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BERICHT/320: Digitale Vernetzung - induzierte Verantwortung ... (SB)


Unverkennbar zieht sich ein roter Faden kontrafaktischen Wunschdenkens durch diese überzogenen Visionen. Von Beginn an wurzelten damit verbundene Übertreibungen und Illusionen auf unpassenden Metaphern wie etwa "Elektronengehirn", "künstliche Intelligenz", "Expertensysteme" oder "maschinelles Lernen". Mit ihren Analogiebildung zu spezifisch menschlichen Fähigkeiten werden gerade die fundamentalen Unterschiede zwischen zweckgemäß hergestellten Maschinen und lebenden, autonom handelnden und zu sprachlicher Interaktion fähigen Menschen verschleiert, zudem Selbsttäuschungen über die wahre Natur von Computersystemen wie auch sozialer Interaktion hervorgerufen. Das Verhalten von Computern ist, wie die theoretische Informatik lehrt, strikt gebunden an die Ausführung berechenbarer Funktionen mittels Algorithmen; es ähnelt daher weder der Arbeitsweise eines Gehirns als Teil eines komplexen und empfindsamen lebendigen Körpers noch ist es in irgendeinem bedeutungsvollen Sinn "wissend" oder "intelligent".
Peter Brödner: Die dritte Welle der automatischen Fabrik - Mythos und Realität semiotischer Maschinen[1]


Daten seien das neue Öl der Industriegesellschaft, lautet eine häufig zu vernehmende These, mit der die Arbeitsgesellschaft auf die Digitalisierung der Arbeit und des Lebens vorbereitet wird. Der Vergleich hinkt nicht nur, weil der fossile Brennstoff im Unterschied zu maschinell erzeugten Zeichen dem endlichen Verbrauch unterworfen ist. Er suggeriert auch industrielle Wachstumschancen, die in der seit 2008 manifesten Krise des Kapitalismus durch abnehmende Arbeitsproduktivität und fortdauernde Überproduktion widerlegt werden. Schließlich geht aus dieser Gleichsetzung eine Wertschätzung der fossilistischen, mithin ökologisch unvertretbaren Energieerzeugung hervor, die verrät, daß eine Abkehr vom kapitalistischen Prinzip der expansiven Wertproduktion um fast jeden Preis, und sei es der einer Verwüstung respektive Überflutung großer Teile der agrarisch bewirtschafteten und menschlich besiedelten Welt, keine Rede sein kann.

Die unterstellte Zwangsläufigkeit dieser Entwicklung hängt in Form drohender technologischer Arbeitslosigkeit wie ein Fallbeil über Millionen Menschen, die in industriellen und administrativen Sektoren mit hohem Rationalisierungspotential Lohnarbeit verrichten. Der dadurch erzeugte Druck läßt vergessen, daß die Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft tiefer sitzt, als ihre vermeintlich mögliche Überwindung durch Industrie 4.0, das Internet der Dinge und die permanente Erfassung und Evaluierung der Marktsubjekte mittels informationstechnischer Systeme glauben macht. Selbst ohne drohenden Klimawandel, den mit Green Economy und Effizienzsteigerung zu verhindern sich längst als fromme Hoffnung erwiesen hat, wäre der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit konstitutiv für das Problem der Lohnabhängigenklasse, soziales Wohlbefinden für alle Menschen nicht nur in den privilegierten Metropolengesellschaften des Westens, sondern weltweit zu erlangen.

Auch das Beschwören des internationalen Freihandels auf der diesjährigen Hannover-Messe, die ganz im Zeichen der Digitalisierung stand, belegt, wie wenig die technische Seite der industriellen Entwicklung für die sozialen Folgen der Umwälzung der Produktivkräfte verantwortlich ist. In seinen gesellschaftlichen Auswirkungen ist der Begriff der Innovation stets mit Angriffen auf den hart erkämpften Besitzstand der Lohnabhängigenklasse an sozialen und arbeitsrechtlichen Garantien gleichzusetzen. Mit der Betonung des disruptiven Charakters der Geschäftsstrategien im Digitalen Kapitalismus und der hohen Geschwindigkeit, mit der die Plattformen monopolistischer Akteure die Normen vorherrschender Verwertungsbedingungen setzen, hat der bedrohliche Charakter innovativer Entwicklungen für erwerbsabhängige Menschen noch einmal zugenommen.

Vor diesem Hintergrund nach der Stichhaltigkeit des "revolutionären" Charakters dieser Entwicklung und der ihr immanenten Sachzwanglogik zu fragen steht nicht im Interesse der davon begünstigten Unternehmen und Institutionen. Um so wertvoller ist daher der von der Marx-Engels-Stiftung auf einer Konferenz in Essen Anfang März unternommene Versuch, die Frage auszuloten, ob Industrie 4.0 eher als Hype oder als Drohkulisse zu verstehen sei. Zur Beantwortung dieser Frage trug Prof. Dr.-Ing. Peter Brödner, der die industrielle Anwendung informationstechnischer Systeme, unter anderem als Forschungsdirektor am Institut Arbeit und Technik in Gelsenkirchen, seit Jahrzehnten wissenschaftlich begleitet, mit erhellenden Einblicken in die begrifflichen Schwierigkeiten, sich dem Thema auf sachgerechte Weise zu nähern, erheblich bei.


Im Vortrag - Foto: © 2018 by Schattenblick

Peter Brödner
Foto: © 2018 by Schattenblick


"Industrie 4.0 und Big Data - Kritik einer technikzentrierten Perspektive"

Wie ein roter Faden zog sich die Kritik einer die technische Seite des industriellen Entwicklungspfades einseitig hervorhebenden Beschreibung durch den Vortrag Brödners. Die inflationäre Verwendung des Begriffes "industrielle Revolution" für die Segmentierung des handwerklichen Gesamtprozesses in kleine, einfach wiederholbare Verrichtungen und deren Systematisierung in den ersten Arbeitsmaschinen verortete der Referent in einem begriffs- und geschichtslosen Bewußtsein. Indem die organisatorischen, institutionellen und qualifikatorischen Bedingungen und Voraussetzungen für einen komplexen gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß ignoriert wurden, geriet auch das maßgebliche Motiv der betrieblichen Rationalisierung, die effizientere Kapitalverwertung, aus dem Blick.

So würden der Digitalisierung wie einer Art unabwendbarer Naturgewalt alle möglichen Folgen angelastet, die jedoch meist nicht Ergebnis sich vermeintlich eigenständig entwickelnder Technik seien, sondern der politischen Regulierung der Produktionsverhältnisse. Dabei würden Eigenschaften von Maschinen klassischer Art wie Werkzeug-, Arbeits- und Kraftmaschinen auf Berechnungsmaschinen, also Computer, häufig blind übertragen. Diese agieren nicht mit Natureffekten, sondern mit Zeichen, und können Arbeit organisieren, aber nicht aus sich heraus produktiver machen. Zwar könne man mit einer anderen Organisationsform wie etwa teilautonomer Gruppenarbeit enorme Produktivitätsschübe generieren, diese stammten dann aber nicht aus der eigentlichen Datenverarbeitung. Für das Anwachsen von Qualifikation und Beschäftigung seien die organisatorische Einbettung der Computerfunktionen sowie die institutionellen Bedingungen ihres Einsatzes in den einzelnen Unternehmen und auf digitalen Plattformen weit wichtiger als die Rechenleistung selbst.

Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden mit den ersten selbsttätigen Textil- und Werkzeugmaschinen digitale Formen der Verarbeitung eingeführt, so in einem Webstuhl, bei dem Lochkarten das Anheben der Fäden steuerten, um Muster zu erzeugen. Mit der zunehmenden Segmentierung der wichtigsten Maschinenfunktionen als auch der Verteilung der per Dampfmaschine gewonnenen Bewegungsenergie mittels Transmissionsriemen durch die ganz Fabrikhalle wuchs die Notwendigkeit der vertikalen Arbeitsteilung auf der Ebene der Produktion wie der administrativen Planung und Koordination des Gesamtprozesses. Mit dem von Fredrick Winslow Taylor zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten Scientific Management der Fabrik wurden Planung und Überwachung des Arbeitsprozesses weiter in die Autonomie der Lohnabhängigen getrieben, um ihre Arbeitskraft möglichst kosteneffizient ausbeuten zu können.

Mit der Verdopplung der Produktion in Form von Zeichen, also Beschreibungen, Zeichnungen, Stücklisten, Arbeitsplänen, Prüfplänen usw., sammelten sich ungeheure Mengen expliziten Wissens über Produktionsprozesse an. Dieses Wissen sei totes Wissen, solange es nicht durch die ProduzentInnen angeeignet und für das praktische Geschehen wirksam gemacht werde, so Brödner. Dieses komplexe, in alle möglichen Disziplinen verzweigte Wissen müsse zusammengeführt werden, um reale Probleme zu lösen, was die intensive Kooperation zwischen Wissens- und FacharbeiterInnen erfordere. Dazu bedürfe es eines individuell situierten Arbeitsvermögens, was man nicht ohne weiteres einkaufen könne. Ohne die Selbstertüchtigung der ProduzentInnen, die sich als Teil des unmittelbaren Geschehens begreifen, auf das sie auch Einfluß nehmen können, sei es nicht nutzbar.

Erst die Standardisierung, Modellierung und Formalisierung der unterschiedlichsten Zeichenprozesse in dieser verdoppelten Produktion habe die algorithmische Verarbeitung von Daten möglich gemacht. So habe man es seit Beginn der Industrialisierung mit einer zweigleisigen Entwicklung zu tun, der Mechanisierung der Handarbeit durch die zweckmäßige Nutzung von Naturkräften zwecks Stoff- und Energieumwandlung wie der Maschinisierung von Wissensarbeit durch die algorithmisch gesteuerte Verarbeitung digitaler Signale in Zeichenprozessen sozialer Praxis. Peter Brödner hält mithin den Begriff der "algorithmischen Revolution" für adäquater als den der Digitalisierung.


Peter Brödner vor Projektionswand - Foto: © 2018 by Schattenblick

Technologiekritik aus dem Innenraum der Maschine
Foto: © 2018 by Schattenblick

Mit anwachsender Kapitalakkumulation und Verwissenschaftlichung der Produktion verlagerte sich der Wettbewerb zusehends von der Kostenkalkulation zur Innovation. Die an die Lohnabhängigen gestellten Anforderungen nahmen dementsprechend zu. War die Herrschaftsicherung anfangs wie im Taylorismus durch Planung, Koordination, Anweisung und Kontrolle organisiert, könne die mit der Dynamik innovativer Veränderungen anwachsende Ungewißheit im Arbeitsprozeß nicht mehr bis ins Detail vorgeplant werden. Um die Menschen bei fortdauernder Unterwerfung unter den Kapitalverwertungsprozeß besser einbinden zu können, setzte man auf die indirekte Steuerung durch Marktzwänge. Während ihnen mehr Freiheiten zugestanden werden, muß das Arbeitssoll erfüllt werden, was unter anderem mit Konzepten der Teamarbeit, der flachen Hierarchien, der Flexibilisierung der Arbeitszeiten wie weitreichenden Erreichbarkeit der Lohnabhängigen auch in der Freizeit erreicht werden soll.

Um sich vom Eigensinn der lebendigen Arbeit unabhängiger zu machen wird versucht, den Produktionsprozeß wenigstens teilweise mit Hilfe Künstlicher Intelligenz (KI) zu automatisieren. Die Smart Factory soll die verschiedenen Logistik- und Produktionselemente so miteinander verschränken, daß sie in dezentraler Selbstorganisation praktisch selbsttätig optimale Arbeitsergebnisse hervorbringt. In Unternehmen, die bereits in den 1980er Jahren in der Folge und als Gegenkonzept zu Computer-integrated manufacturing-Innovationen (CIM) hochkomplex und -effizient organisiert wurden, ohne dabei allein auf rechnergestützte Prozesse zu setzen, sollen nun mit maschinellen Mitteln wie KI flexible und dynamische Anpassungsprozesse auch an unvorhergesehene Anforderungen geleistet werden. Die Realisierung der Möglichkeit, daß sich hochgradig integrierte und vernetzte Maschinen, Werkstücke, Lagersysteme und Betriebsmittel in Echtzeit selbst organisieren und dabei Lerneffekte erzielen können, um auf individuelle Kundenwünsche einzugehen, rentabel zu produzieren und Störungen und Ausfälle zu beheben, ist heute der exponentiell entwickelten Leistung der Taktfrequenzen, Speicherkapazitäten und Bandbreiten geschuldet.

Bei den sich dieser infrastrukturellen Voraussetzungen bedienenden Cyber-Physical Systems (CPS) handelt es sich um horizontal wie vertikal hochgradig vernetzte Prozesse digitaler Steuerung, die etwa das Internet der Dinge und Dienste organisieren sollen. Multi-Agenten-Systeme (MAS) sollen sogar autonom agieren. Ihre Kernfähigkeit beruht darauf, selbsttätig mit anderen Systemen wie auch als Schnittstelle zu Menschen kommunizieren und sich untereinander zu größeren Systemen vernetzen zu können, um über die Fabrik hinaus weltweit ganze Wertschöpfungsketten miteinander in Kontakt zu bringen. Dabei fallen permanent viele Daten an, so daß MAS ihrerseits als Produzenten von Big Data, des vermeintlichen Öls der Informationsgesellschaft, fungieren.

Für Brödner tun diese angeblich lernfähigen intelligenten Systeme nichts anderes als jeder simple Computer, sie führen berechenbare Funktionen aus. Dazu müssen sie durch Programme gesteuert werden, die auch logische Prozeduren enthalten können, welche es erlauben, bedingte Befehle zu formulieren, sogenannte Lernverfahren zu implementieren und bestimmtes explizites Wissen über die Welt dieser Systeme praktisch zugänglich abzulegen, um daraus wieder auswählen zu können.

Hinter der Analogie Mensch-Maschine stecken für Brödner Ideen aus den 1960er Jahren wie der längst widerlegte sogenannte Funktionalismus, laut dem die lebendige Intelligenz des Menschen nichts anderes als berechenbare Funktion sei. Multiagentensysteme führen derartige Funktionen aus, die ihnen durch Algorithmen vorgeschrieben werden. Brödner bestreitet mithin, daß eine Gleichsetzung der maschinellen Welt der Daten mit der sozialen Welt menschlicher Bedeutungen, Absichten und Reflexionen zutreffend sei. Selbsttätiges, adaptives maschinelles Verhalten unterscheide sich grundlegend von autonomem, zu begrifflicher Reflexion fähigem Handeln in sozialer Praxis. Zwar seien die MAS in ihrem von den Umwelteinflüssen der Vernetzung und von Sensoren bestimmten Verhalten deterministisch, dennoch können die von ihnen getroffenen Entscheidungen analytisch nicht nachvollziehbar und nicht vorhersehbar sein. Diese Intransparenz werfe die ethische Frage auf, wer für dabei eventuell verursachte Schäden verantwortlich und haftbar zu machen sei.

So bestehe ein großes Problem der Mensch-Maschine-Interaktion darin, wie ein Mensch mit einem System sinnvoll interagieren solle, wenn es sich jedes Mal anders verhält. Die Grundanforderung an das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine sei Erwartungskonformität, also die Berechenbarkeit, daß das System auch tut, was von ihm erwartet wird.

Auch im Falle der Künstlichen Neuronalen Netze (KNN) gelangte der Referent zu dem Schluß, daß die in dem Begriff enthaltene Gleichsetzung mit menschlichen Gehirnfunktionen in die Irre führe. So sei das Gehirn von chemischen Prozessen abhängig, arbeite also analog und nicht digital. Während KNN bei sogenannten Objektklassifikationsaufgaben wie dem Erkennen von Schriftzügen, Bildern oder Straßenschildern sehr leistungsfähig seien, unterlägen ihre anhand von Millionen Beispielen strukturierten Fähigkeiten auch einer hohen Störanfälligkeit, wie zum Beispiel Experimente mit Gesichtserkennung zeigten. Letztlich hänge die Leistung solcher KNN davon ab, wie geschickt die Programmierer diese Strukturierung vorgenommen, wie sie die Mathematik der Gewichtungsveränderungen betrieben und welche Erfahrungen sie mit dieser oder jener Struktur gemacht hätten. Insofern seien nicht KNN, sondern ihre Entwickler intelligent.

Auch die in große Datenmengen gesetzte Hoffnung, deren Auswertung könne theoriegeleitete Forschung ablösen, weil auf Korrelationen beruhende Vorhersagen hypothesenbasierten Prognosen überlegen seien, beruhe auf einem Trugschluß. Wenn zwei Ereignisse zusammen auftreten, könne man niemals wissen, ob das eine die Ursache des anderen oder umgekehrt sei, ob beide nur zufällig zusammen auftreten oder von einem dritten unbekannten Faktor abhängig seien. Die Verwendung von Big Data kranke insgesamt daran, daß kontextfreie Daten mit bedeutungsvoller Information gleichgesetzt werden, obwohl letztere überhaupt nur als Resultat von Interpretationen im Kontext sozialer Praxis entstünden. Daten seien zudem meist nicht repräsentativ, häufig fehlerhaft oder inkonsistent. Es seien auf die syntaktische Form reduzierte Zeichen, die geradezu kontextfrei und bedeutungslos sein müßten, sonst könnte man sie nicht in einem Rechner zum Gegenstand einer berechenbaren Funktion machen. So kompliziert sie auch errechnet sein mögen, so müßten sie dennoch interpretiert werden.

Darin liege auch die Gefahr, daß mit Hilfe einer scheinbar objektiven Faktizität eine Wirklichkeit, die es vorher nicht gab, hergestellt und zur Norm erhoben werde. Wenn miteinander verknüpfte Daten auf einen Gegenstand oder eine Person bezogen und durch Algorithmen in einen partiell rekonstruierten Kontext gestellt werden, suggeriere das einen Wahrheitsgehalt, der auf noch so vielen Indizien beruhen kann, ohne daß nicht immer auch eine andere Interpretation möglich sei. Dementsprechend sei die Entstehung eines digitalen Totalitarismus nach dem Benthamschen und Foucaultschen Modell "Panoptikum" eine durchaus ernstzunehmende Gefahr. Es bleibe dann ein Geheimnis der Macht, welche Daten in welcher Hinsicht erhoben, gesammelt und zu Lasten bestimmter Personen ausgewertet werden.

Wie bereits bei der um CIM und KI ausgebrochenen Euphorie der 1980er Jahre werde die Innovationsdebatte heute wieder von einer technikzentrierten Sicht unter Ausblendung spezifisch menschlicher Fragen beherrscht. Im Kern gehe es um Forderungen der Flexibilisierung und Produktivitätssteigerung, denen mit technischen Mitteln entsprochen werden soll, anstatt ihre sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen zu bearbeiten. Damals habe der Versuch, im Vertrauen auf angeblich lernfähige Systeme Organisationsprobleme mit Technik zu überwinden, Ängste vor Arbeitsplatzverlusten ausgelöst. Diese seien nicht eingetreten. Crowdworking Plattformen seien kein Ergebnis der Digitalisierung, sondern entstanden, weil die Arbeit bereits zuvor prekarisiert wurde. Die Menschen seien so arm, daß sie ihr Leben nur noch fristen können, wenn sie ihr Privatauto, das sie brauchen, um zum Hauptjob zu kommen, nach Feierabend bei Uber für Taxifahrten einsetzen. Hinter diesem Geschäftsmodell stecke algorithmisch nichts Neues, seine Entstehung resultiere aus einer gesellschaftlichen Veränderung und nicht einer technischen Neuerung.

Mit einem Ausblick auf die verheißungsvolle, besonders intensiv beworbene Zukunft der Artificial Intelligence (AI) beschloß Peter Brödner seinen Vortrag auf der MES-Konferenz. AI stehe im Mittelpunkt der technikzentrierten Perspektive Industrie 4.0, gehe man doch davon aus, daß Smart Machines und autonome Agenten absichtsvoll handeln und planen könnten. Praktisch führe dies zu Verlusten an menschlicher Handlungskompetenz, weil das von Maschinen ersetzte Arbeitsvermögen nicht mehr abgerufen werde. Der Anpassungsfähigkeit von Multi-Agenten-Systemen an Umweltfaktoren seien Grenzen gesetzt, die sich mit menschlicher Intelligenz durchaus überwinden lassen.

Im Grunde genommen handle es sich um adaptive Systeme, die schon in der Informatik der 1980er Jahre erforscht wurden und jetzt als lernfähig und intelligent propagiert würden. Sie seien alles andere als Allzweckwaffen, sondern stets nur für spezielle Aufgaben geeignet. Störungen in ihrem Ablauf auf den Grund zu gehen könne große Probleme bereiten, zudem lieferten sie stets nur wahrscheinliche, aber keine gesicherten Ergebnisse. Intelligent seien ihre Entwickler, auf deren fachliche Kompetenz erfolgreiche adaptive Systeme nach wie vor angewiesen seien.

Daher propagiert Brödner als Gegenmodell zur AI Intelligence Amplification (IA), also die Stärkung natürlicher Intelligenz und lebendiger Arbeit durch IT-Systeme. Menschliches Tun solle nicht ersetzt, sondern unterstützt, das Arbeitsvermögen entwickelt werden, indem die Arbeitsausgaben angemessen gestaltet, sinnvolle Organisationsformen etabliert und zweckmäßige Arbeitsmittel geschaffen werden. In der Geschichte des Computereinsatzes in Produktion und Dienstleistungen seien weit über 90 Prozent aller Anwendungen dieser Perspektive gefolgt oder eben gescheitert, so Brödner, der als Ingenieurswissenschaftler im Bereich werkstattorientierter Programmierverfahren in führender Position tätig war. Wohlstand, Qualifikation und Beschäftigungsniveau seien weit mehr von den herrschenden institutionellen Bedingungen und der soziotechnischen Gestaltung der Einsatzfelder abhängig als von der eigentlichen Computertechnik.


Fußnoten:

[1] Die dritte Welle der automatischen Fabrik - Mythos und Realität semiotischer Maschinen in: Banse, G.; Busch, U. & Thomas, M. (Hg.): Digitalisierung und Transformation. Industrie 4.0 und digitalisierte Gesellschaft, Abhandlungen der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften Band 49, Berlin: trafo Wissenschaftsverlag 2017, 165-184
https://www.wineme.uni-siegen.de/wp-content/uploads/2018/02/DritteWelleAutomatischeFabrik-LS.pdf


15. Mai 2018


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