Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REPORT


BERICHT/316: Jour Fixe zur Rußlandrevolution - der verschleierte Konter ... (1) (SB)



Und ich wollte zweitens verständlich machen, daß dieser Weg noch nicht zuende ist, daß die Hoffnung auf eine Gesellschaft der Freien und Gleichen nicht etwa eine eintägig-vergängliche und bedenkliche Kundgebung ist, sondern vielmehr, um es mit Nachdruck zu sagen, der eigentliche Existenzgrund der Menschheit.
Johannes Agnoli: Die Subversive Theorie [1]

Die Geschichte, so heißt es, werde von den Siegern geschrieben. Ohne deswegen historische Forschung in Abrede zu stellen und der Beliebigkeit das Wort zu reden, beschreibt diese These jedenfalls eine enge Verschränkung von Interessenlage und dementsprechenden wissenschaftlichen Erkenntnissen, gepaart mit der Deutungsmacht, ihnen hegemoniale Geltung zu verschaffen. Das gilt in besonderem Maße für die Russische Revolution, die zu den bedeutsamsten und zugleich umstrittensten Ereignisketten des 20. Jahrhunderts zählt. Schossen zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution abermals Interpretationen ins Kraut, als gelte es, die Rückkehr des Kalten Krieges ideologisch zu munitionieren, so schreibt dies letzten Endes eine alte Kontroverse fort, die bereits in den Kämpfen von 1917/1918 ihren Anfang nahm.

Im nachfolgenden geht es um den Ansatz, eine Geschichte dieser Auseinandersetzungen von unten fragend und forschend zu erschließen. Wie Quellen belegen, erlangten Arbeiterinnen und Arbeiter, die ihre Fabriken besetzten, Bäuerinnen und Bauern, die sich das Land aneigneten, und Soldaten, die kollektiv Befehle verweigerten, für eine kurze Frist die Macht, die Herrschaftsverhältnisse in Rußland zum Einsturz zu bringen. Sie schufen mit den Fabrikkomitees, den Arbeiter- und Soldatenräten ebenso innovative wie beispielgebende Organisationsformen und sie hatten durchaus eine Stimme, auch wenn diese binnen kurzem zum Verstummen gebracht und in der Folge totgeschwiegen wurde. Dieser Stimme Gehör zu verschaffen, muß sich nicht in einem retrospektiven Akt erschöpfen, sofern sie als Zeugnis einer Auseinandersetzung, die heute schärfer denn je tobt, zur Wirkung gebracht wird.


"1917. Aufstieg und Fall der Arbeitermacht in Russland"

Beim Jour Fixe 162 der Hamburger Gewerkschaftslinken, zu dem Dieter Wegner am 4. April ins Curiohaus eingeladen hatte, stellten Rainer Thomann und Anita Friedetzky ihr Buch "1917. Aufstieg und Fall der Arbeitermacht in Russland" [1] vor. Als dessen Geburtsstunde könnte man ein Gespräch zwischen Dieter Wegner, Rainer Thomann und Jochen von der Berliner Buchmacherei vor fast vier Jahren anführen. Sie faßten damals den Plan, daß anläßlich des 100. Jahrestags der Russischen Revolution ein Buch entstehen sollte, das die Räte und Fabrikkomitees in den Mittelpunkt stellt, die in der Februarrevolution 1917 die Macht in Händen hatten, so daß eine Art Doppelherrschaft bestand. Die Ausgangsfrage lautete: Wie war es möglich, daß sie diese Macht wieder verloren haben? Anita Friedetzky übersetzte Protokolle der Fabrikkomitees aus den Petrograder Putilow-Werken ins Deutsche. Die zunächst auf 70 Seiten veranschlagte Einleitung wuchs sich auf 460 Seiten aus, die Protokolle umfassen 150 Seiten, den dritten Teil des Buches bildet ein Glossar zu den Akteurinnen und Akteuren der Oktoberrevolution. Wie Dieter Wegner unterstrich, führe in diesem Zusammenhang keineswegs Nostalgie die Feder, sei dieses wichtige historische Thema doch von großer Bedeutung für heute, sofern in Deutschland noch einmal eine Arbeiterbewegung entsteht.

Der erste Teil des Berichts über den Jour Fixe ist den Vorträgen von Anita Friedetzky und Rainer Thomann gewidmet.


Im Vortrag - Foto: © 2018 by Schattenblick

Rainer Thomann und Anita Friedetzky
Foto: © 2018 by Schattenblick


Die Putilow-Protokolle - Zeugnisse aus erster Hand

Wie ist es 1917 tatsächlich abgelaufen? Die beste Analyse, hob Anita Friedetzky hervor, bringen die Akteure selber hervor. Glücklicherweise sei man auf diese aufschlußreichen Protokolle gestoßen, die den Zeitraum von April bis Oktober 1917 umfassen. Fabrikkomitees entstanden schon bei der ersten Revolution 1905, ohne die 1917 nicht möglich gewesen wäre. Es gab damals ungefähr 100 Großbetriebe in Petrograd, diverse weitere in anderen Regionen. In all diesen Betrieben wurden Fabrikkomitees gegründet, die Protokolle von ihren Sitzungen anfertigten, bei denen alle anstehenden Fragen und Probleme diskutiert wurden. Diese Zeugnisse verschwanden jedoch in den Archiven und wurden erst 1979 in Rußland veröffentlicht, 1981 folgte ein zweiter Band. Aus der Fülle des Materials wurden die vier größten Betriebe Petrograds ausgewählt, allen voran die Putilow-Werke mit ihren etwa 33.000 Arbeiterinnen und Arbeitern. Der Sammelband wurde jedoch, zumal in Deutschland, zunächst nicht wahrgenommen, so daß es insgesamt 100 Jahre dauern sollte, bis die Übersetzung einiger Protokolle vorlag.

Die Putilow-Werke nahmen als größter Rüstungsbetrieb des Landes eine Schlüsselstellung ein. Dort kam es immer wieder zu Streiks und Aufständen, auf der Tagesordnung stand nicht zuletzt die Beendigung des Krieges bis hin zu einer möglichen Konversion der Produktion. Im März/April 1917 bildeten sich dort Fabrikkomitees, wobei der Riesenkomplex aus vielen einzelnen Fabriken bestand, in denen jeweils Vollversammlungen stattfanden und Delegierte für das Komitee gewählt wurden. Auf diese Weise schuf man Transparenz nach innen und organisierte die Beziehungen nach außen. Sobald Probleme wie etwa Schulen für die Kinder der Beschäftigten, die Gesundheitsversorgung oder Entlassungen auftauchten, wurden Kommissionen gebildet, die sich damit auseinandersetzten. Die Betätigung der Fabrikkomitees ging also weit über das hinaus, was Gewerkschaften bei uns entscheiden können. Diese Entwicklung ging bis hin zu der Forderung, daß die gesamten Werke übernommen werden sollten. Mit der Erklärung der provisorischen Regierung konfrontiert, daß die Komitees in diesem Fall aber auch die Produktion sicherstellen müßten, sahen sich die Arbeiterinnen und Arbeiter mit einem Dilemma konfrontiert, das in den Protokollen gut zu verfolgen ist. Für ihre Situation gab es keine Vorbilder, sie betraten völliges Neuland. Zudem arbeiteten in diesen großen Werken sehr unterschiedliche politische Fraktionen von Anarchisten bis Menschewisten und Bolschewisten in den Fabrikkomitees zusammen, so daß es zu Auseinandersetzungen kam, die aber zumeist an der Lösung konkreter Probleme ausgerichtet waren.

Die Referentin zitierte zur Veranschaulichung verschiedene Passagen aus den Protokollen, aus denen hervorging, daß in dieser dramatischen Situation niemand aufgrund früherer Erfahrungen einen Rat geben konnte. Daraus resultierten Konsequenzen und Errungenschaften, die trotz der späteren Auflösung der Sowjetunion keineswegs sinnlos gewesen seien. Aufschlußreich ist die breite Palette existenzieller Herausforderungen, die von der Bewältigung alltäglicher Widrigkeiten über den Umgang mit anderen Streiks und Streikbrechern bis hin zu drohenden Entlassungen und der geplanten Demontage der unter staatlicher Kontrolle stehenden Putilow-Werke reichte. Schließlich hätten die Beschäftigten begriffen, was vor sich ging, und daß sie als politisierte Arbeiterinnen und Arbeiter aus Petrograd entfernt werden sollten.


Massenstreiks, Fabrikkomitees, Arbeiterräte

Rainer Thomann ging in seinen Ausführungen zunächst auf die Vorgeschichte ein. Die Industrialisierung Rußlands erfolgte im Vergleich zu Westeuropa später, doch beschleunigt. Millionen landlose Bäuerinnen und Bauern strömten nach der Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 in die Städte, wo es zu einem heftigen Zusammenprall der traditionellen russischen Lebensgewohnheiten mit der westlichen Ordnung rationaler Betriebsführung kam. Anfänglich richtete sich der Haß der Arbeiterinnen und Arbeiter direkt gegen die Fabrik, die Stätte ihrer Ausbeutung und Unterdrückung, Maschinen und Einrichtungen wurden demoliert. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam es in Petersburg und einigen anderen Orten zu ersten Massenstreiks. Wenige Jahre später wurde Südrußland von einer Streikwelle erfaßt, an der sich schätzungsweise über 200.000 Arbeiterinnen und Arbeiter beteiligten. Sie gründeten Streikkassen und Streikkomitees, die sich zu illegalen Organisationskernen in den Betrieben entwickelten. Die zaristische Regierung versuchte, der sich ausbreitenden Streikbewegung Herr zu werden, indem sie eigene Arbeitervereine ins Leben rief. Mit der heiklen Aufgabe beauftragt wurde einerseits Sergej Subatow, ein Oberst der zaristischen Geheimpolizei, andererseits der Pope Georgi Gapon. Während Subatow ziemlich rasch entlarvt wurde, gelang es Gapon, das Vertrauen der Arbeiterinnen und Arbeiter zu gewinnen. Gegen Ende 1904 gab es in Petersburg elf solche Vereine mit einigen tausend Mitgliedern. Nachdem in den Putilow-Werken zwei Arbeiter wegen ihrer Zugehörigkeit zum legalen Subatowschen Arbeiterverein entlassen worden waren, traten 12.000 Beschäftigte dieser Werke in einen Solidaritätsstreik. Diesem schlossen sich weitere Fabriken an, so daß im Januar 1905 in wenigen Tagen 140.000 Petersburger Arbeiterinnen und Arbeiter im Streik standen. Mit Gapon an der Spitze wollte man am Sonntag, den 9. Januar 1905, dem Zaren eine Petition übergeben. Was dann geschah, ist als Petersburger Blutsonntag in die Geschichte eingegangen.

Nach diesem kaltblütigen Massaker wurde Fabrik um Fabrik in einer Stadt nach der anderen die Arbeit niedergelegt. Eine Streikwelle ungeahnten Ausmaßes erfaßte Rußland. In den Monaten Januar und Februar 1905 war die Zahl der Streikenden höher als in den zehn vorangegangenen Jahren zusammengenommen. Die Führung der Streikbewegung lag in den Händen von gewählten Arbeiterausschüssen der einzelnen Betriebe. Die Vertreter der Betriebe schlossen sich zu einem gesamtstädtischen Arbeiterdelegiertenrat zusammen, dessen bekanntester später wegweisend für den im Frühling 1917 geschaffenen Petersburger Rat der Arbeiter- und Soldatendelegierten werden sollte. Es handelte sich um betriebliche Streikkomitees, die sich untereinander vernetzten und nach dem Streik oftmals zu Fabrikkomitees und Arbeiterräten wurden. Manchmal entstanden daraus gewerkschaftliche Organisationen, doch verhinderte das Koalitionsverbot deren Aufbau mit festen Strukturen und bezahlten Funktionären wie in Westeuropa. Daher verkörperten die Fabrikkomitees und Arbeiterräte wie kaum eine andere Organisationsform die Arbeitermacht in Rußland als autonome gesellschaftliche Kraft, so der Referent.


Bei der Lesung im Curio-Haus - Foto: © 2018 by Schattenblick

Lesung vor konzentriert lauschendem Publikum
Foto: © 2018 by Schattenblick


Die Februarrevolution des Jahres 1917

Im Frühling 1917 fiel das zaristische Regime völlig unerwartet unter den ersten Schlägen der Revolution wie ein Kartenhaus zusammen. In groben Zügen ist der Ablauf der Februarrevolution allgemein bekannt. Im Buch werden die Geschehnisse Tag für Tag geschildert. Dazu eine Kostprobe:

Inzwischen war die Bewegung bereits fließend in den bewaffneten Aufstand übergegangen. Sie hatte etwas Magisches. Es gab kein Zentrum, das sie anleitete, keine Führer, denen sie gehorchten. Nicht einmal konkrete Forderungen wurden formuliert und an die Regierung gerichtet. Und doch waren sie allen klar: Brot und Frieden, nieder mit der Zarenherrschaft, nieder mit dem Krieg - das waren nur die offensichtlichsten Forderungen. Im Grunde genommen ging es um sehr viel mehr, um alles oder nichts, um ein Leben in Freiheit und Würde. Und es gab keine Kompromisse. Der Kampf konnte nur mit dem Sieg der einen und dem Untergang der anderen Seite zu Ende gehen. Danach würde nichts mehr so sein wie vorher. Das war die Revolution. Ein großes Wort, abgeschliffen, sinnentleert und mißbraucht wie kaum ein anderes. "Der Traum von Generationen" hatte [der Historiker Nikolai] Suchanow geschrieben, er begann Wirklichkeit zu werden. Solange ihn nur einige wenige träumen, ist der Traum nur ein Traum. Wenn es unzählige sind, wird der Traum zur Realität. In jenen Februartagen des Jahres 1917 hatte in der russischen Hauptstadt das Unfaßbare Gestalt angenommen und drängte auf eine Entscheidung hin.

Im Südwesten von Petersburg liegen die gigantischen Putilow-Werke mit ihren zeitweise mehr als 30.000 Beschäftigten. Das damals bedeutendste und modernste Unternehmen der russischen Maschinen- und Metallindustrie produzierte an der Schwelle zum 20. Jahrhundert alle Arten von Gütern aus Stahl sowohl für den zivilen als auch für den militärischen Bereich. Während des Ersten Weltkrieges wurde das Werk vollständig auf Kriegsproduktion umgestellt und stand zudem unter staatlicher Kontrolle. Angesichts der gewaltigen Zusammenballung von Arbeitermassen erstaunt es nicht, daß die Putilow-Werke stets eine Art Epizentrum der Arbeiterunruhen waren, von dessen Streikwellen mehr als einmal das ganze Land erfaßt wurde. Auf einen Streik bei Putilow mußten nicht zwangsläufig revolutionäre Erschütterungen folgen, doch ein solcher ging diesen regelmäßig voraus, wie 1905 so auch 1917. Am 18. Februar trat die Lafettenstanzwerkstatt in den Streik, drei Tage später schloß sich das ganze Werk an, worauf die Firmenleitung ab dem 22. Februar die Aussperrung verhängte. Davon unabhängig trugen einen Tag später die Textilarbeiterinnen ihren Protest auf die Straße, trotz der Bedenken ihrer männlichen Kollegen in den politischen Parteien. Vor dem Hintergrund des Streiks in den Putilow-Werken und der allgemeinen Unzufriedenheit wurde die mutige Tat der Arbeiterinnen zum Funken, der die Revolution auslöste.


Wachsende Kluft zwischen Exekutivkomitee und Basis

Nach dem Zusammenbruch der zaristischen Herrschaft entstand ein Machtvakuum. Auf welche Art es provisorisch gefüllt wurde, ist das Thema der anschließenden Kapitel. Bereits wenige Wochen nach dem Umsturz begann sich eine gewisse Entfremdung zwischen dem Exekutivkomitee des Sowjets und seiner Basis zu zeigen. Mit der Bildung der Koalitionsregierung im Mai wurde diese Kluft zunehmend größer und führte nach einem turbulenten Monat Juni zu jenen Ereignissen, die als Juliaufstand in die Geschichte eingegangen sind. Die dramatische Szene, die sich am 4. Juli im Taurischen Palais, dem Sitz des Sowjets, abspielte, erhellt die tiefere Problematik der Russischen Revolution. Sie ist daher eine Schlüsselstelle des ganzen Buches.

Kurz vor Mitternacht hatten sich mehr als 30.000 Beschäftigte der Putilow-Werke, viele mit Frauen und Kindern, auf den Marsch zum zwölf Kilometer entfernten Taurischen Palais gemacht. Unterwegs schlossen sich ihnen die Belegschaften weiterer Betriebe an. Im Stadtzentrum wurden sie von Junkern und Studenten überfallen. Es kam zu einem Handgemenge, jemand schoß, einem Arbeiter wurde der Kopf eingeschlagen. Hungrig, todmüde, bis auf die Haut durchnäßt von einem Wolkenbruch erreichten sie schließlich das Ziel. Was sich anschließend dort abspielte, bezeichnete Suchanow als eine der schönsten Szenen der Revolution:

Es war gegen 19 Uhr. Ich ging zurück in die Sitzung. Es gab dort nichts Neues. Aber plötzlich wurde pfeilschnell die Nachricht durchgegeben, die Putilow-Arbeiter sind da, 30.000 Mann. Die sind äußerst aggressiv. Ein Teil ist in das Palais eingedrungen. (...) Der Saal wurde laut und unruhig, man hörte hysterische Schreie. In diesem Augenblick stürzte sich eine größere Gruppe von Arbeitern, so etwa 40 Mann, von denen viele Gewehre trugen, ungestüm in den Saal. Die Deputierten sprangen von ihren Plätzen, so mancher zeigte dabei weder Mut noch Selbstbeherrschung. Einer der Arbeiter, ein klassischer Sansculotte mit Arbeitermütze und kurzer blauer Bluse ohne Gürtel, mit einem Gewehr in der Hand, sprang auf die Rednertribüne. Er zitterte vor Aufregung und Wut, fuchtelte mit dem Gewehr und stieß mit heftiger Stimme die Worte aus: "Genossen, wie lange müssen wir Arbeiter den Verrat noch dulden? Ihr seid hier zusammengekommen, beratet euch, schließt Abmachungen mit der Bourgeoisie und den Gutsbesitzern. Ihr seid damit beschäftigt, die Arbeiterklasse zu verraten. Dann wißt auch: Die Arbeiterklasse wird es nicht dulden. Wir sind hier 30.000 Mann. Keiner fehlt. Wir werden unseren Willen durchsetzen. Merkt euch: Es soll keine Bougeoisie mehr geben. Alle Macht den Sowjets! Unsere Gewehre sind fest in unserer Hand. Wir werden auf eure Kerenski und Zereteli nicht hereinfallen!"

Der Vorsitzende, unter dessen Nase das Gewehr herumtanzte, bewies völlige Selbstbeherrschung. Als Antwort auf den hysterischen Anfall des Sansculotten, der seine hungrige Proletarierseele ausschüttete, neigte sich der Vorsitzende ruhig von seinem erhabenen Sitz nach vorne und versuchte, in die bebende Hand des Arbeiters ein Blatt mit einem gestern abend gelungenen Aufruf zu stecken: "Hier Genosse, nehmen Sie das bitte und lesen Sie es. Hier steht, was Sie und Ihre Putilow-Kameraden zu tun haben. Lesen Sie das bitte und stören Sie unsere Arbeit nicht. Hier ist alles gesagt, was zu tun ist." In dem Aufruf stand, daß alle, die auf die Straße getreten seien, nach Hause zurückzukehren hätten, widrigenfalls sie als Verräter an der Revolution betrachtet werden müßten. Die herrschende sowjetische Gruppe hatte nichts anderes zu bieten, (...) was sie den Vertretern des Kerns des Volkes in dem Augenblick höchster Anspannung ihres revolutionären Willens hätte vorschlagen können. Der Sansculotte, der die Fassung verloren hatte und nicht wußte, was er weiter tun sollte, nahm den Aufruf entgegen und wurde dann ohne allzu große Mühe von der Tribüne verdrängt. Bald wurden auch seine Kameraden überzeugt und verließen den Saal. Die Ruhe war wiederhergestellt, der Zwischenfall liquidiert. Aber bis zum heutigen Tage steht dieser Sansculotte auf der Tribüne des Weißen Saales vor meinen Augen, wie er selbstvergessen vor den Gesichtern der feindseligen Führer der Demokratie mit dem Gewehr fuchtelt und qualvoll versucht, den Willen, die Sehnsüchte und den Zorn der unteren echt proletarischen Schichten zum Ausdruck zu bringen, die den Verrat spüren, aber machtlos sind, dagegen anzukämpfen.

So leicht ließen sich rebellische Belegschaften, organisierte Arbeiterkollektive, übertölpeln. Ein unerwarteter Einwand der Gegenseite, ein Vorwurf, eine unbewiesene Behauptung, oft sogar eine dreiste Lüge, und die Entschlossenheit der Arbeiterinnen und Arbeiter löste sich in Luft auf. Ganz so, als wären sie in einem solchen Moment unfähig, den Argumenten der Gegenseite etwas entgegenzusetzen, als würden sie ihr soviel Hinterlist schlicht nicht zutrauen. Oder ist es gar eine unbewußte Unterwürfigkeit, dazu erzogen zu gehorchen, die Befehle anderer auszuführen? Es fällt schwer, eine wirklich stichhaltige Antwort zu finden. Man steht einfach fassungslos da und staunt, wie leicht und schnell dann ein solcher Arbeiteraufstand in sich zusammenfällt.

Die dramatische Episode am Abend des 4. Juli 1917 im Weißen Saal des Taurischen Palastes von Petrograd läßt sich in ihrem Ablauf auch an unzähligen anderen kleineren Beispielen beobachten, so der Referent. Diese Mechanismen wirken um so stärker, wenn es sich beim Gegenüber nicht um den Fabrikbesitzer, den Kapitalisten und Klassenfeind handelt, sondern um die eigenen Organisationen, um Vertreter, die man selbst gewählt und denen man sein Vertrauen geschenkt hat. Alle 30.000 waren mitgekommen, eine Nacht und einen ganzen Tag lang waren sie unterwegs gewesen, hatten alle erdenklichen Widerwärtigkeiten auf sich genommen, bis sie schließlich bei ihren gewählten Vertretern ankamen. Sie wollten ihnen klarmachen, daß sie deren Paktieren mit der Bougeoisie und den Gutsbesitzern nicht länger dulden wollten. Doch dann gingen sie unverrichteter Dinge wieder zurück an ihre Arbeitsplätze. Alles war umsonst gewesen. Schlimmer noch, ihre eigene Machtlosigkeit war ihnen drastisch vor Augen geführt worden. Ein Blatt Papier hatte genügt, um sie abzuwimmeln. Da nützten alle Gewehre, die sie mitgebracht hatten, nichts. Das Blatt Papier in der Hand des Vorsitzenden war in diesem Augenblick, so verrückt es klingen mag, mächtiger als das Gewehr in der Hand des Arbeiters.

Der Versuch der Arbeiterinnen und Arbeiter samt den revolutionären Soldaten und Kronstädter Matrosen, das Exekutivkomitee des Sowjets zu zwingen, die ganze Staatsmacht zu übernehmen, war gründlich mißlungen. Die Folge war eine massive Repressionswelle gegen die Aufständischen sowie gegen die Bolschewiki, denen die Schuld am Aufstandsversuch zugeschrieben wurde. Zum ersten Mal seit Ende Februar füllten sich die Gefängnisse wieder mit politischen Gefangenen. Die Anstrengungen der besitzenden Klassen sowie von Teilen der provisorischen Regierung, die repressive Welle zur Errichtung einer autoritären Herrschaft zu nutzen, mündeten zunächst in die Wiedereinführung der Todesstrafe an der Front und Ende August in die Absicht, eine Militärdiktatur zu errichten. Der Putschversuch, der unter dem Namen Kornilow-Putsch in die Geschichte eingegangen ist, mißlang bekanntlich. Es gelang, den Vormarsch der Truppen zu stoppen, die Gleise wurden aufgerissen, Hunderte von Agitatoren strömten aus und überzeugten die Soldaten, nicht gegen die Revolution vorzugehen. Oft wurden die Kommandanten von den eigenen Truppen gefangengenommen, Ende August 1917 war der Putsch gescheitert. Doch dieser Erfolg konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Arbeitermacht durch zahlreiche Betriebsschließungen und Massenentlassungen zunehmend mit dem Rücken an der Wand stand.


Autor und aufgeschlagenes Buch - Foto: © 2018 by Schattenblick

Rückblick auf eine noch zu schaffende Zukunft
Foto: © 2018 by Schattenblick


Ehemalige Arbeitermilizen schießen auf ArbeiterInnen

Die Putilow-Protokolle zeugen von den Angriffen, derer sich die Fabrikkomitees zu erwehren hatten. Der Verlust des Arbeitsplatzes war zwangsläufig mit dem Versiegen der einzigen Einkommensquelle verbunden, da es angesichts der allgemeinen wirtschaftlichen Zerrüttung nahezu unmöglich war, ein neue Stelle zu finden. Um nicht zu verhungern, blieb nur die Rückkehr ins Dorf, wo die meisten, vor allem die Unqualifizierten, erst vor wenigen Jahren hergekommen waren. Der Mangel an Heizmaterial war ein Hauptgrund für die ungenügende Auslastung der Werke. Ende September kam es zu einem Treffen der Betriebsleitung und verschiedener Delegierter mit dem stellvertretenden Wirtschaftsminister, bei dem es angesichts der Bedrohung Petrograds durch die deutschen Truppen um eine Demontage und Evakuierung der Petrograder Industrie ging. Wie es dabei hieß, sei nur ein Teil des benötigten Heizmaterials zu beschaffen, weshalb die Zahl der Arbeiter proportional verringert werden müsse. Es seien 5000 Beschäftigte von Entlassung betroffen. Der Erklärung der Kommission, die Lieferung des benötigten Heizmaterials sei an der Bezahlung gescheitert, schenkten die Arbeiter keinen Glauben. Denn in derselben Sitzung hieß es an anderer Stelle, daß immer noch keine Zahlen für 2016 vorlägen. Wurde das größte Werk des Landes so nachlässig geführt oder war das nur ein Vorwand, die Daten vorzuenthalten? Unter diesen Umständen lag der Verdacht nahe, daß die angedrohten Massenentlassungen in erster Linie ein Druckmittel waren, um mit Zustimmung des Fabrikkomitees Kosteneinsparungen zu realisieren.

Anfänglich wiesen die Vertreter des Fabrikkomitees das Ansinnen der Werksleitung, den massiven Personalabbau durch eigene Vorschläge zu unterstützen, entrüstet zurück, weil Arbeiter nicht Arbeiter entlassen könnten. Doch dann wurde ihnen anscheinend mit einem Deal eine Brücke gebaut. Erklärten sie sich einverstanden, 5000 Arbeiter zu entlassen, werde das Ministerium etwas für die Entlassenen tun. Damit war offenbar innerhalb der gemischten Kommission das Eis gebrochen, denn es folgte der Vorschlag, die Entlassungen portionsweise vorzunehmen. Es sei aufschlußreich, daß bereits vor hundert Jahren die Methoden, die bei Massenentlassungen zur Anwendung gelangen, den heutigen derart ähnelten, so der Referent. Lassen sich die gewählten Vertreter die Logik der Werksleitung aufzwingen, sitzen sie in der Klemme.

Um den Verlauf der Revolution im Herbst 1917 zu verstehen, ist es unerläßlich, sich die von Monat zu Monat schwierigere wirtschaftliche Lage der Arbeiterschaft vor Augen zu führen. Vor dem Hintergrund drohender Betriebsschließungen und Massenentlassungen boten im Laufe des Oktobers die Umsturzpläne der bolschewistischen Führung die Chance zu einer Flucht nach vorn. Die Vorbereitungen des bewaffneten Aufstands werden in dem Buch ebenso nachgezeichnet wie der Ablauf der Oktoberrevolution und die nachfolgenden Ereignisse.

Daß unter einer vermeintlichen Arbeiterregierung auf Arbeiterinnen und Arbeiter geschossen wurde, sei ein untrügliches Zeichen dafür, daß etwas gründlich aus dem Ruder gelaufen war, konstatierte Thomann. Am Morgen des 9. Mai 1918 standen in Kolpino, einer Kleinstadt an der südöstlichen Peripherie von Petrograd, die Frauen, die in der örtlichen Bäckerei einkaufen wollten, vor leeren Regalen. Einige von ihnen begaben sich daraufhin zum lokalen Sowjet und verlangten, daß die Stadtsirenen ertönen sollten, vermutlich in der Absicht, die Bevölkerung auf diese Weise zu mobilisieren. Der Sowjetvertreter verweigerte das, worauf eine Frau ihre Handtasche nach ihm warf und eine Jugendliche die Sirene selbst anschaltete. Der Kommissar zog seinen Revolver und schoß. Anschließend begannen auch anwesende Soldaten zu schießen und verwundeten einige Frauen und Umstehende. Am Abend versammelten sich Arbeiter des wichtigsten Betriebes der Stadt in ihrer Fabrik und besprachen, wie sie auf diesen Angriff reagieren sollten. Unterdessen bezogen auf einem gegenüberliegenden Hof Truppen der Roten Garden und der Roten Armee Stellung. In einer Resolution rügten die Arbeiter das Verhalten des Sowjets und verlangten seine sofortige Neuwahl. Im weiteren protestierten sie gegen die Aufstellung von Angehörigen der Roten Garden und der Roten Armee vor ihrem Betrieb und forderten ihre Entwaffnung. Als die Arbeiter das Werk verließen, wurden sie beschossen, mehrere erlitten Verletzungen, und ein Funktionär der örtlichen Elektrikergewerkschaft wurde getötet.

Die Ereignisse in Kolpino erinnern daran, daß die Petersburger Textilarbeiterinnen gut ein Jahr zuvor hauptsächlich mit der Forderung "Wir wollen Brot!" auf die Straße gegangen waren. Inzwischen war die Revolution offenbar bereits soweit degeneriert, daß ein lokaler Sowjetvertreter und Soldaten der Roten Armee nicht zögerten, ihre Waffen gegen protestierende Frauen einzusetzen. Angehörige jener Roten Garden, die im Spätsommer 1917 aus Arbeitermilizen zum Schutz der Revolution gebildet worden waren, eröffneten nun das Feuer auf die Arbeiter, die wegen dieses Zwischenfalls in ihrer Fabrik eine Versammlung abgehalten hatten. Ehemalige Arbeitermilizen schießen auf unbewaffnete Arbeiter. Diese alarmierenden Vorfälle rund ein halbes Jahr nach dem Oktoberumsturz werfen einmal mehr zwingend die Frage auf: Wie war das möglich?


Stille Gegenrevolution der bolschewistischen Regierung?

Das letzte Kapitel des Buches versucht, der Beantwortung dieser Frage einen Schritt näher zu kommen, wobei zunächst das Verhältnis zwischen den Massenbewegungen und der bolschewistischen Partei, die im Laufe des Jahres 1917 eine Art Koalition eingegangen waren, unter die Lupe genommen wird. Die Ereignisse, die zum Friedensvertrag von Brest-Litowsk führten, gehen zwar weit über das Thema des Buches hinaus, doch waren ihre Folgen derart schwerwiegend für die Russische Revolution, daß sie ausführlich geschildert werden müssen. Der Angriff auf die betriebliche Arbeitermacht im Frühling 1918 ist ein weiterer Schwerpunkt des letzten Kapitels. Der Generalstreik in Petrograd am 2. Juni 1918 war ein Versuch, die bolschewistische Regierung unter Druck zu setzen. Er endete in einem Debakel, da nur wenige Betriebe dem Streikaufruf folgten. Damit hatte sich Anfang Juni 1918 die Hoffnung zerschlagen, mit der klassischen Waffe der Arbeiterschaft der Entwicklung zu einem autoritären Staat Einhalt zu gebieten. Die Ereignisse im Sommer 1918 machten außerdem klar, daß die Arbeitermacht in Rußland ihre Stärke als autonome gesellschaftliche Kraft eingebüßt hatte.

Hält man sich die Ereignisse nach den gescheiterten Friedensbemühungen der Sowjetregierung und dem deutschen Diktatfrieden vor Augen, drängt sich dafür der Begriff einer stillen Gegenrevolution auf. Mit der Abschaffung der Wahl der Offiziere durch die Soldaten und der massenhaften Rückkehr zaristischer Offiziere und Generäle in die neue Rote Armee wurden wesentliche Errungenschaften der Revolution ebenso rückgängig gemacht wie mit der Abschaffung der Arbeiterselbstverwaltung in den Betrieben. Ein weiterer Meilenstein beim Niedergang der revolutionären Entwicklung war die Wiedereinführung der Todesstrafe im Mai 1918. Die Verhaftung sämtlicher Abgeordneten der linken Sozialrevolutionäre anläßlich des 5. Sowjetkongresses im Juli 1918 kann als vorläufiger Abschluß dieser Gegenrevolution von 1918 identifiziert werden.

Thomann ist sich bewußt, daß die These einer von Trotzki und Lenin angeführten Gegenrevolution im Jahre 1918 am Lack der Revolution kratzt und für viele allzu ketzerisch sein dürfte, um unvoreingenommen geprüft zu werden. Manche glorifizierten die Oktoberrevolution und die Jahre danach auch heute noch so, als hätte es in hundert Jahren keine neuen Erkenntnisse mehr gegeben. Andere gäben sich kritischer, rechtfertigen aber gleichzeitig die Politik der Bolschewiki mit der Behauptung, diese hätten keine andere Wahl gehabt, als so zu handeln. Seine Hoffnung liege darum vor allem bei der jüngeren Generation, die sich nicht scheut, auf der Suche nach der Wahrheit auch die eigene Geschichte kritisch zu durchleuchten, und zugleich die Kraft aufbringt, der sich ausbreitenden Barbarei der bürgerlichen Gesellschaft wirksamen Widerstand entgegenzusetzen. Beide Aufgaben seien unlösbar miteinander verknüpft. Dazu einen bescheidenen Beitrag zu leisten sei der eigentliche Zweck dieses Buches.

(wird fortgesetzt)


Veranstaltungsankündigung an der Saaltür - Foto: © 2018 by Schattenblick

Foto: © 2018 by Schattenblick


Fußnote:

[1] Johannes Agnoli: Die Subversive Theorie. "Die Sache selbst" und ihre Geschichte, Stuttgart 2014, S. 12

[2] Rainer Thomann, Anita Friedetzky: Aufstieg und Fall der Arbeitermacht in Russland. Die Buchmacherei, Berlin 2017, 682 S., 24 Euro, ISBN 978-3-00-057043-8

17. April 2018


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang