, propagiert der staatlich administrierte Medizinbetrieb Verhaltensprävention als zentralen Schlüssel zur Behebung psychophysischer Probleme. Dem stellen linke Aktivistinnen und Aktivisten den Primat der Verhältnisprävention entgegen, also die Bearbeitung der Frage, in welchem Ausmaß soziale, ökonomische und politische Faktoren wie Armut, Bildung, frühkindliche Förderung, Arbeitsbedingungen, Wohnverhältnisse, ethnische und geschlechtliche Zugehörigkeit Auswirkungen auf die jeweiligen psychophysische Verfassung haben.

Ina, Aktivistin des Berliner Gesundheitskollektives, geht es darum, mit derartigen Projekten das Thema Gesundheit zu repolitisieren. Dazu gilt es Freiräume zu schaffen, in denen über Gesundheit und Krankheit gesprochen werden kann, neue Arbeitsformen und Organisierungsprozesse im Stadtteil initiiert und Mittel und Wege gesucht werden können, die Menschen befähigen, die erforderliche gesellschaftliche Veränderung gemeinsam in Angriff zu nehmen.

Zum Problem selbstorganisierter Gesundheitsversorgung werde allerdings das hohe Ausmaß an staatlicher Regulation. So sei es schwierig, medizinische Dienstleistungen außerhalb des Systems primärmedizinischer Versorgung anzubieten. Wer wie sie eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Sozialberatung, Rechtsberatung, psychotherapeutischen Angeboten und Heilbehandlungen durch Allgemeinmediziner oder einen Kinderarzt anbiete, agiere in einer rechtlichen Grauzone. Eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Zuweisung von Patienten zwischen den Fachrichtungen stehe schnell unter Korruptionsverdacht. Der strukturelle Ordnungsanspruch an marktförmige Versorgung rufe bei enger Kooperation schnell den Verdacht auf den Plan, gegen die Chancengleichheit auf dem Gesundheitsmarkt zu verstoßen.

Dieser Wiederspruch zwischen einem Anliegen, das den Bedürfnissen der Menschen ganz konkret zu entsprechen versucht, und dem Primat der Marktwirtschaft im Gesundheitswesen ist einer von vielen guten Gründen, den Kapitalismus zu überwinden. Kollektive und solidarische Formen der Zusammenarbeit werden programmatisch in Mißkredit gebracht, denn die Menschen sollen isoliert werden, um sich als Marktsubjekte permanent in Konkurrenz gegeneinander zu befinden. Unter diesen politischen Umständen fällt es schwer, sich über das Anwachsen psychischer Probleme wie Depression und Burn-Out-Syndrom zu wundern, ist doch alles darauf angelegt, den Menschen in die Sackgasse ohnmächtiger Kapitulation gegenüber den herrschenden Verhältnissen zu treiben.

Um so mehr gehe es darum, über Rechtsformen zu beraten und eine Expertise zu entwickeln, mit der sich auch in diesem System eine interdisziplinäre integrierte Versorgung etablieren lasse, so die Aktivistin. Abschließend forderte sie dazu auf, die Verhältnisse auch und gerade in dem bestehenden System aufzubrechen und Freiräume in der durchregulierten Gesundheitsversorgung zu schaffen, unbequem zu bleiben und Alternativen zu erkämpfen. Auch zu diesem Zweck wolle man an die Gesundheitsbewegungen der 70er Jahre anknüpfen. Das ist zweifellos eine gute Idee, denn die Brüche in den Entwicklungslinien linker Selbstorganisation sind zweifellos tief, aber nicht unüberwindbar.

Lokale Projekte im engen Kontakt zur Wohnbevölkerung

Die mit dem Berliner Gesundheitskollektiv und dem Hamburger Medibüro assoziierte selbstorganisierte Poliklinik im Hamburger Stadtteil Veddel wurde im Januar des Jahres nach mehrjähriger Vorbereitung, bei der auch verschiedene selbstorganisierte Gesundheitszentren in Europa besucht wurden, eröffnet. Das von einem Kollektiv aus rund 20 Aktivistinnen und Aktivisten betriebene Zentrum soll nicht nur für die primäre Gesundheitsversorgung zuständig sein, auch wenn diese die Arbeit zu einem Gutteil bestimmt. Aufgrund ihrer Insellage ist die Veddel relativ isoliert vom Rest der Stadt, so daß die 5000 dort lebenden Menschen großen Bedarf an vielseitiger Gesundheitsversorgung haben.

Wie Kolja, der dem Kollektiv der Poliklinik angehört, erklärte, sind dort medizinische Berufe wie auch Juristen und andere nichtärztliche Berufe vertreten. Mit einem Arzt für Allgemeinmedizin und einer Sozial- und Gesundheitsberatung wird dem auf der Veddel bestehenden Bedarf entsprochen. Um ein solches Angebot aufrechterhalten zu können, werden ein ärztlicher Mitarbeiter und drei nichtärztliche Mitarbeiter über die Kassenärztliche Vereinigung (KV) finanziert, während der weitaus größere Teil der Arbeit ehrenamtlich verrichtet wird. Da auf der Veddel vor allem Menschen migrantischer Herkunft leben und es eine Unterkunft für geflüchtete Menschen gibt, wird die Beratung für den Umgang mit Behörden stark in Anspruch genommen. Zudem hat sich eine Zusammenarbeit mit migrantischen Initiativen etabliert oder auch mit der Gruppe Wilhelmsburg solidarisch, einem kollektiven Projekt auf der benachbarten Elbinsel, das gegen Zwangsräumungen kämpft und die Bewältigung alltäglicher Probleme zu einer Form politischer Arbeit entwickelt hat.

So, wie die Einrichtung des Projekts in Zusammenarbeit mit der auf der Veddel lebenden Bevölkerung erfolgte, werden alle wesentlichen Entscheidungen gemeinsam getroffen. Insgesamt geht es darum, Probleme nicht zu individualisieren, sondern kollektive Prozesse im Stadtteil anzustoßen. Das Gesundheitskollektiv in Berlin und die Poliklinik in Hamburg betrachten sich als Pilotprojekte zur Etablierung weiterer Gesundheitsprojekte in den Stadtteilen, die nicht nur eine Dienstleistung anbieten, sondern auch politische Prozesse gegen die krankmachenden Verhältnisse anstoßen sollen. Darüberhinaus sollten sich die einzelnen Initiativen europaweit vernetzen, um voneinander zu lernen und weitere Projekte dieser Art anzustoßen, so der Aktivist aus Hamburg in Überleitung zu der nun vorgestellten sozialen Klinik in Thessaloniki.

Das Elend deutschen Hegemonialstrebens nicht nur in der Peripherie

Dort ist die Situation selbstverständlich eine ganz andere als unter der insgesamt medizinisch noch relativ gut versorgten Bevölkerung der Bundesrepublik. Eben dieses Land ist maßgeblich dafür verantwortlich, daß die Kürzungen im Gesundheitswesen Griechenlands so tief ins etablierte Geflecht medizinischer Versorgung schneiden, daß erkrankte Menschen zumindest unter den drei Millionen nichtversicherten Griechinnen und Griechen schnell vor existentielle Probleme gestellt werden und sich in Lebensgefahr befinden [3]. Zwar haben seit anderthalb Jahren theoretisch alle Menschen Recht auf Zugang zum Gesundheitssystem, aber durch Kürzungen von über 50 Prozent der Gesamtausgaben und keinerlei Neueinstellungen ist das reguläre staatliche Gesundheitswesen kaum noch funktionsfähig. Der von den internationalen Gläubigern des Landes durchgesetzte Strukturwandel in allen Bereichen der Sozialpolitik sorgt zudem dafür, daß, so Niki, eine der beiden aus Thessaloniki angereisten Aktivistinnen, alle Nachteile des Gesundheitswesens in Deutschland auf Griechenland übertragen werden.

Den Aktivistinnen der sozialen Klinik in Thessaloniki war es wichtig zu erklären, daß sie als individuelle Personen an dem Kongreß teilnehmen und nicht als Vertreterin einer Partei oder sozialen Bewegung. Das rund 300 Menschen umfassende Projekt ist politisch so vielfältig, daß sie jeder Vereinnahmung durch eine bestimmte Ideologie oder Weltanschauung strikt durch basisdemokratische Entscheidungsprozesse und nichthierarchische Strukturen vorbeugen, es also auch keine Sprecherinnen gibt, die das gesamte Projekt repräsentieren.

Initiiert wurde die Soziale Klinik von einer Gruppe aus Gesundheitsarbeiterinnen und -arbeitern in Thessaloniki, die den Hungerstreik von 300 Flüchtlingen medizinisch begleiteten, die auf diese Weise gegen ihren völligen Ausschluß von jeglicher Form der Gesundheitsversorgung protestierten. Die Aktivistinnen und Aktivisten entschlossen sich damals, ganz allgemein etwas gegen die desolate Situation im Gesundheitswesen zu unternehmen. Im Herbst 2011 wurde die soziale Klinik gegründet und in Räumlichkeiten des Gewerkschaftsdachverband GSEE eröffnet.

Die Klinik erhält keine öffentlichen Mittel, und Spenden staatlicher oder kirchlicher Art als auch von der Pharmaindustrie oder von Parteien werden abgelehnt. So wird die Finanzierung über Solidaritätsgruppen, Einzelpersonen und Veranstaltungen und Initiativen in In- und Ausland organisiert, zudem arbeitet die Klinik mit niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten zusammen, die bestimmte Untersuchungen oder Therapien kostenlos beisteuern. Auf jeden Fall, so die Aktivistin Anna, sei es eine gute Übung, kein Geld von der EU zu nehmen, wozu ihre Institutionen durchaus bereit wären, denn die Europäische Union verursache die Probleme in Griechenland.

Wie die Physiotherapeutin Niki schilderte, bietet die Soziale Klinik verschiedene medizinische Leistungen an, die von rund 200 ärztlichen und nichtärztlichen Mitarbeitern in täglicher oder auch stündlicher Rotation gewährleistet werden. Ambulante Versorgung wird in den Fachbereichen Psychiatrie, Innere Medizin und Zahnmedizin angeboten, es gibt eine Apotheke und andere Angebote wie etwa Gruppen zum Thema Selbstsorge, alternative Formen der Medizin, Diabetes oder auch die im Bereich des Bergbaus entstehenden Pathologien, gehören doch die Goldminen auf der nordöstlich von Thessaloniki gelegenen Halbinsel Chalkidiki zu den die Gesundheit der Menschen massiv bedrohenden und dementsprechend stark bekämpften Industrieprojekten der Region [4].

Niki betonte, wie wichtig ihnen die Ablehnung des kapitalistischen Gesundheitswesens sei und schilderten, welche politischen Aktivitäten sie zu diesem Zweck entfalten. So betreiben sie allein oder in Kooperation mit anderen Initiativen eine umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit, um die Ausgrenzung von Menschen aus dem Gesundheitswesen zum Thema zu machen. Sie organisieren Kundgebungen an Krankenhäusern und anderen Gesundheitsdiensten, beteiligen sich an antifaschistischen und antirassistischen Veranstaltungen und arbeiten zusammen mit Initiativen wie Vio.me, der besetzten selbstorganisierten Fabrik in Thessaloniki, die umweltfreundliche Seifen und Reinigungsmittel produziert, der Bewegungen gegen die Goldminen, gegen die Privatisierung des Wassers und für die Solidarität mit den Geflüchteten. So haben sie in den Flüchtlingslagern der Region bekannt gemacht, daß die dort lebenden Menschen jederzeit in die Klinik kommen können, um sich dort behandeln zu lassen.

Die seit langem der autonomen Bewegung angehörende Aktivistin Anna aus Thessaloniki lobte besonders die an diesem kleinen Ort trotz aller Widersprüche politischer und persönlicher Art entstandene Zusammenarbeit. Die dort stattfindenden Diskussionen und entwickelten Herangehensweisen hätten eine neue linke Praxis geschaffen. Dies sei besonders wichtig, um die Tendenz linker Gruppen, sich stark auf sich selbst zu beziehen und eine Art Autismus zu entwickeln, zu durchbrechen. So verfüge jede Gruppe über wichtige Theorien, wisse aber nicht nicht, wie dies mit der Bevölkerung zu kommunizieren sei. In der Sozialen Klinik träfen politische Gruppen aus dem gesamten Spektrum der Linken zusammen, und es funktioniert sogar, so Anna nicht ohne Ironie. Wenn nach Unterstützung gefragt werde, dann kämen sogar mehr Leute als erforderlich, was zu den wenigen Gelegenheiten gehöre, in denen sie stolz auf die Linke sei.

Anstatt isoliert vor sich hin zu leben träfen die Menschen in der Sozialen Klinik zusammen, sie lernten unterschiedliche Kulturen des Gemeinwesens kennen, entwickelten Werkzeuge der Veränderung und lernten, sich selbst um das Gesundheitswesen zu kümmern. Am wichtigsten sei es, die Passivität zu überwinden und sich, so gut es eben gehe, zu beteiligen. Es sei sehr zu begrüßen, wenn die Menschen sich auf diese Weise über gesellschaftliche Mechanismen klar würden, vielleicht nähme dies dem Staat ja etwas von der Macht, die er über Menschen ausübt. So schilderte Anna das Beispiel spanischer Aktivistinnen und Aktivisten, die die Krankenhäuser schlicht gezwungen hätten, Flüchtlingen zu helfen. Auch das könne ein Weg zur Enteignung großer Institutionen sein, so die Aktivistin aufmunternd. Schließlich empfahl die pensionierte Lehrerin angesichts der Fixierung vieler Patientinnen und Patienten auf den Konsum von Medikamenten, mit denen sich vermeintlich alles regeln ließe, an die in den 60er Jahren abgebrochenen und seitdem in der Luft hängenden Diskussionen anzuknüpfen.

Zu guter Letzt unterstrich Niki noch einmal die Dringlichkeit des Kampfes, den sie in Thessaloniki führen: "Wenn wir das, was im Zentrum des Empire - Deutschland, Frankreich, Großbritannien, USA - als Modell der Medizin praktiziert wird, nicht hier stoppen, dann sind wir verloren. Alle von uns. Daß, was wir in Griechenland erleben, ist dann auch die Zukunft für Deutschland".

Der Not des sozialen und globalen Krieges kollektiv und solidarisch entgegentreten

Der US-amerikanische Aktivist Ben berichtete über seinen einmonatigen Aufenthalt im nordirakischen Shingal, ein hauptsächlich von Ezidinnen und Eziden bewohnter Bezirk nahe beim Berg Shingal in der Provinz Ninive. Die Region erhielt internationale Beachtung, als ihre Bevölkerung im August 2014 einem Angriff des IS durch die Peschmerga der PDK, die die Region verteidigen sollten - und von der Bundesrepublik mit Waffen und Ausbildung unterstützt werden - , schutzlos ausgesetzt wurden. Erst als die Guerilla der PKK und die Volksverteidigungseinheiten YPG/YPJ aus Rojava einen Korridor ins nördliche Syrien öffneten, konnten mehr als 10.000 Menschen vor den islamistischen Aggressoren gerettet werden. Seitdem haben die Ezidinnen und Eziden eigene Selbstverteidigungskräfte nach dem Vorbild Rojavas aufgestellt.

Ben, der als anarchistisch orientierter Mediziner den Einfluß des Kapitalismus auf das Gesundheitswesen untersucht und auch einen kritischen Ansatz zur NGO-Arbeit im Globalen Süden verfolgt, widmete sich in seiner kurzen Einführung einiger grundsätzlicher Fragen wie der in religiösen Institutionen wurzelnden Helfermentalität, der an militärische Strukturen angelehnten Organisation des Gesundheitswesens und der kapitalabhängigen Professionalisierung der Gesundheitsberufe in Ausbildung und Klinik. Dieser Entwicklung stellte er einige Beispiele für Basisorganisierung wie die chinesischen Barfußärzte zur Zeit der Revolution oder das autonome Gesundheitswesen der Zapatistas gegenüber. Da die indigene Bevölkerung Mexikos meist keinen Zugang zu Universitäten hat, wurde dort eine selbstorganisierte Form der medizinischen Ausbildung entwickelt, bei der jeder sein eigenes Tempo nimmt. Insofern interessiert ihn, wie sich das staatsferne Gesundheitswesen der kurdischen Befreiungsbewegung auf die Beziehungen zwischen einzelnen Berufsgruppen wie Ärztinnen und Pflegerinnen auswirkt, die er mit kritischem Blick auf patriarchale Strukturen im Medizinbetrieb untersucht.

Nach Shingal gelangt man nur über den von PDK-Milizen kontrollierten Nordirak. Da PDK-Chef Masoud Barzani keinen medizinischen Nachschub nach Shingal duldet, müssen Ärzte mit einer anderen Begründung reisen als derjenigen, dort medizinische Hilfe leisten zu wollen. Das nächstgelegene Krankenhaus ist drei bis vier Stunden Autofahrt weit entfernt, und wegen des Embargos durch die PDK werden schwierige Krankheitsfälle ohnehin in Nordsyrien behandelt. Mit einigen Fotos illustriert Ben seinen Bericht von der kleinen Klinik, die jeden Tag von 60 Patientinnen und Patienten aufgesucht wird. Sie wird von einem Kollektiv betrieben, das auch die Mahlzeiten gemeinsam organisiert und mehr ist als eine bloße Praxisgemeinschaft. Dabei hat niemand ein Medizinstudium absolviert, alle Kenntnisse der dort arbeitenden Personen sind das Ergebnis einer selbstorganisierten Ausbildung.

Die Klinik wird von einer Arzthelferin aus Hamburg geleitet, die als einzige genügend medizinische Erfahrung für diese Aufgabe hatte. Über die Jahre kamen immer wieder medizinisch geschulte Aktivistinnen und Aktivisten aus Europa oder Nordamerika und bildeten sie weiter aus, so daß sie jetzt, wie Ben berichtet, eine erfahrene Praktikerin ist. Ansonsten wurden Ezidinnen und Eziden in einer Art experimentellen Akademie ausgebildet, völlig unbürokratisch und aus eigenem Engagement heraus. Das gilt auch für die Apotheke und das Labor, wo drei Monate reichen müssen, um die dort anfallende Arbeit übernehmen zu können. Allerdings wurde der ursprüngliche Plan, im Rahmen der kurdischen Befreiungsbewegung eine Gesundheitsakademie aufzubauen, wo eine neue Art von Ärztinnen und Ärzten ausgebildet werden sollte, erst einmal zurückgestellt. Ansonsten hätte man äußeren Ansprüche an Abschlüsse und andere Nachweise, ohne die keine internationale Zusammenarbeit möglich ist, nicht gerecht werden können.

Abschließend sprach sich Ben dafür aus, von Rojava, Shingal und Thessaloniki etwas für die Entwicklung transnationaler Solidarität zu lernen. Was in den Metropolen geschieht, ist unauflöslich mit den Entwicklungen in der Peripherie des Empire verknüpft, und das funktioniert natürlich auch umgekehrt. Da der Gesundheitssektor in großem Maße gesellschaftlich determiniert ist, könne man ihn nicht erfolgreich beeinflussen, ohne nicht auch die Gesellschaft zu verändern. Das zeigen, wie gesagt, auch die Probleme medizinischer Selbstorganisierung in der BRD. Derartige Projekte verstoßen schon im Ansatz gegen die herrschende Marktordnung und würden von deren Sachwaltern, je effizienter und wirksamer sie wären, zweifellos massiv bekämpft.

Ohne ein Rätesystem, das die verschiedenen Erfordernisse von Verteidigung bis Landwirtschaft usw. miteinander verknüpft, das ein Forum schafft, um miteinander zu sprechen und voneinander zu lernen, kann Ben sich keine progressive Entwicklung vorstellen. Schließlich sei nach der Grenze zwischen Solidarität und Wohlfahrt zu fragen, denn es könne nicht darum gehen, der Expansion des trainierten Ego, so Ben zum professionellen Standesdenken der medizinischen Berufe, weiteren Raum zu geben.

Zusammen handlungsfähig werden ... nicht um die Lücken im System zu stopfen

Angesichts der geschilderten Beiträge blieb eine Diskussion fast vollständig aus, was im Publikum auch kritisch moniert wurde. Lediglich die Frage nach dem Problem, inwiefern ein selbstorganisiertes Gesundheitswesen nicht auch Lücken in der staatlich organisierten Versorgung stopfen könne, so daß der neoliberale Kapitalismus letztlich sogar von freiwilliger sozialer Arbeit profitiert, wurde noch versucht zu beantworten. Dabei zeigte sich, daß alle Referentinnen und Referenten sich dieses Problems sehr bewußt sind, aber ein definitiver Umgang mit ihm noch nicht entwickelt wurde.

Auf jeden Fall wolle man versuchen, nicht nur medizinische Dienstleistungen anzubieten, sondern mit den gesellschaftlich ausgeschlossenen, überflüssig gemachten Menschen auch in einen politischen Diskurs zu treten. Wenn man Gesundheit neu definiere, dann könnten Selbstorganisation und emanzipatorische Kämpfe auch gesundheitsfördernd sein. Das ist zweifellos ein Punkt, über den nicht lange nachgedacht werden muß - an Gründen für politische Streitbarkeit herrscht kein Mangel, und sich aufzurichten, anstatt sich zu beugen, war und ist stets ein produktiver Beitrag zur Befreiung von welcher Ohnmacht und welchem Druck auch immer.


Fußnoten:

[1] http://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsK/2014_2_soziale_unterschiede.pdf?__blob=publicationFile

[2] https://www.wsws.org/en/articles/2017/06/09/heal-j09.html

[3] BERICHT/014: Sparfalle Griechenland - Genötigt, vertrieben, ausgeliefert (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/eurb0014.html

[4] INTERVIEW/095: Klimacamp trifft Degrowth - Goldgewinnung, Raubgesinnung ...    Petros Tzieris im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0095.html


Beiträge zum Kongreß "Selber machen - Konzepte von Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/268: Initiativvorschläge - koordinierte Effizienz ... (SB)
BERICHT/271: Initiativvorschläge - Selbsthilfe revolutionär ... (SB)
BERICHT/272: Initiativvorschläge - ein Standpunkt in Bewegung ... (1) (SB)
BERICHT/273: Initiativvorschläge - auf die Füße gestellt ... (1) (SB)
BERICHT/274: Initiativvorschläge - auf die Füße gestellt ... (2) (SB)
INTERVIEW/367: Initiativvorschläge - forcierte Stetigkeit ...    Aktivist Jonas im Gespräch (SB)
INTERVIEW/370: Initiativvorschläge - kein zahnloser Tiger ...    David Schuster im Gespräch (SB)

20. Juni 2017


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