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INTERVIEW/147: Kapitalismus final - Monopole brechen? (SB)


"Demokratische Reformen erfordern Eingriffe in die Macht des Monopolkapitals"

Interview mit Beate Landefeld nach dem Symposium am 17. November 2012



Höhepunkt der Hamburger Veranstaltungsreihe "Kapitalismus in der Krise" war ein Symposium mit Beate Landefeld, Lucas Zeise, Andreas Wehr, Dr. Werner Seppmann und Dr. Arnold Schölzel, das am 17. November im Georg-Asmussen-Haus in Hamburg-St. Georg stattfand. Beate Landefeld ist langjährige Aktivistin in der DKP und arbeitet in der Marxistischen Abendschule (MASCH) Essen mit. Sie schreibt unter anderem für die Marxistischen Blätter und die junge Welt. In ihren Veröffentlichungen befaßt sie sich insbesondere mit der Transnationalisierung der Bourgeoisie, der Imperialismustheorie und den heutigen Krisenauswirkungen. Beate Landefeld sprach auf dem Symposium zum Thema "Strukturveränderungen in der Monopolbourgeoisie". Im Anschluß an die Tagung beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen.

Mit Mikrofon in der Hand - Foto: © 2012 by Schattenblick

Beate Landefeld
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Warum ist das Konzept des staatsmonopolistischen Kapitalismus Ihres Erachtens nach wie vor wesentlich für die Analyse der gegenwärtigen Phase kapitalistischer Entwicklung?

Beate Landefeld: Zur neoliberalen Ideologie gehört das Postulat: "privat vor Staat". Danach ist der Staat verschwenderisch und sind privatkapitalistische Eigentümer grundsätzlich besser in der Lage, Geld zum Wohle der Gesellschaft einzusetzen. Diese Mär diente als Kulisse für die gigantische Umverteilung von Unten nach Oben, die in den letzten 30 Jahren durchgesetzt wurde. Ziel war, die Wettbewerbsfähigkeit der Konzerne auf dem Weltmarkt zu steigern, indem die Zugeständnisse und Klassenkompromisse, die in der Zeit 1945-1975 erkämpft wurden, aufgekündigt werden. Der neoliberale Umbau wäre ohne die aktive Rolle des Staates undenkbar gewesen. Der Staat half Konzernen und Bourgeoisie, die Anpassung an die verstärkte Weltmarktorientierung, die "Globalisierung", zu meistern. Die deutsche Bourgeoisie sieht sich als "Globalisierungsgewinnerin". In der aktuellen Krise setzt der Staat große Summen ein, um eine Entwertung der angehäuften Vermögen abzuwenden oder zumindest abzufedern und die Lasten der Krise auf die Gesellschaft abzuwälzen. Real haben wir es also im Neoliberalismus keinesfalls mit einem "Rückzug des Staates" zu tun, sondern mit einem Richtungswechsel in der staatlichen Regulierung.

Die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus befaßt sich nicht lediglich mit einer bestimmten Politikvariante, sondern bezieht sich auf die Struktur des heutigen Kapitalismus. Ich denke, was Jörg Huffschmid hierzu 1995 formuliert hat, trifft weiterhin zu: "Die Regulierung Ökonomischer Prozesse ist durch eine stark gewachsene Rolle des Staates gekennzeichnet: Ein großer Teil des Staatsapparates befaßt sich mit ökonomischer Steuerung." Die Staatsquote liegt bei einem Vielfachen des Wertes vor 80 Jahren. Dieser steigende Staatsinterventionismus hängt mit der Entwicklung der Produktivkräfte und gesellschaftlichen Arbeitsteilung, der damit verbundenen, zunehmenden Komplexität und Vergesellschaftung des ökonomischen Prozesses zusammen - "ohne umfangreiche Regulierung kann wirtschaftliche Entwicklung nicht funktionieren". Und das "gilt auch unter den Bedingungen der allgemeinen Deregulierungsrhetorik".[1]

SB: Wie würden Sie das Verhältnis von Staat und Kapital in diesem Zusammenhang grundsätzlich definieren? Zwingen führende Sektoren des Kapitals dem Staat ihre Interessen auf oder müßte man dem Staat als "ideellem Gesamtkapitalisten" eine übergeordnete Funktion zuweisen?

BL: Auch unter monopolkapitalistischen Bedingungen bleibt die Funktion des Staates meines Erachtens komplex, denn sonst kann er nicht funktionieren. Der bürgerliche Staat muss zumindest vier Aspekten Rechnung tragen: Erstens, er ist ideeller Gesamtkapitalist. Dabei wird er die Interessen der Großkonzerne - schon allein wegen deren überragender volkswirtschaftlicher Bedeutung - besonders im Auge haben und, wenn man so will, als "Gesamtmonopolist" agieren. Doch muss er dem Monopolkapital auch eine loyale politische Massenbasis erhalten, das heißt zum Beispiel, dass er auch Mittelstandspolitik machen muß. Zweitens, der Staat ist Instrument der Klassenherrschaft. Drittens, ist er Verdichtung von Kräfteverhältnissen. In diesen drei Aspekten spiegeln sich widersprüchliche Interessen: Die Kapitalisten haben konkurrierende Interessen und die Klassenherrschaft der Bourgeoisie kann nur gesichert werden, wenn auch den Kräfteverhältnissen im Klassenkampf Rechnung getragen und nach dem Prinzip "Teile und herrsche!" ein genügender Teil der Beherrschten in die Interessen des Kapitals eingebunden wird. Aus den Widersprüchen ergibt sich viertens eine relative Selbständigkeit des Staates. Letztere schließt nicht aus, dass der Staat ab und zu als direktes Instrument ganz bestimmter Monopole agiert, aber im Schnitt wird er das übergeordnete Gesamtinteresse der herrschenden Klasse verfolgen.

SB: Die These, die Herausbildung transnationaler Konzerne habe zu einer Transnationalisierung des Eigentums geführt, läßt sich offenbar nicht belegen. Wie ließe sich theoretisch begründen und empirisch nachweisen, welche Entwicklung sich demgegenüber vollzieht?

BL: Mit dem Übergang zum Monopolkapitalismus setzte sich als vorherrschende Unternehmensform die Aktiengesellschaft durch, weil das für Großbetriebe nötige Kapitalminimum die Kapitalmobilisierungsfähigkeiten des Einzelkapitalisten überstieg. Marx sah in der Aktiengesellschaft "die Aufhebung des Kapitals als Privateigentum innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst". Damit gehe einher, so Marx, die "Verwandlung des wirklich fungierenden Kapitalisten in einen bloßen Dirigenten, Verwalter fremden Kapitals", und der Kapitaleigentümer in "bloße Geldkapitalisten", die den "Profit nur noch in der Form des Zinses" beziehen.[2]

Wir haben es von da an mit einer Trennung von Eigentum und Verfügung zu tun, die - je nach Aktionärsstruktur - unterschiedliche Typen von Unternehmenskontrolle hervorbringt. Selbst wenn also die Kapitalmobilisierung großer Unternehmen über die internationalen Kapitalmärkte erfolgt, was bei Großunternehmen die Regel ist, folgt daraus allein noch keine internationale Unternehmenskontrolle. Hiervon kann nur in solchen Fällen die Rede sein, in denen ausländische Großaktionäre oder ausländische Stimmrechtehalter auf durchschnittlich besuchten Aktionärshauptversammlungen über eine Mehrheit verfügen und somit über die Macht, das Management ein- oder abzusetzen. Ein solcher Fall liegt aktuell bei der Hochtief AG mit ihrem spanischen Mehrheitseigner ACS vor.

Die Eigentümer kommen aus sehr wenigen Staaten. Von den 500 größten Konzernen der Welt nach der Liste des Magazins Fortune kamen 2012 Dreiviertel aus nur sieben Ländern, nämlich, in abnehmender Größenordnung aus den USA, Japan, China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und der Schweiz. Sieht man von dem aufgestiegenen Schwellenland China ab, so handelt es sich nach wie vor um die gleichen 5-6 Mächte, die die Welt beherrschen, von denen Lenin in seiner Imperialismustheorie während des ersten Weltkriegs gesprochen hat. Die geografischen Zentren der Kapitalakkumulation entsprechen der Verteilung der Millionäre und Milliardäre auf der Welt, die als Geldkapitalisten profitieren, unabhängig davon, in welchem Maße sie in ihren Konzernen Kontrollfunktionen als fungierende Kapitalisten ausüben oder sich dabei vertreten lassen.

Die steinreichen Clans, ihre Manager und Vermögensverwalter sind in der Regel über Stiftungen, Unternehmerverbände, bürgerliche Parteien, formelle und informelle Netze, mit ihren Staaten und deren Regierungen eng verflochten. Auch dominieren sie über die bürgerlichen Medienmonopole die öffentliche Meinung ihrer Länder. Bei uns gehören viele Reiche und Wirtschaftskader der CDU/CSU an, allein im Wirtschaftsrat der CDU sind tausende Unternehmer und Spitzenmanager organisiert.

Öffentlich wurde die Gästeliste der im Kanzleramt ausgerichteten Geburtstagsfeier für Josef Ackermann, auf der unter den etwa 30 Gästen neben der Milliardärin Schaeffler auch Frank Schirrmacher von der FAZ zu finden ist. Dass Milliardäre und Milliardärinnen sich an ihrem Geburtstag mit Frau Merkel fotografieren lassen, gilt als völlig normal. Auf Peer Steinbrücks veröffentlichter Honorarliste findet sich eine Vortragsveranstaltung des Private Wealth Managements der Deutschen Bank aus Anlaß der Saisoneröffnung der Berliner Philharmoniker. Bei all diesen Formen der "Zugangspflege" geht es sicher nicht nur um das Schöne, sondern auch um das Nützliche.

SB: Welche vorherrschenden Grundmuster und Tendenzen lassen sich im Geflecht des Produktions-, Handels- und Finanzkapitals in Deutschland aufzeigen, wenn man die Frage nach Eigentum und Kontrolle stellt?

BL: Zunächst einmal ist in der Bundesrepublik eine klare Strukturdifferenzierung des Gesamtkapitals gegeben: Es gibt insgesamt etwa 3 Millionen steuerpflichtige Unternehmen. Davon sind 99,7% kleine und mittlere Unternehmen, die etwa 38% aller Umsätze erbringen. Nur 0,3% sind Großunternehmen, die aber 62% der Umsätze erbringen. Im Schnitt kommen so auf 1000 Unternehmen 3, die 2/3 der Umsätze dieser 1000 erwirtschaften. Diese 0,3% kann man als Konzerne betrachten, die Monopole sind oder deren Konkurrenz sie "dicht an das Monopol" herangeführt hat.[3]

Nach der marxistischen Definition sind Monopole Produkt der Erhöhung des Vergesellschaftungsgrads der Produktion, die notwendig zur Beherrschung bestimmter Zusammenhänge des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses führt und dadurch die Aneignung von Monopolprofit ermöglicht. Hauptformen sind heute nicht mehr Kartelle oder Trusts, sondern Konzerne und Kooperationen zwischen ihnen. Konzerne sind rechtlich selbständige Unternehmen unter einheitlicher Finanzkontrolle, ausgeübt über das Beteiligungssystem durch Großaktionäre oder andere Arten von Stimmrechtehaltern. Die finanzkapitalistischen Verflechtungen zwischen den größten Konzernen zeigen sich u.a. darin, dass 2008 von den 100 größten deutschen Konzernen in Handel und Gewerbe 32 Töchter inländischer Konzerne aus der gleichen Liste der 100 und 14 Töchter ausländischer Konzerne waren.

Die Monopolbourgeoisie der Bundesrepublik setzt sich nach 1945 aus drei großen Gruppen zusammen: Kapitalistenclans ("Unternehmerdynastien"), privaten Spitzenmanagern und staatlichen Spitzenmanagern. Der marxistische Ökonom Heinz Jung hat dabei die privaten und staatlichen Spitzenmanager als "kooptierte und aggregierte Teile" der Monopolbourgeoisie bezeichnet, die "erst in dem Maße einen festen (und erblichen) Platz in ihr erhalten, wie sie in der Lage sind, kapitalistisches Eigentum zu bilden und kraft Eigentumstiteln Verfügung über das Mehrprodukt zu erlangen".[4]

Die Zusammensetzung der deutschen Bourgeoisie aus den genannten drei Gruppen hat es in der gesamten Geschichte der BRD gegeben. Es gab jedoch Verschiebungen zwischen den Gruppen, die es erlauben, von 2 Phasen zu sprechen:

In der Phase 1945-1975, der Zeit der Systemkonkurrenz oder des Fordismus wächst die Rolle des Staates bei der Regulierung ökonomischer Prozesse. Der staatsmonopolistische Kapitalismus setzt sich auf breiter Front durch. Bei den Eigentümern und fungierenden Kapitalisten der 100 größten Konzerne wächst bis in die 80er Jahre der Einfluß staatlicher und privater Manager, während die Unternehmerdynastien vor allem in und mit der Schwerindustrie auszusterben scheinen. Erkennbar ist eine Verschiebung zu "mehr Staat und weniger privat".

In Phase 2, den 30 Jahren Neoliberalismus gab es dagegen eine Verschiebung zu "mehr privat und weniger Staat". Der Umsatzanteil clankontrollierter Unternehmen bei den 100 größten Konzernen verdoppelte sich bis 2008 im Vergleich zu 1985. Er ist sogar gegenüber 1958 stark gestiegen. Dagegen sank der Staatsanteil etwa auf das Niveau von 1958. Der Umsatzanteil der Konzerne in Streubesitz und daher unter Managerkontrolle unterlag nur kleinen Schwankungen. Der Anteil ausländisch kontrollierter Unternehmen blieb in beiden Phasen nahezu konstant bei etwa 20%.

Mit dem Wiedererstarken der großer Privateigentümer in den Konzernen korreliert die Explosion des Reichtums an der Spitze der Gesellschaft: Mindestens ein Prozent der Deutschen, mehr als 800000, sind heute Millionäre, davon ca. 125 Milliardäre. Zu den Vermögensquellen schreibt der Soziologe Christian Rickens: "Lediglich knapp 8% nannten abhängige Erwerbstätigkeit als wichtigste Quelle ihres Reichtums. Der angestellte Topmanager, Chefarzt oder Investmentbanker bildet also unter Deutschlands Millionären eher die Ausnahme." Laut Rickens haben von den 100 reichsten Deutschen, die das manager magazin jährlich auflistet, 34 ihren Reichtum durch die Gründung eines eigenen Unternehmens verdient. "Die übrigen zwei Drittel sind vor allem deshalb so reich, weil sie ein Familienunternehmen oder Anteile daran geerbt haben."[5]

Beispiele für die Erben sind Porsche und Piech, Quandt, Oetker oder Henkel, für die Aufsteiger: die SAP-Gründer, die ALDI-Brüder oder Götz Werner. Eigenen Recherchen zufolge bezogen 82 der 122 Milliardäre des Jahres 2008 ihr Vermögen als Großaktionäre oder Mehrheitseigner mindestens eines der 500 größten Konzerne der BRD, 15 weitere aus kleineren Konzernen, 8 aus Großeigentum an ausländischen Konzernen, 7 aus Abfindungen oder Unternehmensverkäufen mit anschließender Finanzanlage.[6]

Was die Unternehmenskontrolle anbelangt: Die privaten Spitzenmanager von Aktiengesellschaften in Streubesitz, wie Daimler, Siemens, Deutsche Bank, Allianz kontrollieren sich faktisch gegenseitig. Sind mehrheitsfähige Großaktionäre vorhanden, wie etwa bei VW, BMW, Merck, oder Beiersdorf, müssen die Spitzenmanager sich die Macht mit den Vertretern der Milliardärsclans teilen. Die vom Staat beauftragten Manager sind zur Zeit vor allem bei Bahn und Post, bei Staatsbanken wie der KfW, Landesbanken und Sparkassen, bei Regulierungsinstitutionen wie Bundesbank, BaFin, dem nationalen Rettungsschirm Soffin, bei Wettbewerbsbehörden und als Abgesandte der Bundesregierung in Gremien der internationalen Regulierung, wie EZB, EU-Kommission, EMS, IWF, BIZ, etc., zu finden.

Anhänger der These vom "Finanzmarktkapitalismus" sprechen gern von einer Machtverschiebung zugunsten von Finanzinvestoren, wobei meist große Pensionsfonds aus den USA als Beispiele genannt werden. Auch in der BRD vervielfachte sich die Zahl der Publikums- und Spezialfonds von Banken und Versicherungen sowie diverser Investmentgesellschaften. Die Aktienpakete der Publikumsfonds liegen meist unterhalb der Meldeschwellen. Der größte US-Investor Blackrock ist an vielen deutschen Firmen mit meldepflichtigen Anteilen um die 5% vertreten. Kontrollmacht ergibt sich allein daraus nicht.

Dort, wo es kontrollierende Großaktionäre gibt, sind das in der Regel Mutterkonzerne oder die Beteiligungsgesellschaften, Stiftungen und Erbengemeinschaften von Clans. In managerkontrollierten Konzernen sind arabische Staatsfonds und russische Oligarchen als "Ankeraktionäre" gern gesehen, die Schutz gegen feindliche Übernahmen bieten, aber nur, solange sie nicht selbst die Kontrolle anstreben.

SB: Stellt der Finanzsektor eine wesentliche Funktionsbedingung und Weiterentwicklung des heutigen Kapitalismus dar?

BL: Dazu muß erneut die Frage der Vergesellschaftung angesprochen werden. Marx sah - wie oben schon zitiert - in den Aktiengesellschaften eine systemimmanente Lösung des kapitalistischen Grundwiderspruchs zwischen Vergesellschaftung der Produktion und Privateigentum. Er beschrieb, wie die für die Vergesellschaftung nötige Trennung von Eigentum und Verfügung zur Herausbildung einer neuen "Finanzaristokratie" aus "Projektenmachern, Gründern und bloß nominellen Direktoren" führte, was "ein ganzes System des Schwindels und Betrugs mit Bezug auf Gründungen, Aktienausgabe und Aktienhandel" einschließt.[7]

Als sich um 1900 das Monopolkapital als neue Stufe der Vergesellschaftung durchgesetzt hatte, entwickelte Hilferding seine Theorie vom Finanzkapital und Lenin schrieb, bezogen auf die Struktur der herrschenden Klasse: "Zum typischen 'Herrscher' der Welt wurde nunmehr das Finanzkapital, das besonders beweglich und elastisch, national wie international besonders verflochten ist, das besonders unpersönlich und von der direkten Produktion losgelöst ist, das sich besonders leicht konzentriert und bereits stark konzentriert hat, so daß buchstäblich einige hundert Milliardäre und Millionäre die Geschicke der ganzen Welt in ihren Händen halten."[8]

Für den marxistischen Ökonomen Peter Hess ist das Finanzkapital "die Form, in der sich die gesellschaftliche Macht des Kapitals gegen das individuelle Kapital durchsetzt", ohne die die Vergesellschaftung der Produktion nach heutigen Maßstäben unter Bedingungen des Privateigentums und der Profitrealisierung nicht mehr möglich wäre. In diesem Sinn sprechen er und andere Theoretiker des staatsmonopolistischen Kapitalismus vom Finanzsektor als einer Funktionsbedingung des heutigen Kapitalismus. Hess verweist zudem auf das unabdingbar gewordene Auftreten des Staates als "Kapitalmobilisator und -verwender", eben als "Finanzier", der aber im Gegensatz zu den privaten Kapitaleigentümern nicht dem Zwang unterliege, selbst Kapital zu verwerten.[9]

Ein weiterer Aspekt ist die Frage der Überakkumulation. Schon im "Kapital" von Marx und Engels ist von "chronischer Überproduktion" die Rede. Rosa Luxemburg, Hilferding, Bucharin und Lenin leiten aus der chronischen Überakkumulation, die in zyklischen Krisen nicht mehr überwunden wird, die wachsende Rolle des Kapitalexports im Vergleich zum Warenexport, die Internationalisierung der Produktion und den Imperialismus ab. Jörg Huffschmid ging davon aus, dass der relative Kapitalüberschuss zu den Grunderscheinungen des monopolkapitalistischen Stadiums gehört.[10] Konnte dieses Problem durch die Entwertungen in zwei Weltkriegen und der Weltwirtschaftskrise 1929-38, später durch Aufrüstung und Wiederaufbau überdeckt werden, so war es spätestens ab der Krise 1974/75 wieder manifest und ist eine der Quellen der heutigen Aufblähung des Finanzsektors.

Schließlich gelang den Bourgeoisien der kapitalistischen Hauptmächte in der neoliberalen Phase mit Hilfe der "Entfesselung" der Finanzmärkte eine umfassende Restrukturierung des Kapitalismus. Neben der staatlichen Umverteilung war es die Disziplinierung der Produktion durch den Druck der Finanzmärkte, womit die Profitbedingungen zu Lasten der Gesellschaft und besonders der Lohnabhängigen verbessert werden konnten. Eine der treibenden Kräfte dieses Klassenkampfs von oben ist die deutsche Bourgeoisie, die zur Zeit dabei ist, dem Rest der Eurozone eine entsprechende "nachholende Entwicklung" zu verordnen.

SB: Inwieweit könnte man in diesem Zusammenhang von einer Sonderstellung oder dominanten Eigenständigkeit eines Finanzkapitals sprechen?

BL: Unter Finanzkapital kann man Verschiedenes verstehen. In der Alltagssprache wird mit Finanzkapital meist das Bank- und Versicherungskapital im Unterschied zum Industriekapital assoziiert. Mit Hilferdings Werk "Das Finanzkapital" und durch Lenins Verarbeitung der Thesen Hilferdings in seiner Imperialismustheorie kam zusätzlich die Interpretation von Finanzkapital als "Verschmelzung von Bank- und Industriekapital" in Gebrauch. Hilferding bezeichnet das Finanzkapital als "Kapital in der Verfügung der Banken und in der Verwendung der Industriellen".[11]

Lenin definiert modernes Finanzkapital als: "Konzentration der Produktion, daraus erwachsende Monopole, Verschmelzen oder Verwachsen der Banken mit der Industrie - das ist die Entstehungsgeschichte des Finanzkapitals und der Inhalt dieses Begriffs."[12] Von Hilferdings These einer Dominanz des Bankkapitals über das Industriekapital grenzt Lenin sich ab. In seiner Monopoltheorie bleibt das Finanzkapital trotz seiner Loslösung von produktiven Funktionen an die Monopolisierung aus dem Akkumulationsprozeß gebunden.

Der marxistische Ökonom Heinz Jung hat einmal ziemlich genau beschrieben, wie man sich die Verschmelzung oder das Verwachsen von Bank- und Industriekapital vorzustellen hat. Über das Finanzkapital führt er aus: "Es nistet auf der Ebene des Geldkapitals und des aus den Eigentumstiteln entstehenden fiktiven Kapitals. Es verkörpert die aus den Eigentumstiteln erwachsenden Ansprüche an den Mehrwert. Es verflicht sich mit den Eigentumsverhältnissen des fungierenden Kapitals und errichtet seine Kontrollstationen an den Knotenpunkten des Wirtschaftsprozesses."[13]

Der Begriff der Finanzoligarchie, der heute wieder im Gebrauch ist, meint die führende Gruppe des Finanzkapitals, die heute gern als die "Entscheider" bezeichnet wird. Das ist der Personenkreis, den Kurt Fiebig, Aktionär bei vielen DAX-Konzernen, treffend wie folgt umschrieben hat: "In jeder Hauptversammlung trifft man auf die gleichen Gesichter, von denen man weiß, dass sie sich gegenseitig zu Amt und Würden verhelfen."

Hauptformen des Monopols sind heute die transnational agierenden Konzerne und die Kooperationen und Joint Ventures zwischen ihnen. Konzerne sind rechtlich selbständige Unternehmen unter einheitlicher Finanzkontrolle, ausgeübt über das Beteiligungssystem durch Großaktionäre oder andere Arten von Stimmrechtehaltern. Die finanzkapitalistischen Verflechtungen zwischen den größten Konzernen zeigen sich u.a. darin, dass 2008 von den 100 größten Konzernen der BRD 32 Töchter inländischer Konzerne auf der gleichen Liste der 100 und 14 Töchter ausländischer Konzerne waren.

Die Verflechtungen zwischen Industrie- und Finanzkonzernen basieren auf wechselseitiger Abhängigkeit sowie monopolistischer Konkurrenz und Kooperation: Die international tätigen Konzerne steigern ihre Profite u.a. durch Nutzung von Wechselkursschwankungen, Unterschieden in Steuersystemen und Löhnen, durch Gewinntransfers mittels Intra-Firmenpreisen, durch Devisen- und Rohstoffspekulation. Autokonzerne bieten Kredite, Versicherungen und andere Finanzdienstleistungen an. Dazu braucht jeder Konzern seinen eigenen Finanzüberbau und zugleich die Kooperation mit den ebenfalls international tätigen Großbanken.

Entsprechend tritt BDI-Chef Keitel gegen eine allzu rigide Regulierung der Banken mit dem Argument auf, die deutsche Industrie brauche nicht nur "einheitliche Kasseninstitute um die Ecke, sondern auch starke Banken, die das internationale Geschäft der Unternehmen bedienen" könnten.[14] Der Druck der Finanzmärkte im Sinne des Shareholder Value dient der Mehrwertsteigerung. Ein weiteres gemeinsames Interesse von Industrie- und Bankkapital ist, dass die Refinanzierungskosten möglichst gering gehalten werden. Eine gute Bonität des Staates begünstigt die Bonität seiner Banken und die Wettbewerbsfähigkeit seiner Konzerne. So kann VW derzeit davon profitieren, dass die VW-Bank Kundenkredite zum Nullzins vergeben kann, während die Autos europäischer Konkurrenten trotz niedrigerer Preise wegen der höheren Kreditzinsen teurer sind.[15]

Die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Bank- und Industriekapital schließt weder eine Konkurrenz zwischen beiden aus, noch die relative Loslösung des Finanzsektors von der "Realwirtschaft". Die Möglichkeit der Loslösung ist in der kapitalistischen Warenproduktion schon mit dem Auseinanderfallen von Produktion und Realisierung durch den Austausch angelegt. Bei der heutigen chronischen Überakkumulation wachsen die Kapitalmassen schneller als die Möglichkeiten ihrer profitablen Verwertung, was in der Wirtschaftspresse als "Anlagenotstand" umschrieben wird. Nicht nur die Vermögensverwalter der Reichen, auch die Konzerne selbst brauchen unter diesen Umständen die Spekulation, um die Profite aufzuhübschen.

Karl Marx spricht im zweiten Band des Kapitals davon, dass der Produktionsprozess den Kapitalisten oft "nur als notwendiges Übel zum Behuf des Geldmachens" erscheint. "Alle Nationen kapitalistischer Produktionsweise werden daher periodisch von einem Schwindel ergriffen, worin sie ohne Vermittlung des Produktionsprozesses das Geldmachen vollziehen wollen." [16] Der französische Ökonom Francois Chesnais knüpft an dieses Zitat die Frage, ob der "Schwindel" unter bestimmten historischen Bedingungen nicht größere Ausmaße und zeitweise einen strukturellen Charakter annehmen könne.

Chesnais These lautet, dass bestimmte politische und soziale Verhältnisse und machtvolle Institutionen, die für das konzentrierte finanzielle Anlagekapital günstig sind, zum Versuch geführt haben, den "Schwindel" für eine längere Dauer als bis zum Ende einer Boomphase zur Existenzweise des Kapitals zu machen. In der Tat hat die Niedrigzinspolitik der US-Notenbank FED die Blasenbildung in den USA immer aufs Neue entfacht. Unkontrollierte Kreditvergabe der Banken wirkte in die gleiche Richtung. Die Blasen steigerten den Konsum der US-Bürger und waren ein Faktor, der das weltweite Wirtschaftswachstum stützte. Chesnais zufolge ist in einem solchen "finanzdominierten Akkumulationsregime" ein auf Börsenhausse angelegter Finanzmarkt geradezu eine strukturelle Bedingung des Wachstums.

Er betont zugleich, dass vom Produktionsprozess abgesondertes Geldkapital sich letztlich nicht real, sondern nur fiktiv vermehren kann. "Die Autonomie ermöglicht dem finanziellen Anlagekapital, eine Beteiligung an der Gewinnverteilung zu fordern und durchzusetzen. Wenn man sich jedoch Wert und Mehrwert aneignen will, so müssen diese vorgängig in genügender Menge produziert worden sein."[17] "Dominanz des Finanzsektors" hieße so nichts anderes, als Druck aufzubauen, um die Produktion im Sinne von mehr Profitabilität zu disziplinieren. Das entspricht völlig dem Interesse auch des Industriekapitals.

Für die Strategie kapitalismuskritischer Kräfte bedeutet die wechselseitige Abhängigkeit von monopolistischem Industrie- und Bankkapital, dass die "Reregulierung des Finanzmarkts" starke Gegner hat. Nicht nur die Finanzkonzerne, sondern das gesamte Monopolkapital wird versuchen, sie zu verhindern oder zumindest zu verwässern. Wirksame demokratische Reformen erfordern daher Eingriffe in die Macht des Monopolkapitals. Sie sind nur mit einer mobilisierten und kampfbereiten Arbeiterklasse durchsetzbar.

SB: Frau Landefeld, vielen Dank für dieses aufschlußreiche Gespräch.


Fußnoten:

[1] Jörg Huffschmid, Weder toter Hund noch schlafender Löwe. Die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus. spw (1995), Nachdruck in Marxistische Blätter 1-2010, S. 8

[2]MEW 25, S. 452

[3] "An einem bestimmten Punkt schlägt die Konkurrenz in das Monopol um." (Lenin)

[4] Jung/Schleifstein, Die Theorie des SMK und ihre Kritiker. VMB 1979, S. 70

[5] Christian Rickens, Ganz oben. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011/2012, S. 56 und 131

[6] Siehe Vermögensquellen deutscher Milliardäre 2008 auf: http://belafix.wordpress.com/

[7] MEW 25, S. 454

[8] LW 22, S. 103 (Vorwort zu Bucharin, Weltwirtschaft und Imperialismus)

[9] Peter Hess u.a., Grundlagen und Formen der Herrschaft des Finanzkapitals. VMB Ffm 1974, S. 7ff.

[10] Jörg Huffschmid, Der marxistische Monopolbegriff. In: Theorie des Monopols, Argument Sonderband 6, 1975, S. 51ff.

[11] Rudolf Hilferding, Das Finanzkapital. Berlin 1955, S. 336

[12] LW 22, S. 103 (Vorwort zu Bucharin, Weltwirtschaft und Imperialismus) und LW 22, S. 230

[13] Jung/Schleifstein, Die Theorie des SMK und ihre Kritiker. VMB 1979, S. 142

[14] "Keitel wirft Steinbrück Realitätsferne vor", HB 3.11.2012

[15] "Euro-Krise macht VW zum Herrscher über Europa", Welt online 15.11.2012

[16] MEW 24, S. 62

[17] Francois Chesnais, Das finanzdominierte Akkumulationsregime. In: Christian Zeller (Hrsg.), Die globale Enteignungsökonomie. Münster 2004. Leicht gekürzt unter: http://www.staytuned.at/sig/0032/32919

22. November 2012