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BERICHT/340: Manifest für Gegenkultur - Klassengesellschaft an Bord ... (SB)


Letzten Montag sollte in Hamburg Henzes "Floß der Medusa", ein vom NDR in Auftrag gegebenes "Oratorio volgare e militare, in due parti", uraufgeführt werden - statt dessen kam es zur Revolution im Saal.
Der Spiegel vom 16.12.1968 [1]


Die ganztägige Konferenz des Magazins Melodie & Rhythmus über Gegenkultur am 8. Juni im Berliner Heimathafen Neukölln fand in der abendlichen Gala mit namhaften Künstlerinnen und Künstlern ihren abschließenden Höhepunkt. Bei der diesjährigen Rosa-Luxemburg-Konferenz der Tageszeitung junge Welt im Januar war die Sängerin und Schauspielerin Gina Pietsch mit Stücken von Bertolt Brecht, Hanns Eisler, Kurt Weill und Gerhard Gundermann präsent. Zum Bedauern des Publikums trug sie nun keine eigenen Lieder vor, entschädigte aber die Zuhörerschaft mit einer ebenso kompetenten wie zugewandten Moderation, die auf einfühlsame Weise durch das dichte Programm des Abends führte. Dank ihres langjährigen künstlerischen Wirkens wie auch eines unablässigen politischen Engagements stellte sie mit leichter Hand gleichsam aus dem Inneren eines linken Kulturschaffens heraus die Akteure vor und wob den verbindenden roten Faden.

Sie schlug eingangs einen weiten Bogen der Gegenkultur von Jesus über Marx und Engels bis zu Brecht, kam auf die Bedeutung Charles Fouriers zu sprechen und hob insbesondere die herausragende Rolle der Frauen auch in diesem Zusammenhang hervor. Entwürfe von Gemeinschaften, wie es sie zu verschiedenen Zeiten und an unterschiedlichen Orten immer wieder gegeben habe, gelte es zu bewahren und hochzuhalten, gegen die Unterdrückung durch Markt und Medien zu verteidigen. Solche Ideen würden durch Worte zum Ausdruck gebracht, doch ebenso durch Klänge erlebbar gemacht, wie dies in den folgenden Darbietungen auf mannigfaltige Weise präsentiert werde.


Auf der Bühne - Foto: © 2019 by Schattenblick

Diego Castro, Kpt. Plasto, Max Power und Yves Fontanille sind Black Heino
Foto: © 2019 by Schattenblick

Black Heino - Jetzt mal mit der Faust aufs Auge

Dann wurde es laut. Denn die Garagenrockband Black Heino heizte dem Publikum nach dem Motto "Jetzt mal mit der Faust aufs Auge" mit ihrem aggressiv-satten Sound zum Auftakt kräftig ein. Die vier Musiker aus Hamburg gehören zum Bissigsten, was deutschsprachige Rockmusik gegenwärtig zu bieten hat, nehmen sie doch alles aufs Korn, was die absurden Zeiten des ökonomischen und ethischen Verfalls durchs Dorf treiben. Geleckte Hochglanzproduktionen sind nicht ihr Ding, sie kommen ruppig daher, und ihre politische Sozialkritik geht nicht belehrend, sondern boshaft entlarvend zu Werke, so etwa in ihrem Song über "Heldentum und Idiotie" auf dem Arbeitsamt. Begeben sich andere Bands mitunter künstlerisch dahin, wo es schmerzt, leben Black Heino gewissermaßen mittendrin und verpassen kaltherziger Verkommenheit und neoliberaler Menschenverachtung herzhafte Tritte. Wenn man so will, betätigen sie sich als Diskursverwalter der deutschen Abstiegsgesellschaft.


Auf der Bühne - Fotos: © 2019 by Schattenblick Auf der Bühne - Fotos: © 2019 by Schattenblick

Shekib Mosadeq und Tereschkowa Obaid - Gesang und Rezitation Fotos: © 2019 by Schattenblick

Shekib Mosadeq - Balladen von Krieg und Flucht, Mut und Solidarität

Die Balladen und Lieder des Sängers und Songwriters Shekib Mosadeq gehen unter die Haut. Sie handeln von Krieg und Terror, Trauer und Zorn, aber auch Liebe und Hoffnung. Er singt auf Farsi über seine Jugend in Afghanistan und die verheerenden Verhältnisse in diesem Land, das er 2010 mit seiner Familie verlassen mußte. In 17 Alben, die er inzwischen produziert hat, setzt er sich kritisch mit der Politik in seiner Heimat auseinander, 2017 brachte er eines bei Konstantin Weckers Label "Sturm und Klang" heraus. Da er eine neue moderne Musik machte, aber Herkunft und Traditionelles nicht verleugnete, entwickelte er sich zu einem der jüngsten und beliebtesten Künstler Afghanistans. Auch in Deutschland veranstaltete er Konzerte und nahm an Aktionen und Demonstrationen gegen Krieg und Ungerechtigkeiten teil, so daß er auch hierzulande innerhalb der farsisprechenden Community weithin bekannt ist. Seine Poeme thematisieren Gewalt und Flucht, Trennung und Schmerz, wie auch Leidenschaft und Liebe unter schwersten Bedingungen, die vielfältigen Kulturen und die Gefühle und Hoffnungen der Menschen in Afghanistan. Sie rufen auf zur Solidarität zwischen den Menschen und geben Mut für einen Kampf gegen Unrecht, Krieg und Unterdrückung. In die Musik wurde die deutsche Übersetzung künstlerisch eingebunden und von Tereschkowa Obaid aus dem afghanischen Kulturzentrum Neukölln rezitiert. [2]


Auf der Bühne mit Buch - Foto: © 2019 by Schattenblick

Erich Hackl - Bühne frei für das gesprochene Wort
Foto: © 2019 by Schattenblick

Erich Hackl - Erinnerung an einen Wiener Spanienkämpfer

Der österreichische Schriftsteller und literarische Übersetzer Erich Hackl las aus seinem Buch "Im Leben mehr Glück" [3], das in Texten aus den letzten 25 Jahren Würdigungen von Menschen versammelt, die ihm wichtig sind. Er berichtet, wer sie waren und wofür sie einstanden, geht auf die Bedeutung von Freundschaft, Widerstand und Heimat ein. Einer Vergangenheitsbewältigung, die stets von der "dunklen Seite unserer Geschichte" spricht, stellt er Walter Benjamins Forderung entgegen, "im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen", und macht dabei Menschen sichtbar, die für eine bessere Welt gekämpft haben. Hackl hat hier wie auch in anderen Werken Widerständigkeit im Faschismus in Einzelschicksalen lebendig gemacht. An diesem Abend brachte er mit dem Kapitel "Harrys Angst" den mit ihm befreundeten Wiener Spanienkämpfer Harry Spiegel und dessen ungeschriebenes Buch "Es lohnt sich doch, Widerstand zu leisten" in Erinnerung. Was sein Protagonist zu Lebzeiten nicht mehr vermochte, bringt Erich Hackl zu Ende. Er führt die fragmentarischen Aufzeichnungen authentischer Erfahrungen und Begebenheiten zusammen und gibt dem Spanienkämpfer ohne jeden heroischen Pathos oder verklärenden Rückblick eine überaus menschliche Stimme.


Auf der Bühne und zum Abschied Faust hoch - Fotos: © 2019 by Schattenblick Auf der Bühne und zum Abschied Faust hoch - Fotos: © 2019 by Schattenblick

Nicolás Rodrigo Miquea - musikalisch wie politisch kompromißlos
Fotos: © 2019 by Schattenblick

Nicolás Rodrigo Miquea - Musik als politischer Aktivismus

Der chilenische Liedermacher, Dichter und Gitarrist Nicolás Rodrigo Miquea studierte klassische Gitarre in New York, Weimar und Rostock. Heute unterrichtet er Gitarre an einer Musikschule in Berlin und gibt Konzerte. Er hat sich mit seinem lateinamerikanischen Erbe auseinandergesetzt und ließ sich von Víctor Jara und Violetta Parra inspirieren. Viele seiner Texte wurden in Chile veröffentlicht, seine erste Gedichtsammlung "Kopf, Hände, Rumpf und Hals" erschien 1994. In seinen Liedern behandelt er neben Biographischem vor allem politische Themen: "Für mich ist Musik politischer Aktivismus." Er setzt sich kritisch mit der Rolle des Westens in der Welt auseinander, wie das beispielsweise in dem Lied "Wenn das Imperium von Frieden redet" deutlich wird. Die Menschen hier in Europa seien sich der globalen Zusammenhänge und Konflikte kaum bewußt. Dieses Wegsehen behandelt er in seinem Lied "Diskussion mit einem Europäer". Im Westen nutzen wir die Vorteile der Globalisierung auf Kosten der Anderen. Die Grenzen sind zur Erfüllung unserer Bedürfnisse geöffnet, doch zugleich immer fester verschlossen für geflohene Menschen: "Europäer du vergißt den Tsunami aus Knochen, der sich vor deinen Grenzen ansammelt." Und an die Adresse der Grünen gerichtet: "Es gibt nichts Ausländerfeindlicheres, als Kriege im Ausland zu unterstützen", so Miquea, der mit seinen elektrisierenden, komplex arrangierten Liedern als Gitarrenvirtuose begeisterte. [4]


Auf der Bühne - Foto: © 2019 by Schattenblick

Chris Jarrett - den Tasten Flügel verliehen
Foto: © 2019 by Schattenblick

Chris Jarrett - politische Botschaft auch ohne Worte

Daß Gegenkultur von unten auch Musik ohne Text sein könne, gab der Komponist und Pianist Chris Jarrett in einer kurzen Stellungnahme zwischen seinen Stücken dem Publikum zu bedenken. Er sprach von einer universellen Signalwelt, die bei Texten untergehe. Es gelte, aus dem Turbokapitalismus auszubrechen, der alles Qualitative in Nischen verdränge. Jarrett präsentierte am Flügel Improvisationen zwischen Jazz und Avantgarde, darunter das Stück "The Darkening" (Die Verdunkelung), ein düsteres Statement zur aktuellen Weltlage. Er wurde in Pennsylvania geboren, lernte Klavierspielen und studierte an der Indiana University und am Oberlin Conservatory. Unzufrieden mit den Rahmenbedingungen und musikalischen Leitbildern vor Ort schlug er eine Karriere als kreativer Musiker ein, arbeitete zum Broterwerb in verschiedensten Jobs und bereiste die USA und Europa. In Deutschland fand er Freunde, lehrte an der Universität Oldenburg und komponierte politische Klavierwerke, ein Ballett, später folgte Filmmusik und vieles mehr. Er befreundete sich mit Erich Fried, den er mit seinen eigenen Klavierkompositionen in den Lesungen unmittelbar vor dessen Tod 1988 begleitete. Sein bislang größtes Werk ist "John Donne - eine poetische Oper", er komponierte Oratorien und Orgelwerke, ging seinem Interesse an den Musikkulturen anderer Länder nach. Chris Jarrett verwendet Strukturen klassischer Musik und nutzt die Freiheit der Jazz-Improvisation. Seine Musik höre man nicht einfach, man erfahre sie, fühle sie, absorbiere und assimiliere sie, schreibt ein Kritiker. Diese Musik sei eine Naturgewalt und ein Akt der Gnade. [4]


Ensembleaufstellung 'Das Floß der Medusa' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick

"Das Floß der Medusa"

Höhepunkt der an Glanzlichtern reichen Kulturgala war die von Rolf Becker rezitierte und von Hannes Zerbe [5] nebst drei JazzmusikerInnen einfühlsam und pointiert begleitete Präsentation der Schlußszene des Oratoriums "Das Floß der Medusa". Binnen weniger Wochen hatten Becker und Zerbe die für nahezu unmöglich gehaltene Umsetzung dieser grandiosen Idee realisiert. Sie basiert auf einem Requiem für Che Guevara von Hans Werner Henze und Ernst Schnabel, dessen Uraufführung in Hamburg im Dezember 1968 verhindert worden war. Zur Vorgeschichte: Das "Floß der Medusa" ist ein Gemälde des französischen Romantikers Théodore Géricault, der das Bild 1819 schuf, welches heute im Pariser Louvre hängt. Es glich seinerzeit einer öffentlichen Provokation, erinnerte es doch an einen skandalösen Vorfall aus dem Jahr 1816, der zur Entlassung des Marineministers sowie von 200 Marineoffizieren geführt hatte.


MusikerInnen des Ensembles im Porträt - Fotos: © 2019 by Schattenblick MusikerInnen des Ensembles im Porträt - Fotos: © 2019 by Schattenblick MusikerInnen des Ensembles im Porträt - Fotos: © 2019 by Schattenblick

Hannes Zerbe, Jürgen Kupke, Silke Eberhard, Christian Marien vom Hannes Zerbe Jazzorchester Berlin
Fotos: © 2019 by Schattenblick

England hatte 1816 die während der Napoleonischen Kriege besetzte westafrikanische Kolonie Senegal an Frankreich zurückgegeben. Die französische Regierung entsandte vier Fregatten mit Infanteristen zum Schutze des überseeischen Besitzes sowie Verwaltungsbeamten und Forschern nach Afrika. An Bord des Flaggschiffs Medusa befanden sich außer den Soldaten auch geladene Gäste und der Troß mit Frauen und Kindern. Die Schiffe stachen am 17. Juni 1816 in See. Am 2. Juli, kurz vor dem Ziel, lief die Medusa in den Sandbänken von Arguin auf ein Riff. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich weit von den anderen Schiffen entfernt. Da alle Versuche, die Medusa freizubekommen, scheiterten, gab man sie nach drei Tagen auf. Die Offiziere und Gäste brachten sich in den Rettungsbooten in Sicherheit. Die übrigen 149 Personen der Mannschaft mit Frauen und Kindern wurden auf einem Floß untergebracht, das zunächst von den Booten geschleppt wurde. Um die Rettung zu beschleunigen, ließ der Kommandant jedoch bald die Taue kappen und überließ die Menschen auf dem Floß ihrem Schicksal. Während der vielen Tage ohne Hilfe kamen die meisten von ihnen durch Hitze, Durst, Hunger, Wahnsinn oder in Kämpfen ums Leben. Auch über Fälle von Kannibalismus wurde berichtet. Am 17. Juli entdeckte die Brigg Argus das Floß und nahm die letzten fünfzehn Überlebenden auf, von denen anschließend noch fünf starben.


Am Stehpult mit rotem Tuch und Bild von Che - Foto: © 2019 by Schattenblick

Rolf Becker - Schauspiel und Rezitation in einem
Foto: © 2019 by Schattenblick

1940 bis 1943 schuf Georg Kaiser ein Theaterstück mit dem Titel "Das Floß der Medusa". 1967/1968 schrieb der Komponist Hans Werner Henze ein szenisches Oratorium gleichen Titels, zu dem der Dichter Ernst Schnabel das Libretto beisteuerte. Es sollte am 9. Dezember 1968 auf der Bühne der Ernst-Merck-Halle im Hamburger Park Planten un Blomen uraufgeführt und live im NDR-Radio übertragen werden. Politische Proteste der Studentenbewegung führten jedoch zu Tumulten und einem Polizeieinsatz, so daß die Aufführung abgesetzt werden mußte. Im Radio wurde stattdessen ein Mitschnitt der Generalprobe gesendet. Die gescheiterte Uraufführung gilt als einer der spektakulärsten Skandale der Musikgeschichte.

Was war geschehen? Die Autoren sahen das Werk als Allegorie zur Beschreibung eines Kampfes ums nackte Leben, aus dem später ein kämpferischer Geist und die Entschlossenheit zur Änderung unerträglicher Verhältnisse hervorgehen sollten. Während der Fertigstellung des Oratoriums erfuhren sie vom Tod Che Guevaras in Bolivien und widmeten ihr Werk daraufhin seinem Gedenken. Auf Veranlassung des NDR wurde das Libretto ohne die politisierende Widmung im Programmheft abgedruckt. Am Abend der geplanten Uraufführung protestierten sozialistische Studenten gegen das "bourgeoise Publikum" und die "kapitalistische Kulturindustrie", wobei sich ihre Intervention nicht gegen Henze richtete. Sie brachten auf dem Konzertpodium ein Poster von Che Guevara an, das vom Programmdirektor des Rundfunks zerrissen wurde. Andere Protestierende brachten dann stattdessen eine rote und eine schwarze Fahne an. Der Justitiar des Rundfunks forderte, sie zu entfernen, der Chor wollte nicht hinter einer roten Fahne singen, doch Henze weigerte sich, sie abzunehmen. Es kam zu Unruhen im Publikum, eine bereitgehaltene Hundertschaft Polizisten stürmte den Saal. Henze solidarisierte sich mit den Studenten und stimmte mit ihnen den Schlachtruf "Ho, Ho, Ho Chi Minh" an. Es kam zum Handgemenge, mehrere Personen wurden verhaftet, darunter auch der Librettist Ernst Schnabel. Dieser wurde später wegen "Widerstands gegen die Staatsgewalt" und "versuchter Gefangenenbefreiung" angeklagt, doch konnte ihm in einem langwierigen Gerichtsverfahren nichts nachgewiesen werden. Henze, dem man Vertrauensbruch vorwarf, wurde für Jahre weitgehend von den deutschen Opernhäusern, Rundfunkanstalten und Konzertveranstaltern boykottiert.


Rolf Becker auf der Bühne mit Ruder und Bild von ertrunkenem Flüchtling - Fotos: © 2019 by Schattenblick Rolf Becker auf der Bühne mit Ruder und Bild von ertrunkenem Flüchtling - Fotos: © 2019 by Schattenblick

Kunst und Wirklichkeit - Szenen einer Annäherung
Fotos: © 2019 by Schattenblick

Das Oratorium folgt den Berichten zweier Überlebender sowie dem Gemälde Théodore Géricaults. Als Erzähler fungieren Charon, der mythologische Fährmann, der die Toten über den Fluß Styx in die Unterwelt bringt, und das Besatzungsmitglied Jean-Charles, ein in französischen Diensten stehender Mulatte. Dieser schwenkt am Ende der Odyssee noch einen roten Stoffetzen, um das rettende Schiff auf das Floß aufmerksam zu machen, fällt dann aber in Agonie, aus der er nicht mehr erwacht. La Morte, der allgegenwärtige Tod, ruft die Menschen auf dem Floß mit sirenenhaft lockenden Gesängen zu sich. Das Sterben wird durch die räumliche Anordnung sichtbar gemacht: Links auf der Bühne die Lebenden, rechts die Toten.


Abschluß der Gala mit allen AkteurInnen auf der Bühne - Foto: © 2019 by Schattenblick

Notsignal für eine schiffbrüchige Welt
Foto: © 2019 by Schattenblick

Der Untertitel "Oratorie volgare e militare" weist auf die Motivation Henzes hin, für das einfache Volk zu komponieren, das 1968 unter Repressalien litt. Die zweite Bedeutung des Begriffs "militare" als "wehrhaft" ist als unterschwelliger Aufruf zum Widerstand zu deuten. Henze zufolge habe während seiner mehrjährigen Beschäftigung mit der Komposition die Außenwelt in seine Arbeit hineingewirkt, so daß er in zunehmendem Maße in seinem Innern "Mitgefühl, Liebe und Solidarität für die Verfolgten, zu Menschen, die leiden, die in Todesangst liegen, den Minderheiten, die ja eigentlich eine Mehrheit darstellen, den Erniedrigten und Verletzten" spüre. Die aktuelle Inszenierung Beckers und Henzes kommentierte die Katastrophe der Flüchtlinge im Mittelmeer, die sich angesichts des Leidens und Sterbens auf dem Floß der Medusa geradezu aufdrängt. Hier wie dort sind es "die viel zu Vielen", denen man Rettung verweigert, da Überleben den Repräsentanten der herrschenden Verhältnisse und deren Nutznießern vorbehalten bleibt. "Das Glück trägt einen Federhut", heißt es in Anspielung auf die Kopfbedeckung der Offiziere, die sich in den Booten in Sicherheit bringen und die Taue kappen.

Was Hannes Zerbe und Rolf Becker, der in der Rolle des Charon tief beeindruckte, zur Aufführung brachten, wurde vom begeisterten Publikum mit stehenden Ovationen gefeiert. Das permanente Sterben im Mittelmeer als Blutzoll kolonialistischer und imperialistischer Aneignungspolitik der achselzuckenden Gewohnheit zu entreißen, die schaurige Begleitmusik EU-europäischer Reichtumsproduktion in ihrer elementaren Gewalt zu ignorieren, ist an diesem Abend gelungen.


Breites Plakat zur Künstlerkonferenz unter Werbewand - Foto: © 2019 by Schattenblick

In der Nacht Neuköllns ...
Foto: © 2019 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] www.spiegel.de/spiegel/print/d-45865157.html

[2] www.shekibmosadeq.de

[3] Erich Hackl: Im Leben mehr Glück - Reden und Schriften, Diogenes Verlag Zürich 2019, 432 Seiten, ISBN: 978-3-257-07057-6

[3] www.redheadmusic.de/artists/nicolás-miquea/

[4] www.chrisjarrett.de/index.php/de/

[5] www.hanneszerbe.de


Berichte und Interviews zur Künstlerkonferenz "Manifest für Gegenkultur" im Schattenblick unter:
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16. Juni 2019


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