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INTERVIEW/257: Kriegsschuld - ich bin viele ...    Manolis Glezos im Gespräch (SB)


Antworten Sie, Herr Schäuble!

Interview mit Manolis Glezos, ehemaliger griechischer Widerstandskämpfer, ältester Abgeordneter des Europaparlaments und Vorsitzender des griechischen Nationalrats für die Entschädigungsforderungen gegenüber Deutschland

Veranstaltung "Griechenland: Reparationen, Zwangsanleihen und ein würdiger Weg aus der Krise" am 2. Mai 2015 in Hamburg



M. Glezos in Großaufnahme - Foto: © 2015 by Schattenblick

Manolis Glezos
Foto: © 2015 by Schattenblick

Zum 70. Mal jährt sich dieser Tage das Ende des Zweiten Weltkriegs. Anlaß genug für Bundeskanzlerin Angela Merkel, in ihrem Video-Podcast davor zu warnen, einen Schlußstrich zu ziehen. "Wir Deutschen haben hier schon eine besondere Verantwortung, aufmerksam, sensibel und auch kundig mit dem umzugehen, was wir in der Zeit des Nationalsozialismus angerichtet haben", so die deutsche Regierungschefin wörtlich. Eine Gelegenheit, diesen hehren Worten Taten folgen zu lassen, böte sich für die deutsche Bundesregierung anläßlich der griechischen Reparationsforderungen. Deren Nichtbegleichung und -berücksichtigung - auch durch frühere Bundesregierungen - droht dem Ansehen der heutigen Bundesrepublik nach wie vor schwersten Schaden zuzufügen, da sich dieser Umstand kaum anders erklären läßt als mit der fortgesetzten Weigerung Deutschlands, entgegen der aufgestellten Behauptungen den bestehenden juristisch-materiellen Verpflichtungen, die der Republik als Rechtsnachfolgerin des NS-Staates obliegen, tatsächlich nachzukommen.

Anläßlich des 70. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus am 8. Mai war mit Manolis Glezos einer der prominentesten Griechen nach Deutschland gekommen. Mit 92 Jahren ist Glezos nicht nur der älteste Abgeordnete des Europaparlaments, in dem er die griechische Regierungspartei Syriza vertritt, sondern auch einer der wenigen Überlebenden des griechischen Widerstandes gegen die Besatzung des Landes durch Deutschland während des Zweiten Weltkrieges. Als Vorsitzender des griechischen Nationalrats für die Entschädigungsforderungen gegenüber Deutschland kämpft er noch heute für die - wenn auch sehr späte - Begleichung alter Schulden und Entschädigungsforderungen für die von SS und Wehrmacht begangenen Verbrechen.

In mehreren deutschen Städten, so auch am 2. Mai auf einer Veranstaltung im Hamburger Rathaus, sprach Manolis Glezos in eindringlichen Worten über die Rechtsansprüche Griechenlands auf Reparationszahlungen und die Rückzahlung einer Zwangsanleihe, durch die das besetzte Griechenland seinerzeit gezwungen worden war, die Stationierungskosten der deutschen Besatzungstruppen sowie die Verpflegung des Afrika-Korps von General Rommel zu übernehmen. An der Diskussionsveranstaltung im vollbesetzten Festsaal des Hamburger Rathauses über die historische Verantwortung Deutschlands, die Reparationszahlungen sowie konstruktive Wege aus der aktuellen Krise Griechenlands und Europas, die auf Einladung der Linksfraktionen in der Hamburgischen Bürgerschaft sowie im Europarlament stattfand, nahmen auch Fabio de Masi (MdEP Die Linke), Rolf Becker (Schauspieler), Martin Klingner (Rechtsanwalt), Ulla Jelpke (MdB Die Linke) und Martin Dolzer (MdHB Die Linke) teil.

Manolis Glezos wird keineswegs nur in Griechenland bis heute großer Respekt entgegengebracht. Er hat sich sozusagen auch international in die Geschichtsbücher eingetragen, weil er es war, der am 30. Mai 1941 als 18jähriger zusammen mit einem Freund die von den deutschen Besatzern auf der Akropolis gehißte Hakenkreuzfahne heruntergeholt und damit für ein Fanal gesorgt hatte, das viele seiner Mitmenschen zum Widerstand ermutigte. Unmittelbar vor Veranstaltungsbeginn konnte der Schattenblick mit ihm das folgende Gespräch führen. Bezeichnenderweise waren die "Heldentaten" vergangener Zeiten ihm der Erwähnung nicht wert, richtet er doch seine volle Konzentration und Aufmerksamkeit auf die aktuelle Kampagne um Reparations- und Schuldenrückzahlungen, die das hochverschuldete und von staatlicher Zahlungsunfähigkeit bedrohte Griechenland von einem der größten, finanzstärksten und tonangebendsten EU-Staaten zu erhalten hat.


G. Kritidis und M. Glezos nebeneinandersitzend im Interview - Foto: © 2015 by Schattenblick

Der Publizist und Griechenlandkenner Gregor Kritidis steht Manolis Glezos dolmetschend zur Seite
Foto: © 2015 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Bundespräsident Gauck war im vergangenen Jahr in Griechenland und entschuldigte sich als erstes deutsches Staatsoberhaupt für die Taten der deutschen Wehrmacht im Krieg. Zugleich lehnte er es aber neben dieser symbolischen Geste eigentlich ab, die Entschädigungsfrage zu thematisieren. Nun hat er in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung [1] gesagt, es sei doch zu überlegen, ob man nicht eine Entschädigungsfrage auch im Hinblick auf Griechenland erwägen sollte. Wie schätzen Sie das ein: Ist das jetzt so etwas wie ein Durchbruch oder eine neue taktische Variante, um die Forderungen abzuwürgen?

Manolis Glezos (MG): Als Bundespräsident Gauck in Griechenland war, habe ich ihn um ein Zusammentreffen gebeten, das auch stattgefunden hat. Wir haben auch über diese Frage der Kriegsentschädigung sehr lange diskutiert mit dem Resultat, daß Herr Gauck zugesichert hat, er würde das Thema nach Deutschland mitnehmen und auch gegenüber der Bundesregierung ansprechen. Ich habe das jetzt in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichte Interview mit Herrn Gauck zur Kenntnis genommen und bin der Auffassung, daß das schon die Diskussion verändert. Aber die Frage ist natürlich, was dabei tatsächlich herauskommt. Es geht doch um praktische Konsequenzen und die realen Taten und nicht um Ankündigungen oder Überlegungen, die zu diesem Thema angestellt werden.

Natürlich ist dabei auch wichtig, welche Positionen die Regierung Merkel bisher dazu eingenommen hat. Es geht also nicht um irgendwelche Medienpropaganda, sondern um die offiziellen Verlautbarungen. Vor allen Dingen Herr Schäuble hat dazu zwei Feststellungen getroffen. Die erste Aussage ist die, daß das Thema gelöst und erledigt sei. Darauf habe ich sofort geantwortet und gesagt: Wenn, wie er sagt, das Thema erledigt ist, heißt das doch, daß er anerkennt, daß es dieses Thema gegeben hat und es auf irgendeine Weise gelöst und beendet worden ist. Seit zwei Jahren frage ich ihn, auf welche Art und Weise das denn geschehen sei, und ich warte immer noch, also seit zwei Jahren, auf eine Antwort. Ich habe Herrn Schäuble aufgefordert, seit ich hier nach Deutschland gekommen bin, zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Ich stehe zur Verfügung sowohl für ein persönliches Gespräch als auch für eine Pressekonferenz als auch für eine große Veranstaltung, um auch diese Frage zu diskutieren und eine Antwort zu geben dazu, wie dieses Thema gelöst werden kann.

SB: Aber geschehen ist nichts? Gibt es irgendeine konkrete Resonanz?

MG: Bisher gibt es aus dem Hause Schäuble keine Antwort, doch ich bestehe auf meiner Frage. Die zweite Aussage von Herrn Schäuble lautete, man solle jetzt gefälligst die Vergangenheit ruhen lassen und in die Zukunft blicken. Wenn das eine Frage der Vergangenheit wäre, wie ist dann zu erklären, daß vor sechs Monaten - also jetzt in der Gegenwart - die deutsche Regierung einen Beschluß gefaßt hat, nicht für Entschädigungen, sondern für Rentenzahlungen nicht an die Opfer der faschistischen Barbarei, sondern deren Nachkommen in Israel? [4] Ich frage also: Ist das die Vergangenheit oder die Zukunft? Bisher ist es keine Frage der Entschädigung gewesen, sondern eine Frage von Rentenzahlungen an - wie heißt es doch so schön - die Opfer des Faschismus. Das ist die Gegenwart und eben nicht die Vergangenheit! Und warum wird ein Unterschied gemacht nicht nur zwischen Israel und Griechenland, sondern auch zwischen Juden, die in Israel leben und welchen, die in Griechenland leben? Gibt es Juden von verschiedener Kategorie? Natürlich handelt es sich dabei auch um einen diplomatischen Schritt gegenüber Israel. Aber es ist nicht möglich, die Vergangenheit so hinter sich zu lassen.

Und es gibt noch weitere Gründe. In Griechenland hat zum Beispiel das Wort "Aletheia" - die Wahrheit - eine ganz bestimmte Herkunft. Aletheia heißt soviel wie: Wenn man die Wahrheit erkennen will, kann man sich nicht über die Vergangenheit hinwegsetzen. Ein Volk, daß seine Geschichte vergessen hat, hat keine Zukunft. Die "Wahrheit" bedeutet, daß man nicht vergessen darf. Für mich hat das noch eine tiefere Bedeutung als das, was ich vorhin gesagt habe. Auch aus diesen Gründen warte ich auf die Antwort von Herrn Schäuble. Ich habe ein ganzes Buch über diese Frage geschrieben und darin ausführlich begründet, warum Deutschland gegenüber Griechenland in der Schuld steht. Als ich Herrn Gauck traf, sagte er, daß er mein Buch gelesen hat, in einer Übersetzung des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages oder von wem auch immer. Auf jeden Fall, so sagte er zu mir, wüßte er, worüber ich spreche und schreibe. Die konkrete Entschädigungssumme ist eigentlich nicht so von Bedeutung, was auch in dem Titel des Buches "... und wäre es nur eine Mark" zum Ausdruck kommt.


Das Buch in Großaufnahme, über dem Titel eine deutsche Mark - Foto: © 2015 by Schattenblick

M. Glezos zeigt sein Buch "KAI ENA MAPKO NA HTAN", zu deutsch: "... und wäre es nur eine Mark"
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Habe ich das richtig verstanden, daß neben der symbolischen Entschuldigung, also daß eingeräumt wird: ja, wir Deutschen haben früher Verbrechen begangen, die Frage der materiellen Entschädigung einen eher symbolischen Charakter hat und daß es bei dem genannten Betrag eher um ein grundlegendes Eingeständnis geht? Und würde dies bedeuten, daß die tatsächliche materielle Entschädigung der Menschen, die heute noch leben, eher zweitrangig wäre?

MG: Das möchte ich Ihnen erklären. Es gibt zwei grundsätzlich verschiedene Arten von Entschädigungsforderungen, nämlich die des griechischen Staates und die privater Bürger. Gegenüber der öffentlichen Hand, also dem Staat, sind es vor allen Dingen drei Arten von Entschädigungen. Das ist zum einen die Entschädigungssumme, die 1946 in Paris auf der Alliierten Reparationskonferenz festgelegt wurde und die man nicht vergrößern oder verkleinern kann. Das betrifft vor allem die Schäden, die aufgrund der Besatzung in der nationalen Ökonomie angerichtet wurden, es ist also eine Wiedergutmachung. Das sind 7 Milliarden Dollar in der Kaufkraft von 1938. Heute sind das 108 Milliarden Euro umgerechnet in Kaufkraftparität. Das kann man nicht ändern, weil das damals so festgelegt worden ist.

SB: Und dieser Betrag ist nie gezahlt worden?

MG: Nein, niemals. Das zweite betrifft den Zwangskredit, der Griechenland während der Besatzungszeit von den Deutschen auferlegt wurde. Das sind 54 Milliarden Euro in heutigen Beträgen ohne Zinsen. Zusammen ergibt das 162 Milliarden Euro. Das sind die damals festgestellten Summen.


Handschriftliche Notiz in griechischer Sprache mit den im Interview genannten Zahlen - Foto: © 2015 by Schattenblick

Glezos' Handnotiz zu den Reparationsforderungen
Foto: © 2015 by Schattenblick

Das dritte ist die Rückgabe der geraubten archäologischen Kunstschätze. Das ist wahrscheinlich das größte Problem. Die Sowjetunion beziehungsweise Rußland hat die Kunstgegenstände, die von den Deutschen geraubt und dann nach dem Zweiten Weltkrieg von der Sowjetunion mitgenommen worden sind, an Griechenland zurückgegeben. Warum werden die übrigen Kunstgegenstände nicht auch zurückgegeben? Der Archäologische Dienst Griechenlands hat darüber ein Register angelegt und genau katalogisiert, um welche Kunstgegenstände es sich handelt. Man kann natürlich über Summen und alles mögliche verhandeln, aber über die Kunstgegenstände gibt es eigentlich nichts zu verhandeln, die sind ja auch im engeren Sinne nicht von ökonomischer Bedeutung.

Das sind die Forderungen der öffentlichen Hand. Natürlich gibt es auch noch welche der Bürger. Weil es dabei um sehr verschiedene Dinge geht, werde ich nur ein Beispiel herausgreifen. So wurde von einem vorbeifahrenden Radfahrer das Fahrrad konfisziert. Der bekam irgendwie eine Quittung, daß er nach dem Krieg dafür eine Entschädigung bekommen sollte. Das habe ich alles in meinem Buch dargestellt. Es gibt da sehr viele kleine Details, die ich da behandelt habe. Was die Nachfahren zum Beispiel von Exekutierten betrifft, sind das natürlich sehr umfangreiche Entschädigungsfragen. Ich nehme an, daß Sie ein wenig die Geschichte Griechenlands und der Besatzung kennen?

SB: Ja. [2]

MG: Es besteht noch immer die Ungewißheit, ob es überhaupt Entschädigungszahlungen geben wird. Die Reparationsfragen Deutschlands gegenüber anderen Staaten sind weitgehend geklärt, doch die Frage der Entschädigung von Bürgern ist eigentlich gegenüber keinem Staat geklärt mit Ausnahme von Israel. Das ist das Problem.

SB: Hat denn der griechische Staat auch im Namen seiner Bürger die Forderungen gestellt oder muß jeder Betroffene quasi selbst Deutschland verklagen?

MG: Es werden sowohl die allgemeinen Reparationen gegenüber dem Staat gefordert als auch gegenüber den Bürgern. Darüber werden wir gleich auf der Veranstaltung sicher noch en detail zu sprechen kommen.


M. Glezos am Podium stehend, links neben ihm G. Kritidis - Foto: © 2015 by Schattenblick

Im Festsaal des Hamburger Rathauses
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Nun wäre noch von Interesse, ob neben den deutschen Politikern, von denen man annehmen kann, daß sie eigentlich ganz genau wissen, worum es geht, auch die deutsche Öffentlichkeit informiert werden soll. In Griechenland wissen vermutlich sehr viele Menschen darüber Bescheid, in Deutschland sind es wahrscheinlich relativ wenige. Was könnte noch unternommen werden, um hierzulande auf diese Frage aufmerksam zu machen?

MG: 1995 wurde ich von Freunden nach Hannover eingeladen, um über ökologische Fragen und direkte Demokratie zu sprechen. Da habe ich die Freunde gebeten, auch einen Abend zu der Frage der Reparationen, also der Kriegsentschädigung, zu machen. Das war das erste Mal, daß die Anwesenden in Hannover überhaupt Kenntnis davon bekamen, daß es diese Frage gibt! Als ich dann wieder nach Griechenland in mein Heimatdorf auf Naxos zurückgekehrt war, bekam ich einen Anruf von der Redaktion der deutschen Wochenzeitung "Die Zeit". Ich wurde gebeten, das, was ich in Hannover vorgetragen hatte, auch schriftlich niederzulegen und der Zeitung zur Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen. Das habe ich getan. Da ich dem Artikel keinen Titel gegeben hatte, erfand die Zeit-Redaktion selber einen. Dieser Titel ist sehr charakteristisch: "Unrecht muß gesühnt werden!" (Herr Glezos nennt den Titel auf deutsch). [3]

Natürlich sind es in erster Linie meine persönlichen Auffassungen und einige erste Ideen dazu, wie das Problem gelöst werden könnte. Ich möchte nicht Deutschland am Hals fassen, so wie es jetzt gegenwärtig die deutsche Regierung mit Griechenland tut. Ein Punkt ist mir dabei noch besonders wichtig. Es geht mir nicht um Ressentiments oder Feindseligkeiten gegenüber dem deutschen Volk. Deshalb habe ich auch, um ein Beispiel dafür zu nennen, den Vorschlag gemacht, ein Stipendienprogramm zu machen, damit griechische Schüler, Studenten und Doktoranden nach Deutschland kommen und hier lernen, studieren und forschen können. Wenn es Vorbehalte gegenüber Deutschland gäbe, würde man einen solchen Vorschlag nicht machen.

SB: Hat es auf Ihre Kampagne hin schon Reaktionen hier in Deutschland gegeben?

MG: Seit 1946, aber insbesondere seit 1995 führe ich diesen Kampf. Eine Reaktion wäre, wenn die deutsche Öffentlichkeit meine Vorschläge akzeptieren würde. Immerhin gibt es seit 2001 in Hamburg eine Kommission, die sich dieses Themas angenommen hat. Vorgestern ist eine solche Kommission in Hanau gegründet worden und kürzlich auch in Frankfurt. Mein Vorschlag wäre, daß solche Kommissionen in ganz Deutschland gegründet werden, denn eine Lösung des Problems kann nur durch die deutsche Bevölkerung bewirkt werden.

Einen weiteren Aspekt möchte ich noch erwähnen. Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß es bisher zwischen Griechenland und Deutschland keinen Friedensvertrag gibt. Warum wird der nicht abgeschlossen? Das ist ganz einfach, denn wenn er unterschrieben wird, müßten Reparationsleistungen getätigt werden. Völkerrechtlich gibt es zwischen den beiden Ländern - zumindest nach deutscher Auffassung - nur einen Zustand des Waffenstillstandes, des Nicht-Krieges, aber eben keinen Friedensvertrag. Das ist so, als würden wir bei nächster Gelegenheit wieder in den Kriegszustand übertreten! Aus diesem Grund konzentriere ich mich auch auf dieses Thema - den Friedensvertrag mit Deutschland. Wir werden sehen, was dabei herauskommt.

SB: Eine kurze Frage hätte ich bitte noch zu Europa. Sie sind Abgeordneter im EU-Parlament, einer Institution der Europäischen Union, die Griechenland derzeit knebelt. Sie haben aber auch von einem neuen Europa gesprochen, einem Europa des Friedens, das es noch nicht gibt und das erst erkämpft werden muß. Können Sie dazu etwas sagen?

MG: Ein anderes Europa heißt natürlich ein Europa nicht der NATO und nicht ein Europa der Frau Merkel, sondern ein Europa der Völker und seiner Bürger, ein Europa des Friedens. Und dafür muß man eben auch innerhalb der Institutionen Europas kämpfen.

SB: Abschließend würde ich gern noch eine persönliche Frage stellen, die aber mit dem Kampf um die Reparationszahlungen zusammenhängt. Sie gelten in Griechenland als Volksheld und hätten schon vor vielen Jahren sagen können: Ich setze mich zur Ruhe, ich bin anerkannt. Das hätte doch jeder verstanden. Was hat Sie dazu bewegt, all die Jahre so streitbar zu bleiben?

MG: Ich möchte noch etwas anderes sagen, bevor ich auf diese Frage antworte. Es wird in Griechenland nicht gefordert, daß diese Summen vom deutschen Volk bezahlt werden. Die Forderung geht eher an deutsche Großkonzerne wie Krupp, die während der deutschen Besatzung Griechenland ökonomisch ausgeplündert und sich daran bereichert haben. Die Summen sind hauptsächlich aufgrund dieses ökonomischen Raubes zustandegekommen. Nicht die deutsche Bevölkerung sollte dafür zahlen, sondern die Firmen, die in erster Linie davon profitiert haben. Wir empfinden gegenüber dem deutschen Volk überhaupt keinen Haß und sind nicht der Auffassung, daß die deutsche Bevölkerung dafür verantwortlich ist, was ihre Vorfahren getan haben. (Anmerkung des Dolmetschers: Das hat Herr Glezos mit besonderem Nachdruck gesagt.) Wenn ich ein Mörder bin, wie kann mein Kind dafür verantwortlich sein?

Wir wollen Freundschaft zwischen den beiden Völkern. Das habe ich auch in einer deutschen Schule in Griechenland gesagt, wo ich neulich eingeladen war und gesprochen habe. Die deutsche Kultur ist - wie die griechische auch - ein Brückenpfeiler, um eine tragfähige Brücke der Freundschaft zu bauen, vielleicht nicht nur zwischen Deutschland und Griechenland, sondern sogar für ganz Europa. Sie hier in Deutschland kennen Goethe. Wer war Goethe? Was weiß man in Deutschland über Goethe?

SB: Daß er ein großer deutscher Dichter war. Wir wissen aber auch, daß er sich beispielsweise um Völkerverständigung mit dem Orient bemüht hat und daß er ein Wissenschaftler war, der versucht hat, Kunst und Wissenschaft zusammenzubringen.

MG: Welche Art Wissenschaftler?

SB: Er hat sich mit Farben-, Pflanzenlehre und so weiter beschäftigt.

MG: Er war ein Geologe, und weil man in der Geologie viel Phantasie braucht, ist er auch Dichter geworden. Bei einer Veranstaltung der Geologischen Gesellschaft Griechenlands wurde Goethe besonders geehrt. Es wurden Gedichte von Goethe, aber auch von mir vorgetragen. Das war für mich eine große Ehre. Jetzt aber zu der Frage, die Sie vorhin gestellt haben. Glauben Sie, daß Sie einen Menschen vor sich sehen?

SB: Ja.

MG: Ich bin nicht einer. Vor jedem Kampf und vor jeder neuen Auseinandersetzung haben wir uns gemeinsam hingesetzt und diskutiert. Und wir haben immer wieder vor dem Kampf gesagt: Wenn du morgen stirbst, dann spreche ich für dich weiter. Wenn du "guten Morgen" sagst, dann sage auch "guten Morgen" in meinem Namen. Wenn du in den Wald gehst und du hörst den Wind in den Bäumen rauschen, dann lausche auch für mich. Und wenn du ins Wasser, ins Meer gehst und du hörst die Bewegung der Kiesel, dann nimm das auch für mich wahr. Wenn du Wein trinkst, dann trinke auch für mich und wenn du tanzt, dann tanze für mich mit. Es ist so gekommen, daß ich überlebt habe, aber deswegen kann ich die anderen nicht vergessen. Ich lebe auch für all diese Menschen und den Kampf, den wir gemeinsam geführt haben, und deswegen bin ich nicht nur einer, sondern viele.

SB: Herzlichen Dank, Herr Glezos, für dieses Gespräch.


Glezos am Podiumstisch, Transparent mit 'Faschismus bekämpfen', 'Naziopfer entschädigen' - Foto: © 2015 by Schattenblick

Solidarität mit Griechenland in hanseatischem Ambiente
Foto: © 2015 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] http://www.sueddeutsche.de/politik/bundespraesident-im-sz-interview-gauck-regt-wiedergutmachung-fuer-kriegsverbrechen-in-griechenland-an-1.2461218

[2] Im Zweiten Weltkrieg wurde Griechenland zunächst vom faschistischen Italien angegriffen. Die italienischen Truppen marschierten am 28. Oktober 1940 ein, stießen dann jedoch auf einen so erbitterten und effizienten Widerstand, daß sich das verbündete Nazi-Deutschland im Frühjahr 1941 zum Eingreifen veranlaßt sah. Die Wehrmacht marschierte am 6. April von Bulgarien aus ein, erreichte wenig später die Südspitze des Peleponnes und eroberte bis Anfang Juni die Insel Kreta. Die Bevölkerung Kretas organisierte einen Partisanenkampf gegen die deutschen Besatzer, zu dessen Zerschlagung bis August 1941 rund 2000 Zivilisten umgebracht wurden. Insgesamt fielen der dreijährigen Besatzung, die bis zum 3. November 1944 andauerte, ungefähr 90.000 Griechen zum Opfer, die als Geiseln oder bei Strafaktionen getötet wurden. 50.000 griechische Juden wurden ebenfalls umgebracht. Mehrere hunderttausend Menschen kamen während der Okkupation durch die extreme Hungersnot in dem von den deutschen Truppen ausgeplünderten Land ums Leben. Am Ende der Schreckensherrschaft waren zudem rund eine Million Griechen obdachlos, hunderte Dörfer und Kleinstädte dem Erdboden gleichgemacht, alle Häfen sowie die meisten Eisenbahnlinien zerstört.

[3] http://www.zeit.de/1995/40/Ein_Unrecht_muss_gesuehnt_werden/komplettansicht

[4] Das Bundesfinanzministerium hat sich in Verhandlungen mit der Jewish Claims Conference (JCC) dazu verpflichtet, für die Jahre 2014 bis 2017 insgesamt 772 Millionen Euro für die häusliche Pflege von Shoah-Überlebenden zur Verfügung zu stellen. Diese Zahlungen sollen 56.000 Menschen, die in 46 Staaten leben, zugutekommen. Über ein Drittel der Betroffenen lebt in Israel.
http://www.spiegel.de/politik/ausland/deutschland-zahlt-772-millionen-euro-fuer-pflege-von-holocaust-opfern-a-902481.html

11. Mai 2015


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