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BERICHT/348: Kinderrechte - ohne Abstufung und Unterschiede ... (SB)


Aufgabe des Sozialstaates ist es nicht zuletzt, durch solidarische, sozial gerechte Umverteilung für einen Ausgleich zu sorgen. Tatsache aber ist: Die bestehenden sozialen Sicherungssysteme erodieren und verlieren zunehmend ihre Funktionsfähigkeit. (...) Der Paritätische fordert eine neue soziale Sicherheitspolitik, verstanden als Politik für soziale Sicherheit und Zusammenhalt.
Rolf Rosenbrock (Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbands) [1]


Armut im allgemeinen und Kinderarmut im besonderen gehört in Deutschland zu jenen sozialen Verwerfungen, die seit Jahren von fachkundigen Expertinnen und Experten thematisiert und durchaus auch auf politischer Ebene erörtert werden. Dennoch ist sie weiter auf dem Vormarsch, da angemessene Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung Mangelware bleiben. Und obwohl immer mehr Menschen gefährdet oder unmittelbar betroffen sind, die Medien darüber berichten, Sozialverbände und Initiativen engagiert dagegen zu Felde ziehen, ist eine breitere gesellschaftliche Bewegung, die ihre Stimme erhebt, auf Abhilfe drängt und dafür auch auf die Straße geht, nicht zu erkennen. Während Tausende Menschen gegen den Klimawandel, für eine andere Landwirtschaft und Ernährung, zugunsten einer offenen demokratischen Gesellschaft, gegen den G20-Gipfel und die neuen Polizeigesetze, mitunter auch für Flüchtlinge und diverse weitere Thematiken mobilisiert werden können, herrscht an der Armutsfront, die so dringend eines massenhaften Drucks von unten bedarf, um der Regierungspolitik auf die Sprünge zu helfen, geradezu Friedhofsruhe.

Die Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums erfolgt in der Bundesrepublik auf eine Weise, welche die Bevölkerung in extremem Maße spaltet. In den oberen Schichten bricht sich eine Privilegierung Bahn, die den Reichtum in beispielloser Weise auf sich vereint und ihren Einfluß auf Bestandssicherung und Ausbau dieser Position unablässig geltend macht. Dem steht eine Degradierung und Ausgrenzung der unteren Schichten gegenüber, wobei auch die in sich fragmentierte gesellschaftliche Mitte unter Druck geraten ist. Dort fühlen sich viele Menschen vom Abstieg bedroht, da ihre soziale Stellung instabil geworden ist. Wer in dieser Mittelschicht Arbeit hat, muß immer mehr leisten, um über die Runden zu kommen. Die wachsende Konkurrenz um schwindende Erwerbsmöglichkeiten verlangt der Existenzsicherung einen immer größeren Einsatz ab, ohne daß dadurch die erreichte Position sicher wäre. So setzt sich die untere Hälfte der Gesellschaftspyramide zu 20 bis 30 Prozent aus Menschen zusammen, die permanent vom sozialen Absturz bedroht sind, während die verbliebenen 10 bis 20 Prozent in der einen oder anderen Form in Armut leben. Und wie ein Damoklesschwert hängt darüber Hartz IV als permanente Drohung der Abstiegsspirale.

Das gleichzeitige Auftreten von wachsendem Reichtum und sich vertiefender Armut ist kein beiderseitiges Randphänomen einer an sich homogenen Gesellschaft, sondern zwangsläufige Folge von Produktionsverhältnissen in einer Klassengesellschaft, deren innere Widersprüche sich im Zuge eskalierender Krisen verschärfen. Verfügungsgewalt und Prosperität gründen auf der Produktion von Abhängigkeit und Verelendung, wobei der Sozialstaat angesichts schwindender Mittel immer weniger in der Lage ist, die Zuspitzung zumindest zu mildern, der er in zunehmendem Maße geopfert wird. Dabei ist der Ab- und Umbau des Sozialstaats eine politisch intendierte Stoßrichtung, die Folgen der Krise nach unten abzuwälzen, um Machterhalt und Besitzstand der gesellschaftlichen Eliten zu sichern und fortzuschreiben.

Im Zusammenhang dieses Sozialkampfs von oben ist die Entsolidarisierung und Spaltung der Gesellschaft integraler Bestandteil einer Gesamtstrategie der Entmächtigung. Die Durchsetzung der neoliberalen Wirtschaftsweise und Durchdringung aller Lebenssphären hat soziale Zusammenhänge für nichtig erklärt und kollektive Widerstandsformen außer Kraft gesetzt. Der Anspruch auf Sozialleistungen wurde zugunsten einer Vorwurfslage entsorgt, die dem Einzelnen ein Scheitern an diesen Verhältnissen als persönliche Schuld anlastet. In der sogenannten Mehrheitsgesellschaft herrschen marktradikale und somit sozialdarwinistische Auffassungen des ungezügelten individualisierten Konkurrenzkampfs vor. So münden reale Abwertungsprozesse in eine Diskriminierung all jener, die des Versagens bezichtigt und hinter unsichtbaren Mauern ausgegrenzt werden, die ihnen die Teilhabe verwehren.


Ausschnitt aus Runde im großen Saal des Gewerkschaftshauses - Foto: © 2019 by Schattenblick

Ulrich Schneider, Cansu Özdemir, Moderator Herbert Schalthoff
Foto: © 2019 by Schattenblick

"Aktiv werden gegen Kinderarmut!"

Auf Einladung der Linksfraktion in der Hamburger Bürgerschaft fand am 29. August im DGB-Haus eine Veranstaltung zum Thema "Aktiv werden gegen Kinderarmut!" statt. Unter Moderation des Journalisten Herbert Schalthoff diskutierten die Fraktionsvorsitzenden Sabine Boeddinghaus und Cansu Özdemir mit Ulrich Schneider (Bündnis Kindergrundsicherung, Der Paritätische) sowie weiteren Expertinnen und Experten über diesen Problemkomplex. In einer reichen Stadt wie Hamburg ist jedes vierte Kind von Armut bedroht, in Steilshoop und Harburg sogar jedes zweite. Auch unter den 18- bis 25jährigen liegt die Armutsgefährdungsquote bei 32 Prozent. Dabei heißt Kinderarmut immer auch Familienarmut, sie ist mit der Einkommensarmut der Eltern verknüpft. Besonders betroffen sind Alleinerziehende oder Familien mit Migrationshintergrund. Kinderarmut betrifft also nicht nur eine kleine Gruppe, sondern sehr viele Menschen in Hamburg.

Dabei ist Armut kein individuelles Problem, sie hat vielmehr gesellschaftliche Ursachen. Immer mehr Menschen sind arm trotz Arbeit, sie arbeiten unfreiwillig in Teilzeit, Leiharbeit und Niedriglohnjobs. Die Arbeitswelt paßt immer weniger mit einem Familienalltag zusammen. Und die vorhandenen Sicherungssysteme schützen Kinder und ihre Familien nicht vor Armut. Beziehen Eltern SGB-Leistungen, wird ihnen sogar das Kindergeld wieder abgezogen. Es stellt sich daher die Frage, wie angemessene monetäre Leistungen beschaffen sein müssen und welche weiteren Maßnahmen darüber hinaus erforderlich sind, um die Kinderarmut zu reduzieren und die soziale Spaltung zu verringern.


Ulrich Schneider in der Runde - Foto: © 2019 by Schattenblick

Streitbar für soziale Gerechtigkeit
Foto: © 2019 by Schattenblick

Schlaglichter aus Vergangenheit und Gegenwart von Armut

Ulrich Schneider eröffnete das Gespräch mit aufschlußreichen Schlaglichtern aus Vergangenheit und Gegenwart von Armut in Deutschland. Wie er ausführte, brachte der Paritätische Wohlfahrtsverband 1989 erstmals einen Armutsbericht heraus und eröffnete damit die Diskussion, was Armut ist. Bis dahin galt offiziell, daß Sozialhilfe Armut verhindert. Umstritten war, ob es eine Dunkelziffer von Armut jenseits der Sozialhilfe gibt. Aber alle anderen bekämen doch den Regelsatz, in dem an alles gedacht sei. Es gab den Warenkorb, um dessen Inhalt man heftig stritt. Der Armutsbericht formulierte erstmals, daß Sozialhilfe rechtlich fixierte Armut ist, weil man mit diesem Geld nicht über den Monat kommen kann. Man muß nicht verhungern, kann aber nicht teilhaben. An diesem Streit, ob es in Deutschland Armut gibt, hat sich bis heute prinzipiell nichts geändert.

Viele Menschen sind davon überzeugt, daß es keine Armut gibt, weil sie selbst damit keine Probleme haben. Zwar geben sie zu, daß Menschen, die unter Brücken schlafen und Pfandflaschen sammeln müssen, arm seien, doch für andere gelte das nicht. Die einen nehmen beim Einkauf mit, was sie wollen, ohne nach dem Preis zu fragen, die anderen können sich nur das Notdürftigste leisten. Wenn man mit dieser Diskrepanz kein Problem hat, kennt man auch keine Armut. Nach einer Definition, die von den meisten Wissenschaftlern geteilt wird, beginnt Armut jedoch nicht erst dann, wenn jemand Hunger leidet, keine Kleidung, kein Obdach hat. Armut herrscht, wenn man nicht mehr teilhaben kann. Lebt jemand von der Altersgrundsicherung, erlaubt es dieser Satz nicht einmal mehr, einen Ausflug mit der Pfarrgemeinde zu machen, Kaffeetrinken zu gehen, ein Kino oder Theater zu besuchen. Weil das in diesem reichen Land nicht nötig wäre, ist es Armut. Bei alten Menschen ist das besonders bitter, weil es lebenslänglich bedeutet. Teilhabe kostet in unserer Gesellschaft enorm viel Geld, der Lebensstandard orientiert sich an der Mitte.

Auch für Kinder ist das sehr hart, weil sie frühzeitig merken, daß sie nicht mehr teilhaben können. Derzeit leben 2 Millionen Kinder im Hartz-IV-Bezug, wovon sich über 60 Prozent vier oder mehr Jahre darin befinden und nicht mehr herauskommen. Nicht alle sind Kinder von Arbeitslosen, auch viele Aufstocker sind dabei, und 1 Million sind Kinder von Alleinerziehenden. Die Hälfte dieser Alleinerziehenden arbeitet, aber sie verdienen nicht genug, weil sei meistens nicht Vollzeit arbeiten können. Für die Kinder heißt das, daß sie von ganz normalen Vollzügen ausgeschlossen sind.

Zur Veranschaulichung erzählte Schneider vom Abiturball seiner beiden Töchter, der 60 Euro Eintritt pro Person, also 240 Euro für Eltern mit zwei Kindern kostete. Die Jungs kaufen sich Anzüge, die Mädchen Abendkleider. Im Umfeld mußten viele Eltern ihren Dispo bis zum Anschlag ausreizen, um teilnehmen zu können. Machen sie das nicht mit, halten ihnen die Kinder das später vor. Da hat man plötzlich drei Arten von Eltern: Für einige ist das kein Problem, die zahlen einfach. Viele kommen erst ab 22 Uhr zum halben Preis, wenn das Büfett schon weggegessen ist. Wieder andere schicken nur ihre Kinder. Und dabei bildet sich beim Abitur nur das Ende einer Schulkarriere ab, die schon seit zwölf Jahren so verlaufen ist. Bei Klassenfahrten gibt es stets die Diskussion um das Taschengeld. Einige legen vor, weil sie es haben, andere werden blaß. Immer die gleichen Kinder müssen zurückstehen. Wenn Kinder heute Geburtstag feiern, gehen sie Bowlingspielen, da mieten die Eltern eine Bowlingbahn. Ärmere Leute werden in ärmere Viertel verdrängt. Da argumentieren Ökonomen perfide, in Neukölln könne man nicht von Armut sprechen, weil dort ja alle kein Geld hätten. Relative Armut könne es im Armenhaus nicht geben. Dort suchen sich die Kinder und Jugendlichen eigene, wenig konforme Möglichkeiten der Teilhabe. Wer von Kindheit an erfährt, daß ihm die üblichen Karrierewege versperrt sind und sich die Eltern abrackern, ohne auf einen grünen Zweig zu kommen, entwickelt nicht die Motivation, um Bildungserfolge zu haben. Doch dieselben Jugendlichen, die in der Schule nicht mitmachen, sieht man nachmittags mit Begeisterung Sport treiben, weil sich da die Leistung lohnt. Sie sind anerkannt, haben Erfolge, werden beim Sonntagsspiel bewundert. Einige hoffen auf eine kleine Profikarriere.

Kinder brauchen eine realistische Perspektive und Vorbilder, die nicht auf Hartz IV angewiesen sind. Sie brauchen gute Laune in der Familie, ein bißchen Glück. Wenn die Eltern nach einem halben Monat nicht wissen, wie sie klarkommen sollen, wenn sie Angst vor jedem grauen Umschlag mit einer Rechnung haben und ihn nicht mehr aufmachen, weil ihnen die Schulden über den Kopf wachsen, wenn das ganze Leben nur Streß ist, dann überträgt sich das auf das Klima in der Familie. Das raubt dem Kind Lebensmut. Man kann Kinder nicht bilden, sie müssen sich bilden. Man kann ihnen helfen. Aber wenn sie sich nicht bilden wollen, weil sie das für völlig unvernünftig halten, weil es sowieso nichts bringt, dann läuft jeder Pädagoge ins Leere, so Schneider.

Wie hat sich diese Situation seit 1989 entwickelt? Die Armut ist seither anders geworden. Damals lief eine Zeit aus, in der man noch vieles umsonst machen konnte. Man konnte Fußball spielen, ohne im Verein zu sein, weil es Freiflächen gab. Es gab auch mehr öffentliche preiswerte Bäder. Heute geht ohne Geld fast nichts mehr. Zudem hat sich der Empfängerkreis geändert. Damals waren in der Sozialhilfe vor allem alte Frauen, deren Witwenrente nicht reichte, Alleinerziehende und Arbeitslose, aber kaum Erwerbstätige. Heute sind 4,5 Millionen erwerbsfähige Menschen in Hartz IV und 500.000 in der Altersgrundsicherung. Damals betrug die Armutsquote rund 10 Prozent, 2018 waren es 15,5 Prozent, das sind etwa 13 Millionen Menschen. Seit Mitte der 90er Jahre gab es eine Ausweitung von Niedrigverdiensten von weniger als einem Drittel des durchschnittlichen Bruttoeinkommens auf über 20 Prozent. Das war mit Hartz IV auch politisch so intendiert: Der Niedriglohnsektor sollte dazu führen, daß mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, und nach ein, zwei Jahren kämen die Leute aus dem Niedriglohnsektor wieder heraus. Ähnlich hieß es für Leiharbeit, daß dies nur eine kurze Übergangsphase sei, worauf daraus schon feste Arbeitsplätze würden. Im unteren Einkommensbereich haben die Menschen heute kaum mehr Kaufkraft als in den 90er Jahren, im oberen Bereich wurden 7 bis 8 Prozent Kaufkraft zugelegt. Metallindustrie oder Autoproduktion legte zu, alles was in den Export ging, Dienstleistung wie Gaststätten, aber auch Erziehung und Pflegeberufe stagnierte, und das unterste Zehntel der Erwerbstätigen hatte Reallohnverluste von bis zu 5 Prozent.

Zudem hat man seit 2000 sozialpolitisch verstärkt auf die Mitte gesetzt, Leistungen für ärmere Familien bewußt gestrichen und Familien im mittleren Bereich stärker gefördert. Das fing mit Hartz IV an, da nun Familien weniger Geld als bei der Sozialhilfe hatten. Früher wurden sogenannte einmalige Leistungen wie Kleidung zusätzlich gewährt, mit Hartz IV wurde alles pauschaliert. Um 2007 wurde das Erziehungsgeld abgeschafft und durch das Elterngeld ersetzt. Erziehungsgeld war als Pauschale ausdrücklich für schwächere Haushalte da und wurde mit steigendem Einkommen abgeschmolzen. Zudem war es anrechnungsfrei in Hartz IV. Mit dem Elterngeld wurde das ganze gedreht, und man bekam einen prozentualen Anteil des zuvor erzielten Erwerbseinkommens, wovon die Besserverdienenden am meisten profitierten. Die schlechter Gestellten bekamen wesentlich weniger als vorher. 2011 wurde dann der Freibetrag in Hartz IV für diese Leistung gestrichen, seither wird das gesamte Elterngeld mit angerechnet. Die Armut ist also zum größten Teil hausgemacht und ein Ergebnis politischen Wollens: Laß uns die Mittelschicht hofieren, der Rest ergibt sich von selber.

Heute gibt es 1,2 Millionen Aufstocker, die kaum mehr haben, als wenn sie nicht arbeiten gingen. Sie kämpfen gegen Windmühlen. In Hartz IV sind 4,5 Millionen theoretisch erwerbsfähig, davon nur 1,5 Millionen arbeitslos, die andern machen alle irgend etwas. Sie sind zum Teil in Maßnahmen, die sie selber als nicht sinnvoll erleben. Die 1,2 Millionen Aufstocker sind keineswegs alle Minijobber, die Hälfte ist sozialversicherungspflichtig beschäftigt, nur häufig wegen der Kinder nicht vollzeit. Hunderttausende pflegen Angehörige und stehen deshalb dem Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung.


In der Runde - Foto: © 2019 by Schattenblick

Sabine Boeddinghaus
Foto: © 2019 by Schattenblick

Geld hilft - hinzu müssen strukturelle Maßnahmen kommen

Hamburg hat eine Milliarde Euro für die Elbphilharmonie aufgewendet und Milliarden für die HSH Nordbank, so der Moderator. Reicht es in dieser Stadt, viel Geld in die Hand zu nehmen, um das Problem zu lösen? Wie Sabine Boeddinghaus unterstrich, würde es wirksam helfen, sofern bestimmte Maßnahmen zur Unterstützung der Familien ergriffen werden. In Hamburg sind mehrere Kinder gestorben, die in Jugendhilfe betreut waren. Sie kamen alle aus Familien, die von Armut bedroht oder arm waren. Beim Versuch, sich diesem Thema in der Enquetekommission zu nähern, waren SPD und Grüne dagegen, Armut und Lebenslagen von Kindern in diesen Auftrag zu nehmen. Im politischen Umgang trete ein Unwillen zutage, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Daß es dann doch aufgenommen wurde, war dem Kommissionsvorsitzenden zu verdanken, der darauf bestand, daß die soziale Lage der Familien Teil des Untersuchungsauftrags sein müsse. Generell dürfe Armutsbekämpfung aus dem politischen Blickwinkel nicht Wohlfahrt oder Almosen sein. Politik müsse anerkennen, daß Kinder das Recht auf ein Aufwachsen ohne Gewalt, Armut und in Sicherheit haben, daß sie Teilhabemöglichkeiten, Mitbestimmungsmöglichkeiten und Förderung bekommen. Politik muß die Rahmenbedingungen schaffen, daß dieses Grundrecht eingelöst wird, so Boeddinghaus.

Bundesweit wird eine Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz als elementare Voraussetzung diskutiert. Armutsbekämpfung muß auch heißen, die offene Kinder- und Jugendarbeit in den Stadtteilen zu stärken und ein kostenloses Frühstück in Kita und Grundschule anzubieten. Träger und Verbände haben bestätigt, daß Armut in Hamburg auf hohem Niveau stabilisiert wird. Die bislang ergriffenen Maßnahmen haben nicht dazu geführt, die Armut zu verringern. Familien haben die Perspektive verloren, die Kinder schämen sich und gehen nicht davon aus, daß sie ein Recht auf eine gute Ausbildung haben.

Er könne sich nicht vorstellen, daß man das Problem aus der Welt schafft, wenn man allen Familien einige hundert Euro mehr gibt, legte Schalthoff nach. Man könne die Probleme nicht mit Geld wegkaufen. Dem widersprach Sabine Riekermann (Sprecherin der Fachgruppe Schulen in ver.di). Ihrer langjährigen Erfahrung nach hat die Armut in den Schulen viele Gesichter. Längst nicht alle Eltern beantragen das Bildungs- und Teilhabepaket, weil sie sich schämen. Werden die Kinder älter, begreifen sie um so mehr, in welcher Situation sie leben, und sagen ihren Eltern, sie sollen diese Leistung nicht in der Schule beantragen, weil es ihnen peinlich ist. Die Eltern sind überhaupt nicht geschützt, weil jeder das mitbekommt. Würden alle Kinder ein freies Essen bekommen, fiele die Trennung an dieser Stelle überhaupt nicht mehr auf.

Dem fügte Boeddinghaus hinzu, daß Kinder in Familien aufwachsen sollten, in denen sie keine Angst haben, daß der Strom abgeschaltet wird, die Eltern nicht ständig gestreßt sind und schlechte Laune haben, daß sie sich nicht in der Schule schämen müssen, weil sie nicht mithalten können. Die strukturelle Demütigung im Bildungssystem könnte durch politische Maßnahmen zumindest verringert werden. Eine Politik der Prävention, die Menschenrechte und Kinderrechte achtet, würde sehr viel bewirken. Daß die unwürdige Lage armer Familien vielfach nicht mehr zur Kenntnis genommen wird, habe viel mit Abwehr zu tun. Als in der Enquetekommission die Ergebnisse der Anhörung vorgetragen wurden, sei ihr eine heftige Abwehr entgegengeschlagen: Da kommt Aggression hoch, wenn man damit konfrontiert ist, das will man einfach nicht wissen.

Die mangelnde Bereitschaft der Parteipolitik, sich mit diesem Thema zu befassen, führte Schneider darauf zurück, daß es keinen Spaß macht und daß man damit keine Wahlen gewinnen kann. Im Unterschied zu vielen anderen Menschen haben Hartz-IV-Bezieher keine Tätigkeit, die ihnen zusagt. Niemand will bis 2 Uhr nachts in der Kneipe hinterm Tresen stehen und Bier verkaufen oder als DHL-Bote für kleines Geld mit dem Wagen herumfahren und nicht wissen, wie er über den Monat kommen soll. Das unterscheidet auch Berufspolitiker von denen, für die sie sich angeblich einsetzen. Mit den 10 Prozent Armen in Deutschland kann man keine Wahlen gewinnen. Will man Wahlen mit sozialen Themen gewinnen, muß man auf jene zielen, die sich verunsichert fühlen. Mit Menschen in der unteren Mittelschicht beschäftigen sich Politiker ganz gern und nehmen dabei die Umschichtung in der Familienpolitik dahin vor, wo es Wähler zu gewinnen gibt. Das ist einer der Gründe, warum Armut als Thema eine gewisse Abneigung erfährt, außer bei jenen, die mit Leidenschaft und aus tiefer Überzeugung hinter dem Thema stehen. Die gibt es überall, auch in allen Parteien, in der einen mehr, in der anderen sehr viel weniger, so Schneider.

Er sei davon überzeugt, daß Geld gegen Armut hilft. Eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern, die von Hartz IV leben muß, hat ein Regelsatzaufkommen von etwas über 900 Euro je nach Alter der Kinder. Vielen Hartz-IV-Beziehern steht der Regelsatz gar nicht zur Verfügung. Viele haben Schulden und müssen Ratenzahlungen aus der Zeit vor Hartz IV bedienen. Fast ein Drittel der Hartz-IV-Bezieher muß aus dem Regelsatz auch Teile der Miete bestreiten, weil sie nicht voll übernommen wird. Im Angesicht einer solchen Frau würden wir es niemals wagen zu sagen, die 300 Euro helfen dir doch sowieso nicht.

Auch das Argument, eine individuelle Hilfe löse das Problem als ganzes nicht, sei hinfällig. Es geht um 13 Millionen Individuen, und wenn ihnen individuell geholfen wird, ist das Problem aus Welt geschafft, unterstrich Schneider. Das Geld dazu ist vorhanden, es gehe um Umverteilung. Der Paritätische wie auch die Diakonie und die Caritas haben unabhängig voneinander errechnet, daß die Regelsätze um 30 Prozent erhöht werden sollten, was 10 Milliarden Euro kosten würde. Derzeit ist von einem Haushaltsüberschuß von 45 Milliarden im ersten Halbjahr die Rede, wovon 17 Milliarden auf den Bund entfallen. Er hätte die Möglichkeit gehabt, aus diesen Steuermitteln die Regelsätze so zu erhöhen, daß die Menschen nicht morgens mit Existenzangst aufwachen.

Hinzu müssen weitere Maßnahmen kommen, wie vernünftige Arbeit für die Eltern. Wo es der Arbeitsmarkt nicht bietet, muß nachgeholfen werden. Viele können nicht den ganzen Tag arbeiten, gesundheitlich oder wegen der Kinder. Da muß der öffentlich geförderte Beschäftigungssektor ausgebaut werden. Das könnte Hamburg sogar ohne den Bund mit Beschäftigungsträgern für bestimmte Zielgruppen bewerkstelligen. Man könnte zum Beispiel für alleinerziehende Mütter, die wegen der Kinder ihre Ausbildung abbrechen mußten, Maßnahmen einrichten. Arbeit, Ausbildung und Kind sollen für diese Mütter vereinbar werden, damit sie nicht von Transferzahlungen abhängig bleiben. Kindergrundsicherung ist Sache des Bundes, Kinder dürfen kein Armutsrisiko sein. Vielen Eltern in Hartz IV reicht das Einkommen für sie selber, doch sobald Kinder da sind, wachsen sie in Hartz IV hinein und müssen als Aufstocker das volle Hartz-IV-Programm absolvieren, obwohl sie arbeiten. Demgegenüber fordert das Konzept der Grundsicherung, daß jedes Kind ein existenzsicherndes Kindergeld erhalten soll - im Moment sind das 608 Euro -, das mit steigendem Einkommen abgeschmolzen wird. Dann bekäme eine Familie mit zwei Kindern, die netto 1000 Euro verdient, ein Kindergeld, das über Hartz IV liegt, und müßte nicht zum Jobcenter gehen. Kinder sind keine kleinen Arbeitslosen.

Neben einem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor und einer existenzsichernden Kindergrundsicherung für arme Familien sei als Drittes eine Stadtteilarbeit erforderlich, die vor Ort eine Infrastruktur vorhält: Wir setzen einen Rechtsanspruch auf Teilhabe. Beim Rechtsanspruch auf Kindergärten hieß es damals, das ist unmöglich, kann keiner bezahlen. Wir haben es dennoch gemacht und es geht. Später folgte der Rechtsanspruch auf Kinderkrippen, da hieß es auch, daß das nicht geht. Es ging aber doch. Jetzt ist die Zeit reif für einen Rechtsanspruch auf Teilhabe. Im Kinder- und Jugendhilfegesetz stehen die Maßnahmen, die notwendig wären, von der Erziehungsberatung über Jugendverbandsarbeit bis hin zu Erholungsmaßnahmen. Für die armen Kinder muß das kostenlos sein. Dann sind auch Gebietskörperschaften in der Pflicht, das vorzuhalten.

Auch Heike Sudmann (Fachsprecherin Stadtentwicklung, Wohnung und Verkehr) unterstrich, das beides erforderlich sei: Geld für die Einzelnen und Geld für das System. Als sie in den 80er Jahren im Sozialamt gearbeitet hatte, gab es noch das Ermessen, so daß wesentlich mehr Gelder herausgeben werden konnten. Schon damals wurde diskutiert, ob es gut sei, mehr Geld zu geben, und diese Kontroverse hänge immer noch in den Köpfen drin. Die Gruppen, die über wenig Geld verfügen, werden abgeschrieben. Man braucht freies Mittagessen in den Schulen, Würde könne mit Geld erkauft werden. Im übrigen ergab in ihrer damaligen Praxis eine Studie nur 2 Prozent Betrugsfälle in der Sozialhilfe, womit sie weit unter Steuerbetrug rangierte.


In der Runde - Foto: © 2019 by Schattenblick

Heike Sudmann
Foto: © 2019 by Schattenblick

Armut im Kontext der Stadtentwicklung

Als ein weiterer Problemkomplex wurde diskutiert, daß sich Armut in bestimmten Stadtteilen konzentriert. Ein Diskussionsteilnehmer berichtete aus Steilshoop, daß das alle zwei Jahre erstellte Sozialmonitoring dort einen Abwärtstrend festgestellt hat. Der Stadtteil weist einen hohen Anteil an alleinerziehenden Müttern und Menschen mit Migrationshintergrund auf, viele arbeiten im Niedriglohnsektor. Diese Rahmenbedingungen verhindern, daß die Kinder in einer Familie aufwachsen, die sie fördern kann. Am wichtigsten sei natürlich, die Löhne und Arbeitsbedingungen zu verbessern - ein höherer Mindestlohn zum Beispiel oder daß Menschen aus diesen prekären Arbeitsverhältnissen vor allem im Dienstleistungssektor herauskommen. Beschäftigungsträger wie Alraune kämpfen jedes Jahr um Mittel, um alleinstehende Mütter beschäftigen zu können.

Hat der Drittelmix bei Neubauten in Hamburg dazu geführt, daß die Stadtteile sozial stärker durchmischt werden? Das funktionierte laut Sudmann nicht, weil sich der Drittelmix auf den gesamten Bezirk bezieht. In den reichsten Stadtteilen wie Blankenese sind kaum mehr als zehn Sozialwohnungen entstanden. Die erhoffte Wirkung bleibe aber schon deswegen aus, weil in Hamburg fast 50 Prozent aller Haushalte Anspruch auf eine Sozialwohnung haben. Weniger als ein Viertel der geplanten Sozialwohnungen wurde überhaupt gebaut und dann auch noch geballt in Kleinwohnungen, die nicht für Familien geeignet sind. Grundsätzlich müsse man erst einmal dafür sorgen, daß die Mieten nicht weiter steigen, damit die Menschen in ihrem Stadtteil wohnen bleiben können.

Ein anderer Diskussionsteilnehmer legte für Wilhelmsburg dar, daß dort seit 2000 durchgängig bis heute 20.000 Menschen von Hartz IV leben. Die Bevölkerung ist von 50.000 auf 64.000 gewachsen, wodurch der Anteil der Hartz-IV-Empfänger prozentual gefallen ist. Aber für diese ändert sich nichts und sie erleben, daß die Politik nichts für sie macht. Die Mieten steigen, und der Zuzug reicherer Leute setzt einen Verdrängungsprozeß in Gang. Von einer positiven Entwicklung, wie sie der Moderator geltend machte, könne keine Rede sein. Vielmehr verfestige sich ein falsches Menschenbild. Drittelmix heißt, daß es sozial geförderten Wohnungsbau geben muß, weil es arme Menschen gibt, wie es zugleich teure Wohnungen für Menschen mit mehr Geld geben muß. Dieses Menschenbild beruhe auf Ungleichheit. Die Menschen in Wilhelmsburg, die in der dritten Generation in diesem System leben, sind so weit weg, daß sie nicht mehr herauskommen, egal, was in diesem Stadtteil an Wohnungsbau passiert. Sie sehen, daß es nicht für sie geschieht. Sie wissen schon als Kinder, daß sie lebenslang abgehängt bleiben werden, wenn sie sich nicht wehren. Und das können sie nicht, außer auf sozial nicht verträgliche Art und Weise.


Weiße Tüten mit Obst 'Gratis Frühstück für alle!' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Ernährungssouveränität organisieren
Foto: © 2019 by Schattenblick

Rahmenbedingungen und Hilfe im Einzelfall

Wird Armut also gewissermaßen von einer Generation auf die andere vererbt? Wenn Kinder von sich aus herauskommen sollen, dann muß man die Eltern rausholen, hob Schneider hervor. Die schaffen es nicht allein, was ganz banale Gründe haben kann. Alleinerziehende mit Schichtdienst an der Kasse müssen aufstocken. Familien mit zerstörter Struktur können ohne familienpädagogische Hilfe nicht in Arbeit integriert werden. In den Beratungsstellen trifft man auf Menschen, die zunächst einer Zahnbehandlung oder eines Besuchs beim Hausarzt bedürfen, der vielleicht feststellt, daß gar keine Arbeitsfähigkeit mehr gegeben ist. Will der Staat die Kinder tatsächlich herausholen, muß er etwas für die Eltern tun.

Nun schaffen es aber manche Menschen in vergleichbaren Situationen doch, ihre Kinder durch die Schule zu bringen, wandte der Moderator ein. Läuft man nicht Gefahr, diese Leute zu stigmatisieren, wenn man sagt, sie kommen da nicht heraus? Dazu erklärte Boeddinghaus, daß Politik in diesem Feld nicht als Wohlfahrt zu verstehen sei. Die Verbände machen eine sehr gute Arbeit, die Politik muß Rahmenbedingungen schaffen, daß sich diese Menschen selbst in die Lage versetzen können, in Würde zu leben. Politik muß dafür sorgen, daß Kinder und Jugendliche Beteiligungs- und Mitbestimmungsrechte haben.

Schneider gab zu bedenken, daß in jedem Einzelfall genau zu prüfen sei, womit man es zu tun hat. Ein Facharbeiter, der ganz gut über die Runden kam und sich auch gerne was gegönnt hat, lebt deshalb an der Kante. Dann macht die Firma pleite, doch er wohnt in einer Region, wo sein Beruf gerade nicht gesucht wird. Er reizt das aus, will wieder seinen Beruf und sein Gehalt haben, der ist ruckzuck nach einem Jahr in Hartz IV. Das ist eine andere Situation als die eines 17jährigen Mädchens, das die Ausbildung geschmissen hat, weil sie ein Kind bekommen hat. Wieder ein anderer Mensch ist nur vier Stunden am Tag arbeitsfähig. In Hartz IV zählt jeder als arbeitsfähig, der es schafft, drei Stunden am Tag tätig zu sein und das nicht einmal am Stück. Dann heißt es immer, der kann doch an der Pforte arbeiten. So viele Pforten gibt es gar nicht. Der größere Teil der armen Menschen hat eine Ausbildung, aber die wird nicht mehr gebraucht.

Er denke nicht, daß man stigmatisiert, wenn man das Problem beim Namen nennt. Wenn jemand nur vier Stunden am Tag arbeiten kann, dann ist er vielleicht besser in der Erwerbsunfähigkeitsrente aufgehoben, als daß er jeden Monat ein Bewerbungstraining macht, was ungemein entwürdigend ist. Doch wie verhalte es sich mit der 17jährigen, die einfach nur keinen Bock hat, wollte Schalthoff wissen. Dazu berichtete Schneider, daß er in Talkshows mehrfach mit solchen Menschen konfrontiert worden sei, die als Beweis vorgeführt wurden, daß etliche gar nicht arbeiten wollen. Sie hätten durchweg psychische Probleme gehabt und der Hilfe bedurft, wie er das auch in den Einrichtungen immer wieder erlebe. Kürzt man ihr Hartz IV auf Null, treibt man sie auf die Straße und in die Prostitution. Sie brauchen Sozialarbeiter, die mit ihnen fast therapeutisch aufarbeiten, was sie mit ihrem Leben machen wollen. Dem fügte Boeddinghaus hinzu, daß alle Kinder mal durchhängen, diese aber keinen familiären Hintergrund haben, der sie auffängt. Sie werden mit 18 Jahren aus dem Jugendhilfesystem geworfen und ihnen wird abverlangt, sich allein zu organisieren. Derart viel Selbständigkeit würde auch Kindern bessergestellter Familien Alpträume bereiten.


Ulrich Schneider mit Gestik in der Runde - Foto: © 2019 by Schattenblick

Neues Bündnis für soziale und ökologische Politik
Foto: © 2019 by Schattenblick

Erforderlich ist eine umfassende Strategie

Einigkeit herrschte in der Diskussion darüber, daß es keine isolierte Maßnahme gibt, die das Problem allein lösen kann. Darauf ging auch Cansu Özdemir (Sozialpolitische Sprecherin der Fraktion) ein. Das sei noch einmal deutlich geworden, als die Veranstaltungsreihe "Mut gegen Armut" alle Stadtteile besucht hat. Familienarmut fängt beim ÖPNV an, den hohen Mieten, die mehr als die Hälfte des Einkommens verschlingen, der sozialen Infrastruktur, da es nicht in jedem Stadtteil die gleiche ärztliche Versorgung gibt, und setzt sich bei der Schulbildung und vielen weiteren Baustellen fort. Erforderlich ist also eine umfassende und langfristige Strategie. Die Grünen haben vor der letzten Bürgerschaftswahl eine Enquetekommission zur Untersuchung der Armut in Hamburg gefordert, doch ist davon seither keine Rede mehr. Deshalb fordert Die Linke, auf Grundlage der Eckpunkte, die gemeinsam in den Stadtteilen erarbeitet wurden, zusammen mit den Expertinnen und Experten eine Strategie gegen die Armut zu entwickeln. Dazu gehören die Wohlfahrtsverbände, die Sozialarbeiterinnen vor Ort wie auch alle maßgeblichen Behörden. Dann soll im Jahr 2020/2021, wenn die nächsten Haushaltsberatungen anstehen, die Kostenfrage beziffert und eine konkrete Zielvorgabe zur Senkung der Armut gemacht werden.

Özdemir wies auf einen weiteren Gesichtspunkt hin, der ihr in den Diskussionen um Rezo und Fridays for Future aufgefallen war. Beim Besuch von FFF in der Bürgerschaft waren alle Fraktionen in einer Gesprächsrunde vertreten. Wie eine Jugendliche sagte, nehme sie Politik nicht mehr ernst, weil diese ohnehin nicht zuhöre und die erhobenen Forderungen auch nicht umsetze. Wenn schon die Jugend den Glauben daran verliert, daß die Politik an ihrer prekären Situation etwas verändert, dann ist das eine extrem bittere Entwicklung. Auch bei Rezo wurden Abwehrreaktionen laut, überlaß das mal den Profis. Es fehlt der Ansatz, so etwas ernst zu nehmen und daran etwas zu verändern, auch das betrifft Teilhabe. Kurz nach der Bürgerschaftswahl 2015 drehte sich die erste aktuelle Stunde um die Ergebnisse in den Stadtteilen, in denen mehr ärmere Menschen leben. Damals versprach der heutige Finanzsenator Andreas Dressel, dieses Thema auf die Agenda zu setzen und etwas zu verändern. Das ist jedoch nicht geschehen, und jedesmal wenn die Linksfraktion daran erinnert, wird mit den Augen gerollt und abgewinkt.

Einen weiteren wichtigen Ansatz brachte Tim Kunstreich (emeritierter Prof. für Soziale Arbeit) im Auftrag des Sozialverbands Deutschland (SoVD) zur Sprache. Wie kommen diejenigen, die Hilfe brauchen, an Hilfe, ohne diskriminiert zu werden? Da herrsche ein großes Manko. Es müssen bedingungslose Rechte und Zugangsmöglichkeiten geschaffen werden. Daß man beispielsweise zum Familienzentrum gehen und seine Briefe hinlegen kann, die man nicht versteht, und erklärt bekommt, was zu tun ist, oder jemand die Antwortschreiben verfaßt. Oder Jugendliche, die zu Hause unglücklich sind und herausmöchten. Mitte der 80er Jahre waren 60 Prozent der Jugendlichen in Heimerziehung noch Selbstmelder. Heute gibt es so gut wie keine Selbstmelder mehr, weil die Stufen sehr hoch geworden und stark diskriminierend sind. Diskriminierungsfreie Wege zu Beratung und Unterstützung betreffen nicht nur Jugendliche, sondern auch Familien und alte Menschen, die sich schämen, ihre Armut einzugestehen. Ich habe noch nie einen Armen getroffen, der sich selber arm nennt, der nennt sich anders. Die Selbstbezeichnung "arm" gibt es gar nicht, hob Kunstreich hervor. Der bedingungslose Zugang zu Möglichkeiten der Beratung und Unterstützung darf nicht diskriminierend sein. Das scheine ihm der zentrale Punkt im Erleben von Armut und Veränderung zu sein. Der SoVD werde einen Antrag stellen, daß solche Zentren in allen Stadtteilen eingerichtet werden.


Große Runde im Gewerkschaftshaus - Foto: © 2019 by Schattenblick

Sozialpolitik auf Augenhöhe
Foto: © 2019 by Schattenblick

Sozial-ökologisches Bündnis auf der Tagesordnung

Ist der politische Wille vorhanden, sollte die Finanzierung möglich sein. Wie aber kann die Linksfraktion aus der Opposition heraus solche Vorschläge durchsetzen? Wenngleich viele Menschen in Hamburg von Armut betroffen seien, bleibe eine nennenswerte Solidaritätsbewegung aus, gab Schalthoff zu bedenken. Das habe immer etwas damit zu tun, wie überzeugend die Forderungen sind und wie viele Menschen mit diesen Ideen angesteckt werden können, in den Parteien wie auch draußen auf der Straße, erwiderte Boeddinghaus. So, wie sich SPD und Grüne in Hamburg aufstellen, sei jedoch derzeit keine Anschlußfähigkeit zu erkennen. Gesellschaftlich müßte sich mehr bewegen, und es wäre wünschenswert, daß Armutsbekämpfung stärker aufgegriffen und wieder ein Bündnis geschlossen wird, um gesellschaftlich Druck zu entfalten. Sudmann erinnerte an das Bündnis gegen Rotstiftpolitik, bei dem Gewerkschaften und verschiedene Sozialverbände mit im Boot waren. Bei einer Anhörung der Linksfraktion im Rathaus, zu der alle Trägerinnen eingeladen waren, wurde damals deutlich, wie viel überall weggekürzt worden war. Offenbar fehlte einfach auch die Kraft, weil immer mehr zu tun war, das habe dieses Bündnis geschwächt. Auch Boeddinghaus stellte im Bereich der Bildung, aber auch der Kinder- und Jugendhilfe eine große Erschöpfung fest. Bei Gesprächen in den Stadtteilen höre sie immer wieder, daß es unglaublich viel Engagement gibt, aber sie können einfach nicht mehr. Das sei Ausdruck ungeheurer Verdichtung und Ökonomisierung, auch die Schuldenbremse spiele dabei eine große Rolle.

Wie ein Diskussionsteilnehmer ausführte, stehen gesellschaftliche Entscheidungen an, die viel mit Umverteilung zu tun haben. Es sei zu erwarten, daß die Lebenshaltungskosten umgeschichtet werden und erwerbsarme Menschen noch größere Probleme bekommen, ihre alltäglichen Bedürfnisse zu befriedigen. Da die Klimaschutzpolitik ohne Bearbeitung der sozialen Frage nicht möglich sei, könnte dies dazu führen, daß auch der sozialen Problematik wieder größere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Diesen Gedanken bekräftigte Schneider, der auf Bundesebene einen neuen Aufbruch verortete. Das Bündnis "Umfairteilen" war 2013 erledigt, als Sigmar Gabriel mit den Wahlen alles einkassiert hat, was an SPD-Vorstellungen im Wahlkampf prägend war. Nach zwei Großen Koalitionen habe man keinen Ansprechpartner mehr in der Regierung, doch das ändere sich gerade. Wie ernst die SPD ihren Vorschlag zur Vermögenssteuer meint, sei dahingestellt. Doch in den Medien wird erstmals wieder mit Vehemenz über Umverteilung diskutiert. Die Nervosität auf neoliberaler Seite ist viel größer als 2013, weil das Thema heute angesichts zahlreicher Verschärfungen einen anderen Hintergrund hat. Wer hätte vor zwei Jahren gedacht, daß ein Bürgervolksbegehren zur Vergesellschaftung von Wohneigentum läuft oder ein Juso-Vorsitzender Verstaatlichung fordert? Auf dem Wohnungsmarkt spitzt sich die Situation zu, das macht vielen Menschen Angst. In Berlin sind 80 Prozent der Bevölkerung Mieter. Wenn Parteien auf den Mietendeckel losgehen, wissen sie genau, daß sie sich damit gegen 80 Prozent Wähler positioneren, für die Rot-Rot-Grün gerade eine attraktive Politik macht.

Auch der Kampf gegen den Klimawandel stimme ihn optimistisch. Es häuften sich Einladungen von den Grünen, vom Umweltministerium und anderen Interessierten, die alle die soziale Frage erörtern wollen, die mit der Klimakrise hochkommt. Wird CO2 angemessen in Preis genommen, bekommt das die Bevölkerung zu spüren. Wird diese Frage nicht gelöst, gibt es keine Politik gegen den Klimawandel. Die Sozialverbände gehen im November zusammen mit den Umweltverbänden auf die Straße, die eine sozial-ökologische Wende wollen. Er habe neulich mit Opel und VW zu einem Gespräch zusammengesessen. Würden in Deutschland in einigen Jahren nur noch Elektrofahrzeuge zugelassen, hätte die Hälfte der bisherigen Halter kein Auto mehr. Die Industrie ist nicht willens, Elektrofahrzeuge unter 30.000 Euro anzubieten, weil sie erklärt, andernfalls kein Geschäft mehr zu machen. Die Antwort kann nur im Ausbau eines ökologisch sinnvollen ÖPNV liegen. Da zieht sogar die Autoindustrie mit, weil sie ihre teueren Fahrzeuge absetzen will, während der Rest aus ihrer Sicht Bus fahren kann. Deswegen eröffnet sich jetzt die Chance zu sagen, wir wollen nicht genauso viele Autos mit Elektromotor, sondern intelligente Systeme eines möglichst kostenfreien ÖPNV. Das wird eine der zentralen Forderungen in dem sozial-ökologischen Bündnis sein, das sich gerade formiert. "Umfairteilen" wird wahrscheinlich ab Januar wieder auf der Bildfläche erscheinen, das Ganze wird kulturell von "Unteilbar" getragen. Deswegen sei er besseren Mutes als in den letzten acht Jahren, setzte Ulrich Schneider mit seinem Schlußwort ein richtungsweisendes Zeichen.


Fußnote:


[1] www.der-paritaetische.de/presse/paritaetisches-jahresgutachten-verband-konstatiert-wachsende-soziale-ungleichheit-und-fordert-neue-s/


3. September 2019


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