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BERICHT/280: Reparationsschulden - griechisches Martyrium ... (SB)



Als Griechenland von der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 besonders hart betroffen und durch das Austeritätsregime der Gläubiger unter deutscher Führung in eine tiefe ökonomische Depression gestürzt wurde, stand die lange ausgeblendete deutsche Reparationsschuld neu und verschärft zur Diskussion. Daß die bürgerlichen Leitmedien abermals höhnten und hetzten, bei dieser ideologischen Retourkutsche würden zwei Komplexe unzulässig verquickt, die nicht das Geringste miteinander zu tun hätten, verwunderte nicht. Erstaunlicher und zugleich bestürzender war jedoch die teils heftige Kritik auch in Kreisen, die sich der Solidarität mit Griechenland verschrieben hatten. Während sich die einen dafür aussprachen, einen Zusammenhang zwischen der deutschen Reparationsschuld und einem großzügigen Schuldenschnitt gegenüber Griechenland herzustellen, reagierten andere ablehnend und unter Vorwürfen auf diese Initiative. Wie dabei insbesondere eingewendet wurde, werde die Reparationsfrage zu sehr auf Griechenland begrenzt und dadurch verabsolutiert. Einige Kritiker gingen sogar soweit, die Initiative als ein letztendliches Ablenkungsmanöver zu verwerfen, das einen zwar historisch bedeutsamen, aber für die aktuelle Auseinandersetzung eher irrelevanten Aspekt in den Vordergrund schiebe und der praktizierten Solidarität daher im Grunde abträglich sei.

Diese Kontroverse gab Anlaß zu einer systematischeren und tiefgreifenderen wissenschaftlichen Recherche unter Einbeziehung jeglicher relevanten Dokumente, die das Ausmaß der Ausplünderung und Zerstörung Griechenlands durch die Wehrmacht wie auch die daraus resultierende Reparationsfrage angefangen von den Kriegsjahren über die Abkommen der Alliierten und die junge Bundesrepublik bis hin zum Zwei-plus-vier-Vertrag und in die Gegenwart weitreichend ausleuchtet und entschlüsselt. Griechenland wurde beim Abzug der Wehrmacht 1944 von einem Schwellenland auf den Stand eines Entwicklungslands zurückgeworfen, und diese fundamentale Schwächung trug sich durch die folgenden Jahrzehnte aufgrund der unbeglichenen Reparationsschuld und der wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeit von den führenden zentraleuropäischen Staaten wie insbesondere Deutschland letztendlich bis heute durch.

Behandelt man daher die Folgen des deutschen Besatzungsregimes im Zweiten Weltkrieg nicht als vermeintlich abgeschlossenes Kapitel der fernen Vergangenheit, sondern stellt es in den Kontext einer kolonialgeschichtlichen Analyse imperialistischer Okkupation, drängt sich der unmittelbare Zusammenhang mit dem heutigen Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und Griechenland geradezu auf. Die Stärke und der vergleichsweise hohe Lebensstandard Deutschlands gründen damals wie heute auch auf der Ausbeutung und Zurichtung der griechischen Bevölkerung, die wie ein nie abgerissener roten Faden die Beziehungen zwischen den beiden Ländern verschränkt. Schon aus diesem Grund ist die Einbeziehung der Reparationsfrage ein unabdingbares Kernstück einer materiell fundierten Positionierung in der Solidarität mit Griechenland.


Beim Vortrag am Stehpult - Foto: © 2017 by Schattenblick

Karl Heinz Roth
Foto: © 2017 by Schattenblick

Fallstudie im Gesamtkomplex unbeglichener deutscher Schulden

Am 15. Juni 2017 stellte Karl Heinz Roth sein gemeinsam mit Hartmut Rübner verfaßtes Buch "Reparationsschuld - Hypotheken der deutschen Besatzungsherrschaft in Griechenland und Europa" [1] in der Kieler Pumpe vor. Dazu eingeladen hatte das Griechenlandsolikomitee Kiel [2] in Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung und anderen linken Kräften. Der Arzt und Historiker hat zusammen mit seinem Co-Autor nach dreijähriger Auseinandersetzung mit der Thematik und auf Grundlage tiefschürfender Forschungsarbeit ein 645 Seiten starkes Werk vorgelegt, das eine umfassende und differenzierte Sicht auf die kontrovers diskutierte Reparationsfrage gewährt und zweifellos als ein Standardwerk auf diesem Gebiet zu würdigen ist.

Roth konnte in dem knapp einstündigen Vortrag natürlich nur kursorisch auf die wesentlichen Schwerpunkte eingehen, die in dem umfangreichen Buch untersucht worden sind. Er konzentrierte sich dabei insbesondere auf solche Aspekte, die für die weitere Diskussion von besonderer Bedeutung sind. Auf diese Weise gab er einen höchst aufschlußreichen Einblick in die Dimensionen wie auch durchgängigen Muster der Zurichtung Griechenlands und dessen besondere Rolle im Kontext diverser weiterer Länder, die sich in einer ähnlichen Lage befinden.

Wie der Autor hervorhob, habe man sich mit Griechenland als einer Fallstudie beschäftigt, diese aber stets auf den Gesamtkomplex der unbeglichenen deutschen Reparationsschulden bezogen. Das Buch besteht aus einer Einführung und einer Dokumentation, so daß sich eine Makroebene der Analyse mit Sondierungen in Detailfragen im Dokumententeil verbindet. Dadurch sei ein Arbeitsbuch entstanden, das allen Interessierten ein Instrument an die Hand geben soll, um in der Reparationsdebatte bestehen zu können. Deshalb habe man auch nicht darauf verzichtet, die Analyse mit konkreten Vorschlägen zu einer abschließenden Reparationsakte zu verbinden.


Blick von hinten über das Publikum auf das Podium - Foto: © 2017 by Schattenblick

Heimstatt der Solidarität mit Griechenland in Kiel
Foto: © 2017 by Schattenblick

Zerstörungsbilanz der Besatzungsherrschaft

Das einleitende Kapitel ist der Untersuchung dessen gewidmet, was die Wehrmacht während ihrer dreieinhalbjährigen Besatzungsherrschaft in Griechenland angerichtet hat: Ruin der Wirtschaft und des Finanzsystems, eine weitgehende Vernichtung der Wohnsubstanz, eine Politik der verbrannten Erde beim Abzug und die Menschenverluste. Anhand historischer Grafiken verdeutlichte der Referent wesentliche Aspekte dieses Zerstörungswerks. So wurde Griechenland in drei Besatzungsgebiete aufgeteilt, indem die Deutschen die strategisch wichtigen Areale besetzten und den Rest Bulgarien und Italien überließen. Gleichzeitig wurden die Provinzen voneinander getrennt, und diese künstliche Grenzziehung zerstörte die Volkswirtschaft und schnitt Athen und Attika vom Hinterland ab. Diese Zerstückelung war eine entscheidende Voraussetzung für die folgende Katastrophe.

Bei Abzug wurden praktisch alle Brücken und Tunnelsysteme der Straßen und vor allem auch der Eisenbahnverbindungen zerstört. Rund 90 Prozent des gesamten rollenden Materials wie Waggons und Lokomotiven wurden entweder geraubt oder vor dem Abzug zerstört. In fast allen wichtigen Häfen wurden die Hafenanlagen systematisch zerstört, die Hafeneingänge blockiert und ganze Schiffskontingente an den Kaimauern vernichtet. In Dokumenten brüsten sich deutsche Pioniere, sie hätten den Hafen von Thessaloniki für zehn Jahre unpassierbar gemacht. 73 Prozent der gesamten Handelsflotte wurden entweder konfisziert oder vernichtet. Das gesamte Telefon- und Telegrafensystem wurde vernichtet. Über 1000 Ortschaften wurden niedergebrannt, davon mehr als 100 vollständig und in diesen Fällen wurde meist die gesamte Bevölkerung massakriert. Im Winter 1941/42 kam es zu einer explosionsartigen Vermehrung der Sterbefälle, allein in Athen und Attika verhungerten über 70.000 Menschen. Das grauenhaften Ausmaß an Zerstörung, das die Deutschen insbesondere in den Wochen vor ihrem Abzug aus dem fast schon befreiten Griechenland angerichtet haben, sei im Zusammenhang ihres Hasses auf die Befreiungsbewegung zu sehen.

In einem weiteren Kapitel wird diese Zerstörungsbilanz Griechenlands mit den Folgen der deutschen Okkupationspolitik im gesamten NS-beherrschten Europa verglichen. Untersucht wurden beispielsweise die Folgen der ersten Plünderungsphase, die Auswirkungen der Hungerpolitik wie auch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei der Vernichtung der jüdischen Gemeinden und der Deportation der jüdischen Bevölkerung in ganz Europa. Es wurden auch die Besatzungskosten und die Hyperinflation verglichen, die Kriegsverbrechen und die Politik der verbrannten Erde. Nicht zuletzt wurden auch die von den Deutschen vor ihrem Abzug in Gang gebrachten Bürgerkriege untersucht - ein sehr wenig beachtetes Kapitel in der historischen Forschung, so der Autor. Bei diesem Vergleich habe sich herauskristallisiert, daß vor allem die Länder der europäischen Peripherie besonders betroffen waren. Das waren abgesehen von der Sowjetunion im wesentlichen die sogenannten kleinen Alliierten, die jedoch bei den Reparationsdebatten am stärksten benachteiligt wurden.

Übereinkünfte und Kontroversen der Alliierten

Die Alliierten gingen angesichts der ungeheuren Zerstörungen davon aus, daß die Reparationsfrage ein zentrales Problem der Nachkriegspolitik darstellen würde. Deutschland würde diesmal bedingungslos kapitulieren, von den alliierten Truppen besetzt und einer gemeinsamen Aufsicht unterstellt werden. Auch müßte es erhebliche Gebiete an seiner Ostgrenze abzutreten haben. Unter diesen Voraussetzungen begannen im Winter 1942/43 die Debatten der Expertenstäbe über die Reparationsfrage in Washington, London und Moskau. Einigkeit herrschte darüber, daß das Lebenshaltungsniveau in Deutschland auf den europäischen Durchschnitt der unmittelbaren Nachkriegszeit gesenkt werden sollte, um Reparationen in Gang bringen zu können. Das Ausmaß der zu erwartenden Zerstörungen und humanitären Schäden wurde zwar recht präzise geschätzt, doch lagen die Schätzwerte weit auseinander. So ging der führende Experte auf seiten der Sowjetunion von einer deutschen Reparationsleistung von 90 Mrd. Reichsmark aus, während ein Team der Federal Reserve einen Betrag von 120 Mrd. und der Geheimdienst OSS sogar auf 260 Mrd. Reichsmark kam. Die Entschädigungen sollten aus der laufenden Produktion kommen und in einer Zeitspanne von zehn bis zwanzig Jahren erbracht werden.

Die führenden Politiker vor allem auf westlicher Seite nahmen diese Expertenpapiere jedoch noch nicht einmal zur Kenntnis. Eingedenk des Versailler Vertrags gingen sie davon aus, daß die Deutschen auch diesmal nicht bezahlen würden, zumal Lieferungen aus der laufenden Produktion nicht möglich seien. Auf der Konferenz von Jalta einigten sich die Sowjets und die USA dann aber doch auf ein gemeinsames Vorgehen, nämlich eine Reparationssumme von 20 Milliarden US-Dollar (Preisstand 1938), die zur Hälfte an die Sowjetunion abgeführt werden sollte. Gleichzeitig wurde beschlossen, eine alliierte Reparationskommission einzurichten, doch die britische Delegation unter Churchill meldete Vorbehalte an. Die deutlich spürbare Atmosphäre des Mißtrauens verstärkte sich, als die alliierten Truppen Deutschland von allen Seiten besetzten. Es begann ein wilder Wettlauf um die Hochtechnologiesektoren des deutschen Rüstungsbereichs und der Gesamtindustrie.

Als die Konferenz von Potsdam an der Reparationsfrage zu scheitern drohte, wurde im letzten Augenblick ein Kompromiß erzielt. Die Reparationszonen wurden in eine östliche und eine westliche Sphäre aufgeteilt, was der Auftakt zum Kalten Krieg war. In der östlichen Sphäre entnahm die Sowjetunion Demontagegüter und Reparationslieferungen aus ihrer Zone und später der DDR bis 1953. Davon gab sie 15 Prozent an Polen ab, das zusätzlich die Gebiete erhielt, die die Deutschen 1945/46 zurückgelassen hatten. Zur westlichen Zone fand im November/Dezember 1946 eine Konferenz in Paris mit 18 Delegationen statt und es wurde eine interalliierte Reparationsagentur gegründet. Der materielle Gesamtschaden für die westliche Sphäre wurde auf die gewaltige Summe von 389 Mrd. US-Dollar (Preisstand 1938) hochgeschätzt, davon für Griechenland 7,2 Mrd. US-Dollar. Die extreme Höhe dieser Summe resultierte daraus, daß die USA, Großbritannien und ihre Commonwealth-Partner in ihre Forderungen allgemeine Kriegskosten einrechneten, was nicht den internationalen Reparationsbestimmungen entsprach. Es wurden letztlich auch keine absoluten Summen verteilt, sondern nur Quoten an den konfiszierten deutschen Auslandsvermögen und an den Demontagegütern aus den Westzonen. Griechenland erhielt Quoten von 2,7 bzw. 4,5 Prozent. Das war gemessen am Ausmaß der Zerstörungen extrem wenig, die griechische Delegation protestierte heftig und die Abschlußkonferenz wurde auf Mitte 1946 vertagt, bis auch die Griechen nachgegeben hatten. Insgesamt wurden aus den Westzonen Demontagegüter im Umfang von 520 Mio. US-Dollar entnommen, davon erhielt Griechenland 25 Mio. als Gegenwert. Vor allem die US-amerikanische Militärregierung blockierte seit 1946 die Reparationsentnahmen und desavouierten damit die Reparationspolitik in der westlichen Sphäre vollständig. Der Kalte Krieg eskalierte, so der Referent.


Karl Heinz Roth beim Vortrag - Foto: © 2017 by Schattenblick

Trittsicher an den Abgründen deutscher Geschichte
Foto: © 2017 by Schattenblick

Deutsche Ministerialbürokratie diktiert Entschädigungsfrage

Zu Beginn der 1950er Jahre schaltete sich die bundesdeutsche Ministerialbürokratie in die Reparationsdiskussion ein, gewann dabei zunehmend an Gewicht und entwickelte strategische Grundsätze, an denen sie bis heute festhält. Reparationsleistungen seien nur dann zu erbringen, wenn sie für die Westintegration der Bundesrepublik unverzichtbar wären: Beispiele dafür der Israel-Vertrag 1952, die bevorzugte Bedienung der westlichen Gläubiger im Londoner Schuldenabkommen 1953 oder die Minimierung der Entschädigungsbestimmungen durch das Überleitungsgesetz 1952/54, durch das die BRD in die nationale Souveränität entlassen wurde. Darüber hinaus verweigerte die Bürokratie jeden rechtsverpflichtenden Anspruch auf Reparation. Sie vertagte die Reparationsfrage auf einen abschließenden gesamtdeutschen Friedensvertrag mit den vier alliierten Siegermächten, der bekanntlich bis Ende der 1980er Jahre nicht in Sicht war. Statt dessen verlegte sie sich auf ein Konzept der freiwilligen Hilfestellungen und Härtefonds der humanitären Hilfen, wodurch die Entschädigungsberechtigten zu Bittstellern degradiert wurden.

Für die Entschädigungsberechtigten aus Ostmittel- und Osteuropa wurden keinerlei Konzessionen gemacht. Hier bezog sich die Bürokratie auf die sogenannte Hallstein-Doktrin, der zufolge Länder, die mit der DDR diplomatische Beziehungen unterhielten, keine diplomatischen Vertretungen aus der Bundesrepublik bekamen, womit für die Berechtigten in diesen Ländern die Reparationsfrage bis Ende der 1980er Jahre eliminiert war. Diese Bürokratie hat bis heute alle Regierungen kontrolliert, auch die sozialliberalen der Jahre 1969 bis 1982. Die damalige neue Ostpolitik war nicht mit einer Öffnung in der Reparationsfrage verbunden, eher war das Gegenteil der Fall. Es gab zwar Wirtschaftshilfe, die jedoch dem Zweck diente, den RGW-Block zu zersetzen, und die teilweise euphemistisch als indirekte Reparation bezeichnet wurde. Das Studium der Akten gerade der sozialliberalen Regierungen sei besonders beschämend und zeige, daß die postnazistische Reparationsbürokratie, die zu über Dreiviertel aus alten Nazis bestand, auch noch in den 70er Jahren uneingeschränkt das Sagen hatte, so der Autor.

Die griechischen Regierungen meldeten immer wieder einen Reparationsvorbehalt an. So auch bei der offiziellen Beendigung des Kriegszustands 1952, bei der Ratifizierung des Londoner Schuldenabkommens und beim Entschädigungsabkommen 1960. Athen drängte stets auf eine separate Rückzahlung der Zwangsanleihe, die der griechischen Nationalbank 1942 auferlegt worden war. Im Jahr 1960 wurde schließlich ein deutsch-griechisches Entschädigungsabkommen ratifiziert. Es wurden 115 Millionen D-Mark an 96.800 Entschädigungsberechtigte gezahlt, also ein Tropfen auf den heißen Stein. Parallel dazu bemühte sich die griechische Diplomatie seit Mitte der 1950er Jahre immer wieder vergeblich um die Rückerstattung des geraubten Eigentums. Lediglich für die Tabakrestitution kam es 1961 zu einem Vergleich, bei dem ein minimaler Anteil der geraubten Tabake entschädigt wurde. Die jüdische Gemeinde Thessalonikis mahnte in Verhandlungen mit der Bundesregierung die Rückerstattung des geraubten Opfergolds im Umfang von immerhin 6,6 Tonnen und eine Entschädigung für geraubtes kommunales Eigentum an. 1967 wurde eine Schiedskommission eingesetzt, die einen Kompromißvorschlag unterbreitete. Dieser wurde jedoch von den Experten des Bundesfinanzministeriums zunichte gemacht.

Warum ging ausgerechnet Griechenland im Gegensatz zu anderen sogenannten kleinen Alliierten, die etwas mehr erreichten, so leer aus? Griechenland war durch die deutschen Kriegszerstörungen in den Status eines Entwicklungslands zurückgestoßen worden, und die Beziehungen zwischen den beiden Ländern waren seither asymetrisch. Athen war auf die Abnahme seiner Exporte, auf Wirtschaftshilfe, auf die bundesdeutsche Zustimmung zur EWG-Assoziation 1961 und zum Eintritt in die Europäische Gemeinschaft 1981 angewiesen. Den griechischen Regierungen waren dadurch weitgehend die Hände gebunden. Allerdings unterliefen ihnen auch strategische Fehler, als sie einige Hebel, beispielsweise bei der Kriegsverbrecherfrage oder bei der Freigabe des konfiszieren deutschen Eigentums in Griechenland, falsch oder gar nicht anwendeten, bilanzierte Karl Heinz Roth.

Zwei-plus-vier-Vertrag klammert Reparationsfrage aus

Nachdem im November 1989 die Berliner Mauer gefallen war, begann ein ungleicher deutsch-deutscher Einigungsprozeß. Die Bundesregierung und ihr DDR-Juniorpartner verhandelten mit den vier alliierten Siegermächten über einen Friedensvertrag, wobei sich eine strategische Achse Bonn-Washington bildete. Kohl und Genscher sagten den Amerikanern die uneingeschränkte Integration des geeinten Deutschlands in die westliche Hemisphäre und die NATO zu. Als Gegenleistung gestatteten ihnen Bush und Baker, die Reparationsfrage aus dem Zwei-plus-vier-Vertrag zu eliminieren. Diese Position wurde gegen sowjetischen und polnischen Protest durchgesetzt, wobei man die polnische Regierung mit der Drohung erpreßte, die Bundesrepublik könnte die Oder-Neiße-Linie nicht endgültig als polnische Westgrenze anerkennen. Der Zwei-plus-vier-Vertrag war de facto ein Friedensvertrag, da er insbesondere Grenzregelungen und das Ende der alliierten Vorbehaltsrechte enthielt. Nur die Reparationsfrage war ausgeklammert. Davon ausgehend agierte die deutsche Diplomatie seither mit zwei argumentativen Strängen: Zum einen behauptete sie mittels rabulistischer Argumente, es handle sich um keinen Friedensvertrag. Gleichzeitig argumentierte sie, für die Reparationsfrage sei es jetzt zu spät. Bis 1990 hatte es geheißen, es sei zu früh, wir brauchen den Friedensvertrag. Ab 1990 hieß es, der Zug ist abgefahren. Das Völkerrecht kennt jedoch keine Verjährung, weshalb auch dies eine absurde Argumentation war. Gleichzeitig begann die Bundesregierung im Verlauf der 1990er Jahre, ihre Politik der freiwilligen Härtefonds und Hilfestellungen fortzusetzen. Sie dehnte sie auf Ostmittel- und Osteuropa aus und leistete dabei wiederum nur sehr geringe Entschädigungszahlungen.

Eine neue Etappe der Reparationsverweigerung begann im Jahr 2000, als eine umfassende Teilentschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter durchgesetzt wurde. Im Rahmen der Bundesstiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" wurden die Härtefonds in Zukunftsfonds umgewandelt. Die Reparationsfrage sollte ausgeklammert bleiben, indem man pädagogische Erinnerungsprojekte und andere Einrichtungen der Gedenkkultur unterstützte. Es handle sich um nichts anderes als den Versuch einer imperialen Kontrolle der gesamten europäischen Gedenkkultur, so der Referent. Wenngleich die Gedenkkultur notwendig sei, dürfe sie doch nicht dazu mißbraucht werden, die berechtigten Entschädigungsforderungen der letzten Überlebenden und vor allem der Erben der Ermordeten auszublenden.

Berechnung der Reparationsschuld und erbrachten Leistungen

In einem Statistikkapitel des Buches werden das Ausmaß der deutschen Reparationsschuld und die bisher erbrachten deutschen Reparationsleistungen berechnet. Dabei gingen die Autoren methodisch von einem universellen Reparationsbegriff aus, wie er im internationalen Recht verankert ist. Er umfaßt alle materiellen und humanitären Schäden wie auch die den Zwangsarbeitern vorenthaltenen Lohnsätze. Aus diesem Gesamtvolumen wurde auf Grundlage der verfügbaren Akten ein Basiswert der Reparationsschuld in US-Dollar (Preisstand 1938) errechnet. Daraus konnte ein Zeitwert gebildet werden, indem der Basiswert auf Euro für das Jahr 2016 umgerechnet wurde. Während dabei die Entwicklung der Lebenshaltungskosten einbezogen wurde, blieben Zinsen oder Zinseszinsen unberücksichtigt, um eine Kommerzialisierung der Reparationsfrage zu vermeiden. Das gleiche Verfahren wendeten die Autoren auch bei der Untersuchung der bisherigen deutschen Reparationsleistungen an. Nach diesen Berechnungen beläuft sich der Gesamtbetrag der deutschen Reparationsschuld auf erstaunliche 384,7 Mrd. US-Dollar (Preisstand 1938), das sind heute 5,87 Billionen Euro, also das 1,8fache der Wirtschaftsleistung der Bundesrepublik im Jahr 2015. Griechenland hat eine Reparationsforderung von 12,15 Mrd. US-Dollar (Preisstand 1938), woraus sich ein Zeitwert von 185,3 Mrd. Euro ergibt. Hinsichtlich der bisher erbrachten Reparationsleistungen wurden 80,3 Mrd. US-Dollar, also immerhin 1,21 Billionen Euro, erbracht. Dieser Betrag ergibt sich vor allem daraus, daß die Gebietsabtretungen östlich der Oder-Neiße-Linie mit berücksichtigt wurden. Griechenland hat dagegen nur 63,8 Millionen Euro erhalten, also nicht einmal 0,5 Prozent seiner Forderungen.

In Reaktion auf den Zwei-plus-vier-Vertrag hat Griechenland die Zwangsanleihen erneut eingefordert und dazu eine Expertenkommission eingesetzt. Diese wies qualifiziert nach, daß die Deutschen diese Anleihe teilweise tatsächlich getilgt hatten, so daß es sich um eine Anleihe im finanzökonomischen Sinn handelte. Parallel dazu entwickelten sich regionale Initiativen: Einer Massenklage in Euböa gab das höchste Gericht mit dem Beschluß statt, deutsche Vermögenswerte zu konfiszieren, der jedoch umgehend von der Regierung suspendiert wurde. In den Jahren 2008/2009 kam es zur Reaktivierung der Reparationsfrage, auch anglo-amerikanische Ökonomen setzten sich für eine Kopplung mit einem großzügigen Schuldenerlaß ein. [3] Im Dezember 2014 legte eine Expertenkommission des griechischen Rechnungshofs ein Gutachten vor, das als ein Meilenstein in der Reparationsgeschichte bezeichnet werden kann. Es ist jedoch bis heute offiziell geheim, ein Beschluß über die Ergebnisse der Sonderausschüsse des Parlaments unterblieb und eine Verabschiedung auf parlamentarischer Basis fand nicht statt. Zugänglich wurden seine Inhalte lediglich durch die Publikation einer kleinen Zeitung, die in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde.

Die Reparationsfrage bleibt offen, auch die Syriza-Regierung steht unter derartigem Druck, daß sie es nicht wagt, diese Frage aufzuwerfen. Sie gibt das Gutachten nicht frei, da sie offenbar für den Fall einer offiziellen Forderung einen aufgezwungen Grexit befürchtet. 2015 startete das Projekt "Zug der Erinnerung", das gemeinsam mit der jüdischen Gemeinde von Thessaloniki eine Initiative ins Leben rief, um die Deutsche Bundesbahn als Nachfolgerin der Reichsbahn dazu zu veranlassen, die den Deportierten abgepreßten Transportkosten zurückzuerstatten.


Büchertisch mit Werken Karl Heinz Roths - Foto: © 2017 by Schattenblick

Zapata [4] präsentiert Früchte langjährigen Schaffens
Foto: © 2017 by Schattenblick

Initiative für eine abschließende Reparationsakte

Die Autoren schlagen vor, eine Initiative zur Begründung einer abschließenden Reparationsakte ins Leben zu rufen, die dem Zwei-plus-vier-Vertrag angehängt werden soll. Sie gehen dabei von drei Voraussetzungen aus: Erstens sei es nicht möglich, die gesamte deutsche Reparationsschuld zu tilgen. Statt dessen sollten entweder ein weiteres Fünftel (1,21 Billionen Euro) oder aber als Minimallösung 320 Mrd. Euro getilgt werden. Dieser Minimalbetrag wurde als Entsprechung der Zahlungen an die ehemaligen Kader des NS-Staats, die im Ausland inhaftierten Kriegsgefangenen, an die Invaliden von Wehrmacht und Waffen-SS sowie deren Hinterbliebene errechnet. Zweitens sollten mit diesen Reparationsleistungen nur die kleinen Alliierten bedacht werden, die stets ausgegrenzt wurden: Griechenland, Jugoslawien, Polen, Weißrußland, die Ukraine, die weiteren ehemals besetzten Gebiete der Sowjetunion und nicht zuletzt Italien und Ungarn. Drittens sollten die Nachfolger der Profiteure für diese Entschädigungsleistung herangezogen werden. Im Falle Griechenlands wären das die Bundesbank, Thyssen-Krupp, die Reemtsma-Nachfolger, die Aluminiumindustrie, die Elektrizitätswirtschaft, die Baukonzerne und die Wirtschaftsverbände. Wenn dieser Betrag nicht reicht, sollten die oberen 10 Prozent der Einkommensbezieher herangezogen werden, entweder durch Wiedereinführung der Vermögenssteuer oder Anhebung der Spitzensteuersätze der Einkommenssteuer.

Wenngleich diese Initiative auf den ersten Blick illusorisch erscheine, sei sie doch wichtig und sollte ernsthaft diskutiert werden. Diese Reparationsforderungen stellten zudem die materielle Grundlage unserer gesamten Erinnerungskultur dar. Nehme man diese ernst, dürfe die Grundlage nicht ausgeblendet werden. Nicht zuletzt wäre eine solche Initiative ein Schritt, um die wachsende Ungleichheit zwischen Zentrum und Peripherie der Europäischen Union abzubauen. Die europäische Integration sei die wichtigste Nachkriegshoffnung des antifaschistischen Widerstands gewesen, so der Referent.

Das Völkerrecht könne durch niemanden erzwungen werden, es werde von allen Großmächten mit Füßen getreten. Der Bundesgerichtshof sei für die Reparationsfrage nicht zuständig, ebensowenig der EuGH. Der Internationale Gerichtshof käme nur dann in Frage, wenn sich Regierungen an ihn wenden. In der Diskussion mit Experten sei klar geworden, daß die OSZE zuständig wäre. Ohne eine breite Basisinitiative werde sich jedoch auf der institutionellen Ebene nichts bewegen. Griechenland allein könne nichts bewirken, doch sähe es anders aus, schlössen sich die ehemals kleinen Alliierten in einer gemeinsamen Forderung zusammen. In Polen gebe es solche Bestrebungen, doch stelle sich dort auch die Rechte an diesem Punkt auf. In Italien fänden sich einige Initiativen, nicht jedoch im ehemaligen Jugoslawien, in der Slowakei oder gar in Weißrußland und der Ukraine.

Die Entschädigung bleibe zwangsläufig ein heißes Eisen, denke man etwa an die Verwüstungen der USA in Vietnam, Nicaragua und vielen weiteren Ländern auch in der Gegenwart. Würde die US-Regierung von einem internationalen Gerichtshof zur Verantwortung gezogen, müßte sie allein an Vietnam ungeheure Entschädigungsleistungen erbringen. Es gelte daher, ein ethisch begründetes internationales Recht voranzubringen, wozu es auch in der Wissenschaft Ansätze gebe, die man nutzen sollte. Was die Reparationsansprüche Griechenlands betrifft, sollte die Initiative von Deutschland ausgehen, das zugleich Subjekt und Objekt dieses Verfahrens ist.

Wie Karl Heinz Roths Buchvorstellung in der Kieler Pumpe aufschlußreich dargelegt hat, sind die "Hypotheken der deutschen Besatzungsherrschaft in Griechenland und Europa" in einem doppelten Sinn keinesfalls verjährt: Weder als materielle Ansprüche der heimgesuchten Bevölkerungen noch als analytischer Schlüssel mit Blick auf die hegemonialen Ambitionen Deutschlands, das seine Vorherrschaft in Europa abermals mit allen Mitteln vorantreibt.


Fußnoten:

[1] Karl Heinz Roth, Hartmut Rübner: Reparationsschuld - Hypotheken der deutschen Besatzungsherrschaft in Griechenland und Europa, Metropol Verlag, Berlin 2017, 645 Seiten, 29,90 Euro

[2] http://www.griechenlandsolikiel.de

[3] Siehe dazu auch:
BERICHT/196: Kriegsschuld - Arithmetik unzulässig ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0196.html

INTERVIEW/257: Kriegsschuld - ich bin viele ...    Manolis Glezos im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0257.html

[4] Buchladen Zapata GmbH Wilhelmplatz 6 24116 Kiel
http://www.zapatabuch.de

3. Juli 2017


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