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INTERVIEW/203: Renaissancen der Kritik - Marx und Freud im Aufwind, Moshe Zuckermann im Gespräch (SB)


Interview am 4. November 2013 in Kiel-Mettenhof



Der Historiker, Politologe und Soziologe Dr. Moshe Zuckermann ist mit den Verhältnissen in der Bundesrepublik und in Israel aufgrund seiner eigenen Biografie wie als ehemaliger Leiter des Instituts für Deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv gut vertraut. Der Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender wurde in Tel Aviv geboren und verbrachte die 1960er Jahre in Frankfurt am Main, wo er auch studierte. Seit 1970 lebt er wieder in Israel, wo er am Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas der Universität Tel Aviv lehrte. Seit 2011 ist der der Kritischen Theorie verbundene Gelehrte wissenschaftlicher Leiter der Sigmund Freud Privatstiftung in Wien. Vor Beginn einer Veranstaltung an der Universität Kiel zum Thema "Krisenherd Naher Osten" [1] beantwortete Moshe Zuckermann dem Schattenblick einige Fragen.

Im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Moshe Zuckermann
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Seit wir uns das letzte Mal begegnet sind, hat sich im Nahen Osten einiges verändert. Die Bevölkerungen nahezu aller arabischen Staaten haben sich gegen ihre Herrscher erhoben. Hätte Israel als angeblich einziger demokratischer Staat in der Region nicht die Aufstandsbewegungen in den arabischen Ländern aktiv unterstützen müssen?

Moshe Zuckermann: Meiner Meinung nach ja, aber meine Meinung zählt ja nicht. Tatsächlich war die politische Klasse in Israel entsetzt über die Aufstände, weil sie sich sehr gut mit den Diktatoren ins Einvernehmen gesetzt hatte. Man kann es drehen und wenden, wie man will, aber Mubarak war der beste Garant dafür, daß es zwischen Israel und Ägypten nicht zu einem Krieg kommt. Israel war nie an den inneren Zuständen in Ägypten, Libyen oder Syrien interessiert. Israel ist einzig und allein an seinen geopolitischen Interessen gelegen, daß es weiterhin ungehindert seine Okkupationspolitik in den besetzten palästinensischen Gebieten vorantreiben kann. Die Machthaber in den arabischen Nachbarstaaten sollten Israel garantieren, daß es zu keinem Regionalkrieg mehr kommt. Aus diesem Grund war man in Israel entsetzt über den Arabischen Frühling, der mittlerweile nicht unbedingt mehr Frühling ist, aber das ist ein anderes Thema. Es gab kein Interesse für Israel, die Aufständischen zu unterstützen. Ganz im Gegenteil war man sehr froh, daß die Aufstände schnell wieder beruhigt und gekappt wurden.

SB: Sind die politischen Eliten in Israel eigentlich zufrieden darüber, daß es in Ägypten einen Rollback gegeben hat?

MZ: Ja, die größte Angst hatte man vor den Islamisten, von denen man ganz pauschal annahm, daß sie die Hamas im Gazastreifen unterstützt hätten, wenn sie an der Macht geblieben wären, was an sich nicht unbedingt stimmig ist. Dennoch gingen die israelischen Befürchtungen in diese Richtung. Der Militärcoup in Ägypten deckt sich jedenfalls mit dem Eigeninteresse Israels. Eine moralische Regung, sich in die inneren Belange Ägyptens einzumischen, hat es nie gegeben. Ich meine damit nicht, daß unsere Orientwissenschaftler nicht gewußt hätten, daß das Militär in der ägyptischen Gesellschaft eine gravierende ökonomische Rolle spielt. Auch den Kommentatoren in den israelischen Medien waren die ägyptischen Verhältnisse kein Geheimnis. Ich rede vielmehr von der politischen Klasse, die nicht das geringste Interesse daran hatte, daß sich in Ägypten etwas sozial bewegt. Ihr Interesse ging nur dahin, daß es an den Grenzen ruhig bleibt. Und in der Tat gab es zu Mubaraks Zeiten keine Grenzkonflikte mit Israel.

SB: Das Verhältnis zu Syrien ist von ambivalentem Charakter. Einerseits war Assad immer ein Garant für eine gewisse Stabilität an der nördlichen Flanke Israels, aber andererseits spekuliert Tel Aviv auf einen Regimewechsel in Damaskus. Unterstützt die israelische Regierung Ihrer Ansicht nach aktiv den Sturz Assads, auch auf die Gefahr hin, daß ein islamistisches Regime an die Stelle der eher gemäßigten Alewitendynastie tritt?

MZ: Ich glaube nicht, daß die israelische Regierung die Aufständischen unterstützt. Dazu sind diese ein viel zu heterogener Haufen, als daß Israel sein Interesse plazieren könnte. Unter den Aufständischen sind teilweise auch islamistische Gruppen, an denen Israel kein Interesse haben kann. Assad selber, sowohl der Vater als auch der Sohn, waren für israelische Belange über Jahrzehnte eigentlich genau das, was man gebraucht hat. Die Grenze zu Syrien war zwar immer umstritten, aber nicht wirklich bedrohlich. Seit dem Krieg von 1973 war vollkommen klar, daß es mit Syrien nicht mehr zu einem regionalen Krieg kommen würde. Der Versuch Syriens, seinerzeit beim Libanonkrieg zu intervenieren, ist schnell abgeblockt worden. Von daher waren im Grunde genommen Vater Assad wie auch der Sohn später Garanten für den Frieden.

So war der Aufstand in Syrien weit mehr als der in Ägypten nichts, was Israel befürwortet hätte. Eine andere Frage war viel drängender. Eine Zeitlang schien die Möglichkeit zu drohen, daß die Türkei zusammen mit dem Iran und Syrien eine neue Front bildet. Darüber hat man sich in Israel durchaus Sorgen gemacht, denn wenn Syrien da mit eingebunden gewesen wäre, hätte es für Israel tatsächlich bedrohlich werden können. Die Türkei gibt sich in den letzten Jahren in ihrer Außenpolitik zunehmend antiisraelisch, und die Politik des Irans unter Ahmadinejad war ohnehin gegen Israel gerichtet. Mittlerweile hat sich diese Bedrohung für Israel in Wohlgefallen aufgelöst. Von daher hat Israel im Moment kein objektives Interesse daran, die Aufständischen zu unterstützen, zumal nicht wirklich klar ist, aus welchen Gruppen sie sich zusammensetzen. Ich glaube nicht, daß irgend jemand in der Region wirklich sagen könnte, wer da alles am Werk ist.

SB: Auffällig ist jedenfalls, daß der Nahostkonflikt, der früher immer auf das Palästina-Thema zugespitzt war, seit der Arabellion und ihrem Rollback mehr und mehr an den Rand der internationalen Aufmerksamkeit gedrängt wurde. In Israel müßte es doch begrüßt werden, daß das Thema nicht mehr auf der Agenda der großen Politik steht?

MZ: Das und noch etwas anderes, das Netanjahu geschafft hat, nämlich die Nuklearisierung des Irans auf die Tagesordnung der Weltpolitik gesetzt zu haben und daß man vollkommen abstrahieren konnte, was den Iran eigentlich dazu befähigt, Propaganda gegen Israel zu machen. Die Kernfrage des Nahostkonfliktes ist noch immer Israel-Palästina, und das ist vollkommen ins Hintertreffen geraten. Zudem kann Israel aufgrund der Spaltung von Hamas und PLO die Palästinenser immer beschuldigen, es läge an ihnen, daß der Friedensprozeß nicht voranschreitet. Daß die Hamas eine Bedrohung für die Existenz Israels sei, ist natürlich ein Witz. Die Hamas war nie bedrohlich für Israel. Israel ist eher eine Bedrohung für die Existenz des Gazastreifens. So muß man es sehen. Und die PLO hatte immer ein Interesse daran, daß die Hamas als Hauptgrund für die Stagnation angesehen wird.

Es ist bezeichnend für die Strategie Israels, daß jetzt, wo der Friedensprozeß vermeintlich in Bewegung kommt, darüber verhandelt wird, palästinensische Gefangene freizulassen. Das war ja längst abgemacht. In Israel gab es im Anschluß daran und auch, weil die Regierung diese Reaktion geschürt hat, eine große Empörung unter den ehemaligen Opfern von palästinensischen Terroranschlägen, die massenhaft auf die Straße gegangen sind. Ein Großteil der Bevölkerung hat sich mit ihnen identifiziert. In dem Moment war klar, daß die israelische Regierung als Kompensation für die Freilassung der Gefangenen wieder in den Siedlungen bauen lassen wird. Das wurde einfach hingenommen. Es gab eine kurze Protestnote der Amerikaner, weil das nicht konstruktiv sei usw. Die Europäer haben auch etwas dagegen eingewendet, aber dennoch baut man jetzt weiter. Der Nahostkonflikt ist mittlerweile dermaßen von anderen Schnittstellen und Konfliktherden überlagert, daß die Verhandlungen für meine Begriffe zu nichts führen werden.

SB: In der zweiten Folge Ihres Werks "Wider den Zeitgeist" haben Sie angemerkt, daß die freie Ausübung der Wissenschaften an den israelischen Universitäten durch die israelische Regierungspolitik eingeschränkt wird. Könnten Sie das erläutern?

MZ: Ja, das betrifft vor allem die Geistes-, Gesellschafts- und Kulturwissenschaften, in denen zionismus- bzw. israelkritische Diskurse geführt werden. In den Wissenschaften selbst hat man dem einiges entgegengesetzt. Es ist klar, welches Spiel die Regierung betreibt. So gibt es Planstellen, die unbesetzt bleiben, und bestimmte Projekte, die von der Regierung nicht gefördert werden. In den beiden letzten Legislaturperioden hat sich der Rechtsruck bis in die Legislative und Exekutive hinein bemerkbar gemacht, und so kommt auch die höhere Bildung mittlerweile nicht mehr ungeschoren davon.

SB: Unterscheidet sich Ihrer Ansicht nach die Situation der Hochschulen in westlichen Staaten wie der Bundesrepublik, wo die Lehranstalten unter den Zwängen der Drittmittelförderung stehen, wirklich so grundlegend von der Situation in Israel?

MZ: Ich würde unterscheiden wollen zwischen der Tatsache, daß die höhere Bildung insgesamt in der westlichen Welt immer mehr der Marktlogik unterworfen ist und von daher sogenannte Orchideenfächer immer mehr ins Abseits geraten sind. Überhaupt existiert das Bildungsideal von ehedem nicht mehr. Das Leistungsprinzip ist mittlerweile zentral auch in die sogenannten Exzellenzfächer und Exzellenzuniversitäten eingegangen. Die Art und Weise, wie im Moment die Titel produziert werden, geht damit einher, wer welche Chancen auf dem Markt hat. Das ist die eine Seite. Die andere Seite, die man in Deutschland, Italien und Frankreich nicht kennt, ist die Art und Weise, wie die Ideologie des Staates - ich meine jetzt nicht die Ideologie des Kapitalismus, also die Marktlogik - in die Bereiche der Sozial- und Geisteswissenschaft in Israel eingegangen ist. Das ist nochmal eine Nummer schärfer, das kennen Sie so in Deutschland nicht.

Moshe Zuckermann - Foto: © 2013 by Schattenblick

Marktlogik verdrängt Gesellschaftskritik
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: In "Wider den Zeitgeist" hatten Sie auch den Umgang mit den Werken Hannah Arendts in Israel kritisiert.

MZ: Das Problem war, daß Hannah Arendts Buch über Eichmann in Jerusalem nicht ins Hebräische übersetzt wurde, während es auf Englisch oder Deutsch verfügbar war. Die Frage war, warum dieses Buch, das für meine Begriffe ein gewichtiges Buch in der Analyse des Eichmann-Prozesses gewesen ist, 40 Jahre lang nicht ins Hebräische übersetzt worden war, sondern erst im Jahre 2000/2001. Das hing damit zusammen, daß die Frau in der Tat als Persona non grata boykottiert worden war. Als das Buch in den 60er Jahren veröffentlicht wurde, hat man ihr vorgeworfen, sie entbehre der Liebe zum jüdischen Volk. Dieser Spruch hat sich natürlich breitgemacht, und sie wurde dann von Yad Vashem boykottiert. Am Ende der 90er Jahre und im Zuge des Oslo-Prozesses hat sich dann der Spuk aufgelöst.

Heute ist Hannah Arendt aus anderen Gründen sehr populär in Israel, weniger wegen ihres Eichmann-Buches, sondern wegen ihrer Totalitarismus-These. Als das, was der Marxismus und Freudo-Marxismus ursprünglich für den linken Diskurs bedeutete und mit dem man politische Philosophie besetzt hatte, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus abgehalftert wurde und der ganze Westen sich nach einem Ersatz umschaute, stand Hannah Arendt zur Verfügung. Dies umso mehr, als sie sagen konnte, was später auch Nolte sagen konnte, nämlich daß Stalin und Hitler miteinander vergleichbar und der Gulag und Auschwitz mehr oder weniger aus dem gleichen Geist geboren sind.

SB: Hannah Arendt hat beim Eichmann-Prozeß in Jerusalem sehr stark auf die Verantwortung der gewöhnlichen Deutschen für die Judenvernichtung abgehoben. Wie beurteilen Sie ihre Sicht der Dinge?

MZ: Das war der Hauptertrag ihrer Philosophie für mich. Ich denke, da hat sie etwas sehr Wichtiges begriffen, nämlich die Tatsache, daß man, um industriellen Völkermord zu begehen, gar nicht so voller Haß und ideologischer Verblendung sein muß. Man muß lediglich perfekt funktionierende Bürokraten haben. Diesen Punkt hat sie an der Gestalt Eichmanns reflektiert. Sie sagt ja selbst, daß sie nicht begreifen konnte, wie dieses absolute Nichts dazu fähig war, mit einer solchen Kraft ein solches Vernichtungswerk in Gang zu setzen. Das hat ihr zu denken gegeben. Die Banalität des Bösen bezieht sich eben darauf. Das absolut Böse muß gar nicht mephistophelisch, es muß eher prometheisch sein. Prometheisch auch im Sinne der modernen Bürokratie, das heißt, daß einer nur Befehle ausführen muß.

Eichmann selbst hat vor dem Jerusalemer Gericht schließlich mit Kant argumentiert. Dessen Pflichtbegriff lag seiner Ideologie zugrunde. So konnte er sich damit herausreden, daß er nur gehorsam sein mußte. Wenn man sich die Protokolle seines Verhörs durchliest, hat man ein Handbuch des autoritären Charakters. Hannah Arendt hat dies parallel zur Frankfurter Schule, mit der sie nichts anfangen konnte, und in Folge von Max Weber begriffen. Man braucht keine großen Hasser und blutrünstigen Mörder, man muß die perfekt arbeitenden Bürokraten haben, die dann beschließen, hunderttausend in diesem Zug und die nächsten hunderttausend mit jenem Zug zu deportieren.

SB: Glauben Sie, daß es sich für Linke lohnen würde, sich für Hannah Arendt zu interessieren, zumal sie vor allem für die Totalitarismusthese berüchtigt ist, während ihr Imperialismusbegriff eher unbekannt ist?

MZ: Linken, die diesen Namen verdienen, würde ich Hannah Arendt und ihre Politik absolut nicht empfehlen. Denn Hannah Arendt ist schließlich von Leuten, die sich vom Linkssein abgewandt haben, instrumentalisiert worden. Die Tatsache, daß sie einen sehr geschärften Blick für das Phänomen Eichmann hatte, besagt ja nicht, daß ihre sonstige Vorstellung von dem, was eine Gesellschaft auszeichnet und formt, stimmig wäre. Meines Erachtens hat sie keinen gut funktionierenden Gesellschaftsbegriff. Übrigens hat sie auch eine ganze Menge historischer Fehler in ihrem Totalitarismusbuch gemacht.

Hannah Arendt war zudem in ihrem Judentumbegriff stark vom deutschen, bürgerlichen Judentum Berlins beeinflußt. So hatte sie im Grunde genommen das gesamte Ostjudentum, also das polnische und slawische Judentum, gar nicht in Augenschein genommen. Von daher ist ihre These über die Funktion von Moderne und Antisemitismus in meinen Augen historisch falsch. Ich will damit sagen, daß Hannah Arendt eine große und wichtige Denkerin war, aber sie war auch ein Produkt des Kalten Krieges. Solange der Marxismus noch Dominanz hatte, blieb sie im Hintergrund. Als der Marxismus in der Folge weltgeschichtlicher Ereignisse und Prozesse abgehalftert wurde, wurde sie auf einmal von ganz bestimmten Stellen lanciert. Es ist keineswegs unerheblich, wer sie auf einmal entdeckte und ins linksintellektuelle Lampenlicht rückte. Auch die Postmoderne, die mit Gesellschaft ohnehin nichts mehr zu tun hat und politisch bestenfalls im Sinne eines deutschen Idealismus ist, die mit Kant Politik macht, statt sich in irgendeiner Weise dem Klassenkampf oder den gesellschaftlichen Konflikten zu widmen, konnte mit ihr eine ganze Menge anfangen.

Moshe Zuckermann - Foto: © 2013 by Schattenblick

Am Siedepunkt neuer Aufbrüche
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Die Psychoanalyse und die Psychologie generell werden im Zeitalter der Neurowissenschaften und der biologischen Medizin von vulgärmaterialistischen Deutungen belagert. Glauben Sie, daß sich noch einmal eine genuine gesellschaftskritische Psychoanalyse herausbilden könnte, die heutzutage völlig verschwunden zu sein scheint?

MZ: In Tel Aviv ist sie nicht verschwunden, in Deutschland und auch teilweise in Wien schon. Das Problem besteht darin, um es einmal mit Thomas Kuhn zu sagen, daß es nie wirklich um die Gehalte dessen geht, was die Wissenschaft erbringt, sondern um die Frage, inwieweit sich daraus Konjunkturen ergeben. Wenn man sagt, man ist mit einem Paradigma fertig, dann bedeutet das nicht, daß man damit wissenschaftlich-theoretisch oder auch begrifflich ans Ende gekommen ist, sondern fertig heißt dann soviel wie, wir haben uns lange genug daran gerieben, jetzt haben wir ein anderes Paradigma.

Ich sage es einmal ganz trivial: die Tatsache festzustellen, daß bestimmte Reaktionen physiologische Grundlagen haben, dafür muß ich kein großartiger Wissenschaftler sein. Und wenn ich Träume als Bilder aufgrund von elektronischen Ladungen oder Entladungen begreife, dann besagt das nicht viel. Aber warum ich von meiner Großmutter träume und welchen Stellenwert meine Großmutter dabei für mich hat, bedarf noch immer einer Traumdeutung, die sich bei Freud aus einem Gesamtkomplex heraus bildet. Daß bestimmte Disziplinen jetzt mehr in Behaviorismus oder Sozialpsychologie, die positivistisch ausgerichtet ist, machen, hat mit einer Konjunktur zu tun. Aber die Tatsache, daß die Psychoanalyse noch gar nicht vom Inhalt her abgehakt ist, halte ich für unbestreitbar.

Ob sich die Psychoanalyse eines Tages wieder mit Gesellschaftskritik verbandeln kann, ist schwer zu sagen. Ich wage es nicht, überhaupt noch irgendwelche Prognosen zu geben, seit ich gehört habe, daß englische und amerikanische Banker nach 2008 damit anfingen, das Kapital zu lesen, um zu verstehen, wie es zur Krise kommen konnte und was sie daran verbrochen hatten. Die Frage ist, ob eine geschichtliche Entwicklung wahrhaftig ist. Wenn sie wahrhaftig ist und der absolute Geist eines Tages, mit Hegel gesprochen, zu sich selbst gelangt und sich selbst erkennt, dann sind auch die von ihr geschaffenen Wahrheitsgehalte und Wissenskörper bedeutend. Und so wie Marx für meine Begriffe noch immer die größte Bedeutung für die heutige Weltlage hat, übrigens auch für den globalisierten Kapitalismus, so meine ich, daß noch eine ganze Menge von dem, was die Psychoanalyse, vor allem im Zusammenhang mit Gesellschaftskritik, geleistet hat, noch lange nicht ausgestanden ist. Ich kann Ihnen allerdings nicht sagen, ob die Welt sich nicht in das, was Adorno den universellen Verblendungszusammenhang nennt, immer mehr verfängt und sie in blinde Krisen hineingerät, die eines Tages wirklich von jeder Richtung her explodieren, unabhängig davon, ob sie jetzt ökologisch oder nuklear explodieren.

Wir reden heutzutage von der neuen digitalen Technologie. Schauen Sie sich an, was sich damit in letzter Zeit abgespielt hat. Wer hätte das noch vor fünf, zehn oder fünfzehn Jahren ahnen können? Ich nicht. Ich bin der Meinung, daß man das alles nicht prognostizieren kann. Ich will damit sagen, daß die Wahrheitsgehalte und Erträge, die die Psychoanalyse bzw. die Psychoanalyse in Verbindung mit Marxismus oder mit einer Gesellschaftskritik, die auch psychoanalytisch fundiert ist, in den 20er und 30er Jahren erbracht hat, noch nicht aus der Welt geschafft sind. Ob die Welt noch fähig ist, da überhaupt noch hineinzuhorchen, weiß ich nicht, denn ich hatte eigentlich angenommen, daß die Religionskritik, wie sie schon im 19. Jahrhundert geleistet worden ist und sich auch verselbständigt und manifestiert hatte in den modernen Gesellschaften, mehr oder weniger ihre gesellschaftliche und historische Funktion erfüllt habe. Jetzt sehe ich mich eines Besseren belehrt. Denn mit einem Mal stellt sich heraus, daß die Hinwendung zur Religion, ohne daß es in irgendeiner Weise etwas an Religionskritik im genuinen Sinne angerührt hätte, offenbar nicht an ihr Ende gekommen ist.

SB: Die familiäre Sozialisation ist ein wichtiger Bestandteil der Psychoanalyse, auf die insbesondere der Freud-Schüler Wilhelm Reich abhob, der eine lange Zeit bedeutsam für die Linke und auch für alternative soziale Bewegungen war. Halten Sie angesichts dessen, daß die Idee des Gemeinschaftslebens in Kommunen, die in den 1970er Jahren verbreitet war, heutzutage aber fast völlig verschwunden ist, eine veränderte Gesellschaft noch für eine realistische Option?

MZ: Ein Gesamtbild von einer Gesellschaft mag ich heute gar nicht mehr entwerfen. Ich bin gerne bereit, meine Kriterien dafür zu geben, was für mich eine befreite Gesellschaft wäre. Die ursprünglichen, noch zu Wilhelm Reichs Zeit aufgebrachten Theorien, die Sexualität und Politik miteinander verbandelten, sind in ihrer Grundlage noch immer stimmig. Die große Frage, die sich stellt, ist, ob noch gesellschaftliche Strukturen, wie beispielsweise das Familiäre, noch so gedacht werden können, wie sie zur damaligen Zeit gedacht werden konnten. Familienformen haben sich gewandelt, von der Kernfamilie mit Papa, Mama, Kinder und Hund in eingeschlechtliche Ehen von Schwulen und Lesben, alleinerziehende Mütter und Väter, Adoptiv- und Großfamilien und so weiter. Es gibt eine unendliche Vielfalt von Formen, die mittlerweile legitim geworden sind, die noch zu Zeiten von Wilhelm Reich alles andere als legitim waren.

Was jetzt mit seiner Theorie gemacht werden müßte, ist der Versuch, die ursprünglich über den Zusammenhang von Politik und Sexualität gewonnenen Erkenntnisse auf die vielfältigen Lebensformen von heute zu applizieren und dabei herauszufinden, wie man damit theoretisch umgehen kann. Das ist für meine Begriffe aus einem ganz einfachen Grund nicht mehr geleistet worden. Erstens, weil eine Kritische Theorie, die noch von der Psychoanalyse ausgegangen ist, inzwischen mehr oder weniger obsolet geworden ist für diejenigen, die jetzt Hannah Arendt und andere anbringen. Vor allem aber, weil Wilhelm Reich durch seine letzte Phase, in der er ein wenig versponnen abgehoben ist, mittlerweile desavouiert worden ist. Es wäre wirklich an der Zeit, eine neue Renaissance zu wagen, aber dafür muß man eine gesellschaftliche Realität haben, die das auch zuläßt. Im Moment sehe ich diese nicht, auch weil immer mehr Menschen sich von einem kritischen Denken, das auch Gesellschaft denkt, distanzieren. Man muß schließlich bedenken, daß der Gesellschaftsbegriff total zerstört worden ist, unter anderem von den poststrukturalistischen cultural studies, wobei ihr Begriff von culture sich auf der Ebene normfreier Interaktionsformen bewegt, was keine Bewertung mehr erlaubt. Das heißt, der Emanzipationsbegriff ist mehr oder weniger abhanden gekommen.

Wilhelm Reich ohne Emanzipation ist kein Wilhelm Reich, Freud ohne Emanzipation ist kein Freud, Marx ohne Emanzipation ist kein Marx, und von daher meine ich, einmal marxistisch ausgedrückt, die Realität wider die Notwendigkeit eines Wilhelm Reich und eines Freud und eines Marx und eines Adorno und so weiter auf einen Punkt bringen zu müssen, wo es siedet, daß man sich sagt, wir müssen uns da wieder dranmachen. Ich sehe das im Moment in der höheren Bildung nicht, weder an den Universitäten noch im akademischen Bereich. Und von daher kann ich Ihre Frage nur aus der Realität heraus so beantworten, daß es an der Zeit wäre, daß es wieder gemacht würde. Ich sehe allerdings nicht die Kollektivsubjekte, die das im Moment machen könnten.

SB: Herr Zuckermann, vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch.


Fußnoten:

[1] BERICHT/172: Renaissancen der Kritik - Der antideutsche Schuldmißbrauch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0172.html


12. November 2013