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INTERVIEW/125: Gabriele del Grande zur Flüchtlingsdramatik im Mittelmeer (SB)


Interview mit Gabriele del Grande am 24. Mai in Berlin



Schätzungen des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) zufolge starben im Mittelmeer während des rund sechsmonatigen Libyenkrieges im vergangenen Jahr mindestens 1500 Flüchtlinge. Damals sorgte die wiederholte Anlandung Hunderter halbverhungerter und -verdursteter Menschen auf der süditalienischen Insel Lampedusa weltweit für Schlagzeilen. Vor dem Hintergrund des Ausbaus des EU-Grenzregimes zu Nordafrika hat am 24. Mai der Schattenblick mit dem aus der Toskana stammenden Journalisten Gabriele del Grande, der seit einigen Jahren den kritischen und unter Menschenrechtlern angesehenen Blog Fortress Europe [1] betreibt, gesprochen. Anlaß war der Auftritt des 30jährigen del Grandes auf der Fachkonferenz "Zwischen(t)räume - Transkontinentale Migration nach den Umbrüchen in Nordafrika", die an diesem Tag in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin stattfand. [2] Dort nahm der italienische Journalist zusammen mit Ska Keller, Abgeordnete der Grünen im EU-Parlament, dem Norweger Urs Frühauf vom UNHCR und dem Moderator Mekonnen Mesghena von der Heinrich-Böll-Stiftung an der Podiumsdiskussion "Europäische Migrationspolitik - 'Bewegung in den Beziehungen?'" teil.

Gabriele del Grande im Porträt - Foto: © 2012 by Schattenblick

Gabriele Del Grande
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Woher kommt Ihr Einsatz für afrikanische Flüchtlinge und Ihr Interesse an ihrem Schicksal?

Gabriele del Grande (GdG): 2005 arbeitete ich für eine Presseagentur, die Redatore Sociale heißt und ein besonderes Augenmerk auf soziale Themen hat. Für sie habe ich meine ersten Artikel über die Bootsflüchtlinge geschrieben. Im Laufe dessen wurde mir zum ersten Mal klar, was für eine große Problematik dahintersteckt. Also habe ich mich immer weiter in die Materie vertieft. Es stellte sich heraus, daß es nirgendwo verläßliche Angaben über die Anzahl der afrikanischen Migranten gab, die beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, ums Leben kamen. Offenbar interessierte es auch niemanden. Also habe ich angefangen zu recherchieren. Gleichzeitig habe ich den Blog Fortress Europe eingerichtet, um die vorhandenen Informationen über Bootsunglücke oder Todesfälle bei den Flüchtlingen auf hoher See zu verbreiten. Mit der Zeit wurde der Blog immer bekannter. Auf diese Weise konnte ich dazu beitragen, in der Öffentlichkeit das Schicksal der Bootsflüchtlinge und den Umgang der italienischen und europäischen Behörden mit ihnen zu problematisieren.

SB: Neben Ihrem Blog haben Sie die Flüchtlingsproblematik auch in Buchform verarbeitet, nicht wahr?

GdG: Stimmt. Es handelt sich um zwei Reportagesammlungen, denn ich habe die letzten sechs Jahre damit verbracht, die Mittelmeeranrainerstaaten Nordafrikas und die osteuropäische Grenzregion der EU zu bereisen und kleine Geschichten über das, was dort stattfindet, zu schreiben. Die dahinterliegende Idee war, die Folgen der EU-Grenzpolitik an Einzelschicksalen der Betroffenen zu illustrieren. Bei meinen Reisen habe ich viele Flüchtlinge unter anderem in den Lagern in den EU-Grenzstaaten getroffen und mir ihre Geschichten erzählen lassen. In den Herkunftsländern habe ich sowohl Flüchtlinge, die aus der EU wieder abgeschoben worden waren, als auch die Angehörigen derjenigen, die im Mittelmeer ertrunken oder verdurstet waren, besucht.

SB: Lange bevor Sie mit ihrem Blog angefangen haben, war die Flüchtlingsproblematik in Italien ein großes Thema. Die Lega Nord hat doch seit Jahren Ängste vor einer Überfremdung geschürt und damit ein ausländerfeindliches Klientel bei den italienischen Wählern bedient.

GdG: In der Tat wird in Italien die Migration seit sehr langer Zeit problematisiert. Das fing schon in den sechziger, siebziger Jahren mit der inneren Migration an, als Menschen aus Süditalien auf der Suche nach Arbeit in den Norden abwanderten. Es herrschte derselbe rassistische Diskurs; es fehlte lediglich die Visa- und Reisepaßfrage. Jene Migrationswelle aus Afrika hat mitunter zur Entstehung der Lega Nord beigetragen, die 1989 gegründet wurde und seitdem den Kampf gegen "illegale" Einwanderer auf ihre Fahne geschrieben hat. Die Diskussion um ausländische Flüchtlinge ist in den neunziger Jahren infolge der Auswanderungswelle aus Albanien so richtig in Fahrt gekommen. Die Bilder von Frachtschiffen voller verarmter Albaner, die von ihrem Heimatland über die Adria nach Apulien hinübersetzten, gingen um die ganze Welt und haben in Italien einen Schock ausgelöst. Damals haben sich nicht nur die Lega Nord, sondern fast alle politischen Parteien Italiens als diejenigen zu verkaufen versucht, welche das Land vor den verarmten Horden vom Balkan retten würden.

SB: In den neunziger Jahren waren auch die Menschen, die sich und ihre Familien vor den Sezessionskriegen im damaligen Jugoslawien in Sicherheit zu bringen versuchten, für die Nachbarländer in der Europäischen Union ein großes Problem. Man könnte sogar die These vertreten, daß Deutschland und andere EU-Staaten mit den militärischen Interventionen der NATO in Bosnien-Herzegowina und Kosovo auch das Ziel verfolgten, eine Lösung des eigenen Flüchtlingsproblems zu erzwingen. Nachdem sie den westlichen Balkan mit Waffengewalt einigermaßen befriedet hatten, haben sie die Kriegsflüchtlinge wieder ausgewiesen bzw. abgeschoben. Es hat den Anschein, als wolle die EU mit FRONTEX und dem geplanten Grenzregime im Mittelmeer und vor der Atlantikküste Nordafrikas die Flüchtlingsproblematik erneut militärisch lösen. Stimmen Sie dem zu?

del Grande und Frühauf auf dem Podium - Foto: © 2012 by Schattenblick

Gabriele del Grande und Urs Frühauf
Foto: © 2012 by Schattenblick

GdG: Schon, wenngleich ich festhalten möchte, daß meiner Erfahrung nach die meisten Flüchtlinge nicht vor Krieg, sondern aus wirtschaftlicher Not fliehen. Die meisten Menschen haben den Eindruck, daß der Krieg der Hauptgrund für die Flucht ist, aber wenn man sich die Statistiken anschaut, stellt man fest, daß die meisten illegalen Einwanderer in der EU aus osteuropäischen und afrikanischen Ländern, aus dem Nahen Osten und aus Südamerika kommen, wo kein Krieg herrscht. Ich glaube, daß die Militarisierung der EU-Südgrenze und die Flüchtlingsproblematik in erster Linie ein Selbstzweck ist, denn eine wirkliche Abschottung ist gar nicht erwünscht. Dafür sind verschiedene EU-Mitgliedsstaaten wie Italien und Spanien wirtschaftlich zu sehr auf die Ausbeutung der Arbeitsmigranten - ob nun legal oder illegal sei dahingestellt - angewiesen. Allein Italien vergibt jährlich 200.000 Arbeitserlaubnisse an ausländische Migranten. Wir können auf die Arbeitskraft dieser Leute nicht mehr verzichten. Zwar hat die Nachfrage nach billigen Arbeitskräften seit dem Beginn der Finanzkrise in der Eurozone etwas nachgelassen, doch gibt es sie nach vor. Wir wollen diese Leute zwar haben, sie aber gleichzeitig einer starken Kontrolle unterwerfen, was ihre Reise- und Niederlassungsmöglichkeiten betrifft. Hier haben kapitalistische Verwertungsinteressen Vorrang. Die Menschen werden nicht als Menschen behandelt und ihre Würde wird nicht respektiert. Das Interesse an ihnen orientiert sich ausschließlich an ihrer Eignung zur wirtschaftlichen Ausbeutung. Die Folgen für die Menschen, die diesen Spießrutenlauf durchlaufen müssen, sind grauenhaft. Tausende sterben auf hoher See, Tausende werden verhaftet und in irgendwelche Lager gesteckt, wo sie Monate oder Jahre unter zum Teil erbärmlichen Bedingungen leben müssen.

SB: In Ihrem Beitrag bei der Podiumsdiskussion stimmte der Hinweis auf Migranten sehr traurig, die es in die EU geschafft haben, dort jahrelang illegal arbeiten und für eine Familienangelegenheit wie den Tod des Vaters oder die Hochzeit des Bruders nicht nach Hause fahren können, weil ihnen die nötigen Dokumente fehlen. Verließen sie die EU, würden sie wegen des fehlenden Visums wie auch wegen des früheren illegalen Aufenthaltes nicht wieder einreisen dürfen. Sie sind praktisch in der EU gefangen, können sie niemals verlassen und haben dadurch größte Probleme, den Kontakt zur Familie und den Freunden im Ausland aufrechtzuerhalten.

GdG: Das System ist wirklich perfide, besonders wenn man sich überlegt, wie billig es inzwischen geworden ist, innerhalb der EU und des Mittelmeerraums zu fliegen. Ein Flug von Mailand nach Tunis kostet um die 50 Euro. Der Preis ist etwa das Gleiche, wenn man zum Beispiel mit einer Passagiermaschine von Italien nach Rumänien reisen will. Liest man Romane über italienische Migranten, die im 19. und 20. Jahrhundert nach Amerika auswanderten, gibt es da immer eine Szene, wo sich die Hauptfigur von Freunden und der Familie verabschieden. Und in solchen Szenen sagen die Beteiligten zum Schluß immer Lebewohl und nicht auf Wiedersehen. Sie nahmen damals Abschied voneinander in der deprimierenden Annahme, daß sie sich niemals wiedersehen würden, denn die Strecken waren damals zu weit und die Kosten zu hoch.

SB: In Irland hielt man damals in der Nacht vor der Abreise eine Art Totenwache für diejenigen, die am nächsten Tag mit dem Schiff nach Amerika fahren sollten.

GdG: Heute ist es glücklicherweise nicht mehr so. Die Welt von heute ist globalisiert. Man kann sich überall auf der Welt viel leichter kontaktieren, sei es sich besuchen, per Telefon oder Skype miteinander sprechen oder E-Mails im Handumdrehen austauschen. Die früheren Grenzen verschwinden. Die heutige Jugend verbringt mehr Zeit in Facebook als im Cafe um die Ecke. Sie hat Freunde rund um die Welt. Im Internet erlebt man einen Globus ohne Staatsgrenzen. Viele Menschen in der sogenannten Dritten Welt haben Freunde und Verwandte in Europa, die sie gern besuchen würden, wenn es nicht so schwierig wäre, ein Visum zu bekommen. Es geht hier weniger um die Migration, als vielmehr um die Mobilität. Viele Nicht-Europäer, die gern i n der EU arbeiten würden, wollen dort nicht auf immer bleiben. Sie wollen sich in der EU nur solange aufhalten, bis sie genug Geld angespart haben, um ein eigenes Geschäft in ihrem Herkunftsland aufbauen zu können. Oder sie wollen einfach ein bißchen von der Welt sehen und etwas erleben, bevor sie Zuhause heiraten und eine Familie gründen.

SB: Sie meinen also, daß die Migration viel zu sehr zu einem Problem aufgebauscht worden ist und daß es den Menschen erlaubt sein sollte, ohne die üblichen bürokratischen Hürden von einem Land ins andere reisen zu dürfen?

Interviewszene am Stehtisch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Gabriele del Grande und SB-Redakteur
Foto: © 2012 by Schattenblick

GdG: Ganz genau. Ich halte das für die einzige vernünftige Lösung. Meines Erachtens ist es falsch, von der illegalen Migration zu sprechen. Die Illegalität wird erst durch die Einreisebestimmungen erzeugt. Man wird zum illegalen Migranten, nur weil man ohne die vorgeschriebenen Papiere unterwegs ist. Die Menschen überqueren das Mittelmeer ohne gültiges Visum für die Einreise in die EU nicht, weil sie nicht identifiziert werden wollen. Spricht man mit ihnen, erfährt man, daß praktisch alle von ihnen in ihren Herkunftsländern die eine oder andere Botschaft eines EU-Mitgliedsstaats besucht und dort versucht hatten, ein Visum zu bekommen, aber daß ihr Antrag negativ beschieden wurde. Nur die Angehörigen der wohlhabenden Eliten bekommen ein Visum, die einfachen Menschen dagegen nicht. Die Folge dieser Abschottungspolitik der EU ist, daß sich solche einfachen Menschen für die gefährliche Seeroute über das Mittelmeer entscheiden. Da wird von der Politik und den Medien in Europa inzwischen ein Riesengewese um die Bootsmigranten im Mittelmeer gemacht, als sei eine Völkerwanderung biblischen Ausmaßes im Gange. Doch führt man sich die Zahlen vor Augen, stellt man fest, daß es doch nicht so viele sind. Jährlich sind es im Schnitt 50.000 Menschen, was nichts ist im Vergleich zum offensichtlichen Bedarf der EU an Arbeitskräften. Allein Italien stellt jedes Jahr mehr als 100.000 Visen für Billigarbeiter aus Nordafrika aus.

Das Ganze ist eine einzige Farce. Das sieht man am schikanösen Umgang der italienischen Behörden mit den Arbeitskräften aus Nordafrika. Letztes Jahr gab die Regierung in Rom bekannt, daß man 170.000 zusätzliche Menschen für die Arbeit in der italienischen Landwirtschaft brauche und daß man sie aus dem Ausland zu holen plane. Derjenige, der im Ausland ein solches Arbeitsvisum ergattern will, muß zur italienischen Botschaft gehen und dort einen gültigen Vertrag mit einem Arbeitgeber in Italien vorlegen. So lautet die Theorie. In der Praxis funktioniert das nicht. Erstens stellt kein italienischer Unternehmer jemanden bei sich ein, den er nicht kennt. Wie sollen sich Arbeitgeber und -nehmer aber kennenlernen, wenn der eine in Italien und der andere irgendwo in Afrika sitzt? Die Realität sieht vielmehr so aus, daß viele Ausländer zunächst mit einem Touristenvisum in Italien einreisen oder illegal über das Mittelmeer oder Osteuropa einwandern. Entweder sofort oder nach Ablauf der Visumsfrist tauchen sie unter und arbeiten schwarz. Irgendwann gibt es für solche Leute eine Amnestie. Daraufhin reisen sie mit einem Vertrag von ihrem Arbeitgeber, den sie inzwischen in Italien kennengelernt haben, in der Tasche nach Hause, gehen dort zur italienischen Botschaft und bekommen dann das ersehnte Arbeitsvisum. Sie kehren dann nach Italien zurück und alle tun so, als wären sie das erste Mal dort.

Was die Frage der Mobilität betrifft, erinnere ich daran, daß die Personenfreizügigkeit zu den Grundprinzipien der EU - innerhalb der eigenen gemeinsamen Grenzen wohlgemerkt - gehört. Vor diesem Hintergrund halte ich eine Lockerung der Ein- und Ausreisebestimmungen für die einzig vertretbare Lösung des "Problems" des illegalen Migrantentums. Jeden Tag sind auf der Welt Millionen von Menschen zwischen verschiedenen Ländern und Kontinenten unterwegs - nicht um sich irgendwo fest niederzulassen, sondern aus geschäftlichen Gründen oder aus Reiselust. Sollte man die Personenfreizügigkeit nicht weltweit gelten lassen? Stellt man diese Frage zur Diskussion wird einem entgegnet, daß das nicht realisierbar wäre und ein Chaos mit sich brächte. Das ist doch Unsinn. Dieselbe EU, die FRONTEX usw. am Mittelmeer in Stellung bringt, macht bereits seit einigen Jahren gute Erfahrungen mit der Personenfreizügigkeit gegenüber den neuen Mitgliedsländern in Osteuropa.

Die Menschen aus Polen, der Tschechischen Republik, Ungarn, den baltischen Staaten, Bulgarien und Rumänien können inzwischen nach Westeuropa reisen und dort auch arbeiten. Gibt es ein Chaos? Nein. Und selbst aus Albanien, wo man früher dachte, man dürfte die Grenzen für die verarmten Horden von dort bloß nicht aufmachen, reisen die Menschen seit eineinhalb Jahren in andere Teile der EU ein, ohne, daß es zu irgendwelchen Problemen kommt. In Italien gibt es rund eine Millionen Rumänen. Diese Zahl hält sich seit Jahren stabil. Früher reisten sie illegal ein, seit dem Beitritt Rumäniens 2007 zum Schengenraum benötigen sie kein Visum mehr. Und trotzdem hat sich ihre Zahl kaum verändert. Die Situation hat sich insgesamt verbessert.

Die Menschen organisieren sich selbst. Früher mußte ein Rumäne 1000 Euro an einen Schlepper bezahlen, um nach Italien geschmuggelt zu werden, geriet dort in die Illegalität und wurde häufig obdachlos. Heute kann er für 50 Euro von Bukarest nach Mailand fliegen. Dort kommt er zunächst bei Freunden oder Verwandten unter. Findet er Arbeit, läßt er sich nieder und besorgt sich eine Wohnung - alles läuft legal. Er bezahlt Steuern, Sozialabgaben et cetera. Klappt es aber nicht, fliegt er nach einer Woche zurück nach Rumänien, ohne sich bei irgendwelchen Kriminellen verschuldet zu haben, und versucht es nach einigen Monaten wieder. Osteuropäische Studenten zum Beispiel arbeiten während der Sommersaison im Rom in Restaurants oder Cafés und kehren im Herbst an die Universität in ihren Heimatländern zurück. Das ist ein Beispiel der heutigen Welt. Die Menschen verlassen ihre Heimatorte, gehen in die Welt hinaus, lassen sich irgendwo für eine Weile nieder und dann bleiben sie oder kehren nach einer Weile nach Hause zurück.

Nehmen wir allein die Italiener. Vier Millionen von ihnen leben heute im Ausland. Sie stellen nach wie vor eine der größten Einwanderungsgruppen in Deutschland. Früher war Italien ein klassisches Auswanderungsland. Unzählige Italiener haben das Leben verloren beim Versuch, legal oder illegal auszuwandern. Was heute das Mittelmeer für die Afrikaner ist, waren früher die Alpen für die Italiener. Es gibt eine Stelle in den Bergen, an der Grenze zwischen Italien und Frankreich hinter Ventimiglia und Menton, die man den Passa dela Morte nennt. Dieser Paß des Todes befindet sich in einem Wald. Ein schmaler Gang führt an einem steilen und tiefen Abhang vorbei. Weil er so gefährlich ist und die Gegend insgesamt so unwegsam, hat man die Grenze dort früher nicht kontrolliert. Aus diesem Grund haben viele Italiener die Route genommen, um illegal nach Frankreich einzureisen. Nicht wenige von ihnen, besonders im Winter, wenn der Boden vereist war, haben den Versuch mit dem Leben bezahlt. Im Grunde wiederholt sich die Geschichte nun im Mittelmeer - nur auf andere Weise.

del Grande im Porträt - Foto: © 2012 by Schattenblick

Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Haben Sie, seit Sie Ihren Blog betreiben, feststellen können, daß inzwischen mehr Leute die Personenfreizügigkeit und die Lockerung oder Abschaffung der Grenzkontrollen als Lösung sehen, oder gewinnt die Angst vor Überfremdung weiterhin an Boden?

GdG: Das ist schwer zu sagen. Als einfacher Blogger erreiche ich nicht soviele Menschen wie die großen Fernsehsender oder die Mainstream-Presse. Dennoch bin ich mit der Entwicklung zufrieden. Am Anfang, vor sieben Jahren, waren es lediglich meine Freunde und ich, die den Blog lasen. Letztes Jahr hatten wir fünfhunderttausend Besucher, was gar nicht schlecht für einen Blog ist, der sich auf Fragen der Grenzkontrollen spezialisiert hat. Die Artikel werden inzwischen in 21 Sprachen übersetzt, wodurch wir eine Leserschaft rund um die Welt gewonnen haben. Die beiden Bücher von mir sind zudem ins deutsche und spanische übersetzt worden. In den letzten sechs Jahren habe ich in Italien auch 300 Vorträge mit anschließender Diskussion abgehalten, was eine gewisse öffentliche Resonanz erzeugt haben dürfte. An den Vorträgen nahmen, über den Daumen gepeilt, vielleicht 15.000 Menschen teil, die wiederum darüber mit ihren Freunden und Bekannten gesprochen haben dürften.

Natürlich ist das, gemessen an der Gesamtbevölkerung, eine verschwindend kleine Minderheit. Aber ich gehe auch nicht davon aus, daß wir mit Fortress Europe die Mehrheit erreichen. Ich sehe das, was wir machen, als eine Art Widerstand gegen unsinnige, ungerechte und menschenfeindliche Gesetze und ihre Anwendung. Ich bezeichne es als einen Widerstand des Vorstellungsvermögens. Wir erzählen die Geschichten der Leidtragenden dieses Grenzregimes. Alle reden von Migration und fahren mit Zahlen und Statistiken auf. Wir wollen dagegen den Blick auf die Einzelschicksale richten, um so im Publikum oder in der Öffentlichkeit den einzelnen bei seiner Menschlichkeit zu packen. Unabhängig davon, ob es Aktivisten oder Rassisten sind, häufig hat man in der Diskussion um die Flüchtlingsproblematik in Italien das Gefühl, daß völlig vergessen worden ist, daß man über Menschen wie Sie und mich spricht. Daran sind die großen Medien schuld. Sie haben die rassistischen Tiraden mancher Politiker bei uns einfach wiedergegeben, ohne deren Angaben einer kritischen Analyse zu unterziehen.

SB: Glauben Sie, daß die Krise um Lampedusa im vergangenen Sommer und die Berichterstattung über die Bootsflüchtlinge, welche die NATO während des Libyenkrieges im Mittelmeer verdursten ließ, in der italienischen Öffentlichkeit das Bewußtsein für die Menschlichkeit der afrikanischen Migranten erhöht hat?

GdG: Nein. Ich möchte nicht zynisch klingen, sondern lediglich realistisch bleiben. International waren die Vorgänge auf Lampedusa zumindest für einige Tage ein großes Medienthema. In Italien dagegen wird laufend über die Migrationsproblematik berichtet, so daß viele Menschen inzwischen abgestumpft sind. Was mit den Bootsflüchtlingen passiert, interessiert sie nicht sonderlich, solange sie nicht bei ihnen in der Nachbarschaft untergebracht werden. Ertrinkende Flüchtlinge im Mittelmeer gehören inzwischen zur italienischen Wirklichkeit wie das Kolosseum in Rom oder der Pizzaladen an der Ecke. Es nimmt fast niemand mehr davon Notiz. Jeden Tag, wenn man die Zeitung aufschlägt, liest man Schlagzeilen von Todesfällen in den Gewässern vor Lampedusa. Da blättert man einfach weiter und bestellt noch einen Kaffee. Leider sieht die Realität so aus.

Die Journalisten und ihre Zeitungen haben in den letzten Jahren ihre Arbeit schlecht gemacht. Sie haben diese Vorfälle einfach als Tragödien präsentiert, statt ihrer Ursache auf den Grund zu gehen. Die Opfer werden lediglich als Zahlen, als Nicht-Menschen, die kein Gesicht, keinen Namen und keine Geschichte haben, dargestellt. Wer soll da Mitleid empfinden oder nach Veränderung rufen? Liest man die Artikel, findet man nur Eckdaten vor, gefolgt von Stellungnahmen der Politiker von links und von rechts. Man muß nur die Havarie des Kreuzfahrtschiffs Costa Concordia im letzten Sommer vor der Küste Italiens damit vergleichen. Die Berichterstattung darüber hat einen Monat lang die Titelseiten aller italienischen Zeitungen beherrscht. Und warum? Weil die Betroffenen und die Verstorbenen Italiener und andere wohlhabende Europäer waren. Offenbar empfinden die meisten Menschen bei uns das Sterben schwarzer Afrikaner im Mittelmeer irgendwie als normal, beiläufig, nicht kommentarwürdig, das Ertrinken irgendwelcher weißer Kreuzfahrtpassagiere dagegen als ungerechten, zum Nachdenken anregenden Schicksalsschlag.

Daran sind die Medien schuld. Sie waren es auch, die die Flüchtlinge in der öffentlichen Wahrnehmung zu einer Bedrohung hochstilisiert haben. Die Einwanderer sind in Wirklichkeit für niemanden eine Bedrohung. Niemand hat in Wirklichkeit Angst vor dem einzelnen Afrikaner oder Araber. Man kommt mit ihnen aus. Man kann von ihnen viel lernen, zum Beispiel eine andere Sichtweise der Dinge erfahren. In der Masse werden sie jedoch als ominöse Gefahr wahrgenommen. Die Idee, man dürfe sich nicht als weißer Italiener auf die Straße begeben aus Angst, vom Schwarzafrikaner überfallen oder ermordet zu werden, ist Quatsch. Natürlich gibt es unter den Flüchtlingen auch Verbrecher, aber auch nicht mehr oder weniger als bei den Italienern im allgemeinen. Seit einiger Zeit ist die "illegale" Einwanderung in Italien kein Thema mehr. Und warum? Weil die Medien nicht mehr darüber berichten. Und wieso tun sie das nicht? Weil die Lega Nord in einer tiefen Überlebenskrise steckt und ihre Führung hauptsächlich damit befaßt ist, Korruptionsvorwürfe abzuwehren, und deshalb keine Zeit für die Hetze gegen ausländische Migranten hat. Einige Lega-Nord-Politiker sind bereits verhaftet worden, gegen andere wird ermittelt. Die Einwanderer haben endlich ihre Ruhe. Sie kommen zu uns, finden Arbeit und sind damit willkommen - alles kein Problem. So sollte es sein.

SB: Gabriele del Grande, danke sehr für dieses Gespräch.

Fußnoten:

1. http://fortresseurope.blogspot.com

2. BERICHT/111: EU-Grenzhüter fassen "illegale" Migranten ins Visier (SB) http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0111.html

Plakat der Konferenz 'Zwischen(t)räume' - Foto: © 2012 by Schattenblick

Foto: © 2012 by Schattenblick

26. Juni 2012