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INTERVIEW/271: Die Hartz IV Diktatur - eine Verkehrung des Gemeinwohls ...    Inge Hannemann im Gespräch (Teil 2) (SB)


Ich will ja nerven

Gespräch mit Inge Hannemann, der Autorin von "Die Hartz IV Diktatur" (2. Teil)

Lesung und Diskussion am 21. Juni 2015 im Eidelstedter Bürgerhaus, Hamburg


I. Hannemann in Großaufnahme - Foto: © 2015 by Schattenblick

Inge Hannemann
Foto: © 2015 by Schattenblick

Wer die Probe aufs Exempel machen und prüfen will, wieweit es um demokratische Freiheiten und soziale Existenzsicherung in einem Rechts- und Sozialstaat mit festverankerter kapitalistischer Verwertungsordnung wie der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich bestellt ist, wird auf einen klaffenden Widerspruch zwischen Behauptung, Anspruch und Wirklichkeit stoßen. Wer seit Einführung der Agenda 2010 auf Leistungen der Hartz-IV-Armutsverwaltung angewiesen ist, weiß ein traurig und verzweifelt Lied davon zu singen, allzu oft gepaart mit dem süßen Gift der Hoffnung, es könne zu einer Wende zum Positiven kommen, einer Reform der Agenda im Interesse der von ihr Betroffenen und all derer, die sich von dem Sanktionsregime der Jobcenter gefeit fühlen, weil an ihrer Verwertung durch Arbeit noch ein Interesse besteht, sie also in "Lohn und Brot" stehen.

Auf der Basis einer unangetasteten Gesellschaftsordnung, in der die Besitzverhältnisse an den Produktionsmitteln ebensowenig zur Disposition stehen wie die ihnen paßförmigen politischen und administrativen Systeme, die Einlösung des Sozialstaatsversprechens oder anderer Rechte zu fordern, hieße allerdings, die Rechnung ohne die Wirte zu machen. Ob als Erwerbstätige im sogenannten Arbeitsleben stehend oder als Erwerbslose ins soziales Abseits gedrängt, findet sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung im unteren und zunehmend schmelzenden mittleren Bereich einer als Gesellschaftspyramide gedachten Sozialstruktur wieder, in der die Überlebensnöte und -ängste der Betroffenen längst gegeneinander gekehrt wurden.

Zwar gilt der Kapitalismus seit der sogenannten Finanzkrise durchaus als kritikwürdig, doch stets in Maßen, sprich unter fortgesetzter Ausblendung der Tatsache, daß, wer das soziale Antlitz kapitalistischer Verwertung einfordert, ihr zugleich damit sein Okay gibt. Aus Sicht herrschender Eliten, wo auch immer sie in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zu verorten sein mögen, wird eine Protestbewegung, ob parlamentarisch oder außer-parlamentarisch und ungeachtet ihrer noch so berechtigten und bestens begründbaren Forderungen, noch willkommen sein, solange die gesellschaftlichen Instanzen adressiert und Reformen und Verbesserungen von ihnen verlangt werden.

Das Hartz-IV-Regime zum Gegenstand von Kritik und Widerstand zu machen, ohne im selben Atemzug die den Menschen vergesellschaftende Verfügungsstruktur insgesamt auf den Prüfstand zu stellen und daraufhin abzuklopfen, ob nicht die Agenda 2010 ein zwingend erforderlicher Mosaikstein in diesem ebenso fundamentalen wie vielschichtigen Herrschaftsverhältnis sein könnte, käme insofern dem Versuch gleich, unter Aufrechterhaltung der Qual nach ihrer Linderung zu streben. Umgekehrt steht jedoch außer Frage, daß jede Konfrontation mit dieser Widerspruchslage das Potential einer Klärung und Radikalisierung in sich trägt, und so bietet gerade auch der Stoff, den eine couragierte Streiterin wie Inge Hannemann mit ihrem auf einer Lesung im Eidelstedter Bürgerhaus vorgestellten Buch "Die Hartz IV Diktatur - Eine Arbeitsvermittlerin klagt an" liefert, Anlaß und Gelegenheit, Protest und Widerspruch zu vertiefen.

Im zweiten Teil eines Interviews, das der Schattenblick nach der Veranstaltung mit Frau Hannemann führte [1], schildert die ehemalige Arbeitsvermittlerin zunächst ihren eigentlich unbeabsichtigten Weg in die Politik, bevor sich das Gespräch allgemeineren Fragen zu Hartz IV und Gegenprotesten sowie den Verhältnissen und Entwicklungen in anderen europäischen Staaten zuwendet.


Schattenblick (SB): Wie ist es denn dazu gekommen, daß Sie sich in die Politik begeben und jetzt auch in die Hamburger Bürgerschaft haben wählen lassen? Wie hängt das mit Ihrem Hartz-IV-Kampf zusammen?

Inge Hannemann (IH): Das hat sich eigentlich so entwickelt. Damals habe ich gesagt: Ich werde nicht in die Politik gehen. Ich werde mich, wie ich es die ganzen Jahre auch gemacht habe, an Demonstrationen, Kundgebungen und was weiß ich beteiligen, vielleicht auch einmal in kleineren Arbeitskreisen oder Netzwerken. Aber der Schritt in die Politik, der war überhaupt nicht geplant. Vielleicht war das auch ein bißchen naiv gedacht: Ich gehe an die Öffentlichkeit, behalte aber die Bewegung bei und sehe zu, daß ich viel über'n Blog rausgebe, meine Netzwerke habe und so weiter. Dann habe ich aber irgendwann gemerkt: Ich habe auf der einen Seite die außerparlamentarische Bewegung, auf der anderen Seite hängt das aber wirklich auch ganz viel mit politischer Kraft zusammen. Da kam dann schlußendlich die Überlegung: Vielleicht packst du beides zusammen - deine außerparlamentarische Bewegung, die du beibehältst, und die Politik, und versuchst dann, das zu verknüpfen oder noch stärker zu gewichten.

Ich habe mich dann erst in Altona aufstellen lassen für die Bezirksversammlung. Da kam ich dann gleich rein. Es war schon verwunderlich, daß ich überhaupt in Altona auf die Liste kam. Und dann gab es halt die Anfrage: Bürgerschaft? Und ich dachte: Ja, ich riskiere das. Mehr als ein Nein kann's nie werden. Wenn ich es nicht mache, ist es ein Nein, und wenn ich es mache, kann auch nicht mehr als ein Nein bei rauskommen. Es kann mir gar nichts passieren. Deswegen war ich auch ganz hinten auf der Liste, weil ich immer gesagt habe: Ich nehme nicht den Frauen den Platz weg, die schon etabliert, bekannt oder beliebt sind und die Erfahrung haben, sondern ich rücke ganz nach hinten.

SB: Aber gewählt ist gewählt...

IH: Ja, dank des Wahlsystems hier in Hamburg.

SB: Das ist jetzt schon einige Monate her. Können Sie bereits ein erstes Fazit ziehen, was sich für Sie aus der Bürgerschaftsarbeit ergeben hat?

IH: Ich sage immer: Feierabendparlament ist ein falscher Begriff, das ist ein Vollzeitjob. Man vergißt einfach, daß wirklich ein Gros der Abgeordneten auch am Wochenende arbeitet. Ich werde heute (an einem Sonntag, Anm. d. SB-Redaktion) noch drei Stunden Vorbereitung für den Ausschuß morgen haben, das ist einfach so. Man hat am Wochenende auch Veranstaltungen, zu denen man eingeladen wurde und wo man dann abends hingeht. Das alles muß man ja neben seiner eigentlichen Berufstätigkeit auch noch unterkriegen. Ich habe derzeit eine 60- bis 70-Stunden-Woche. Aber die Arbeit macht mir Spaß. Es ist sehr interessant, die Reaktionen in der Bürgerschaft gerade bei der großen Koalition zu beobachten, wenn es um soziale Themen geht. Da kann man feststellen, daß aus Grün Rot wurde, also SPD-Rot. Die CDU wird jetzt ein bißchen rebellischer, weil sie in der Opposition ist, und die AfD ist eigentlich nur zu ignorieren, die gehören da nicht rein, sind aber leider drin. Und ich merke auch, daß ich mit meinen Anfragen und Anträgen - gut, ich hatte jetzt eine Rede in der Bürgerschaft, die nächste kommt am Mittwoch - auch nerven kann. Und das will ich ja, ich will nerven.

SB: Auch Olaf Scholz, den Sie sozusagen aus alten Zeiten kennen?

IH: Ja. Und Sozialsenator Scheele, der ja nicht mehr lange in Hamburg ist.

SB: Wo geht er denn hin?

IH: Der geht nach Nürnberg in die Bundesanstalt für Arbeit. Das ist wirklich unglaublich.

SB: Sie sind hier in der Bürgerschaftsfraktion der Hamburger Links-Partei für Arbeitsmarktpolitik zuständig. Was sind da die Kernpositionen der Partei, und welche Anliegen verfolgen Sie?

IH: Das Endziel ist, wirklich von Hartz IV wegzukommen und eine repressionsfreie Mindestsicherung von 1050 Euro und ein Wohngeld von mindestens 500 Euro zu schaffen, erst einmal hier für Hamburg, und dann weiterzusehen. Ich versuche immer wieder, auch in Zusammenarbeit mit dem Büro von Katja Kipping, das Bedingungslose Grundeinkommen in die Diskussion zu bringen. Wir haben darüber jetzt auf dem Bundesparteitag zum ersten Mal öffentlich diskutiert. Da gibt es jetzt noch keinen Beschluß, aber so eine Art Entwurf oder Antrag.

Ich setze aber die Abschaffung der Sanktionen erst einmal als ersten Schritt, und dann kommt der nächste. Und natürlich müssen wir hier auf die Mißstände aufmerksam machen. Wir haben jetzt einen Antrag eingereicht auf Umbotsleute innerhalb der Job-Center. Das ist jetzt nächste Woche Mittwoch das Thema, weil die unabhängige Beratung für die Erwerbslosen hier in Hamburg letztes Jahr abgeschafft wurde. Das geht gar nicht. Die brauchen wir aber. Und dann folgt im Juli ein Antrag auf Herausgabe der Telefonnummern. Mich nervt hier einfach die Vorgehensweise des Job-Centers.

SB: Wir haben uns schon so ein bißchen gefragt, ob man als Hartz-IV-Bezieher im Grunde Jura studiert haben muß, leicht überspitzt formuliert, um mit den Anträgen zurechtzukommen, ansonsten steht man ja hilflos davor.

IH: Es ist tatsächlich so. Oder man muß zumindest einen Beistand haben, der das erklären kann. Das selbst einmal alles durchlesen, ist wirklich schwierig. Ich will es 'mal so sagen: Wenn das zum Teil nicht einmal die Jobcenter-Mitarbeiter bewältigen können und selbst die sagen, "das ist so komplex, das können wir gar nicht verstehen", wie soll das dann jemand begreifen, der damit womöglich das erste Mal konfrontiert wird?


Inge Hannemann in einem Café am Tisch sitzend - Foto: © 2015 by Schattenblick

Ich sage Chapeau zu Griechenland und Tsipras
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: In dem aktuellen Konflikt zwischen der Troika und Griechenland - das ist jetzt ein anderes Thema, vielleicht aber auch nicht -, wird von Politik und Medien häufig gesagt, die Griechen seien faul, wollten nicht arbeiten, hätten zu hohe Ansprüche und ähnliches. Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor?

IH: In Griechenland passiert dasselbe wie mit den Erwerbslosen, man versucht sie öffentlich zu demontieren. Es ist erschreckend, daß da immer wieder die gleichen Begriffe verwendet werden. Ich frage mich, wenn man so die Medien liest, ob nicht eigentlich die ganze Welt faul sein müßte außer den Medien selbst. Sie sind aber wiederum faul, weil sie gar nicht richtig recherchieren und auch nicht kritisch nachfragen. Von daher kommt mir das durchaus bekannt vor. Ich sage Chapeau zu Griechenland, zu Tsipras und dazu, wie standhaft er ist.

SB: Angesichts der Widerstands- und Protestkultur in Griechenland fällt doch auf, wie problemlos das Hartz-IV-System, von dem zumindest die Partei Die Linke sagt, es sei "Armut per Gesetz", durchgesetzt werden konnte. Wie ist es um die hiesigen Proteste und ihre Effizienz bestellt?

IH: Wir hatten zu Beginn des Jahres 2003 sehr viele Proteste in dem Bereich. Dann gab es diese Demo in Berlin mit knapp 100.000 Menschen, das war schon genial, und schließlich die bundesweiten Montagsdemos "Hartz IV muß weg!", die, glaube ich, immer noch in über 200 Städten stattfinden, Montag für Montag. Das Problem war ja eigentlich, daß sich die Gewerkschaften aus dem Anfangsprotest zurückgezogen haben, was ich sehr stark verurteile. Die Politik hat sich zurückgezogen, außer der Linken jetzt. Damals hatte man zumindest noch ein paar Gelbe gesehen, also die damalige FDP, und einige Grüne, obwohl die das mit durchgeboxt hatten. Das gibt es jetzt gar nicht mehr.

SB: Angesichts dessen, daß auch Bessergestellte, der sogenannte Mittelstand oder kleine Unternehmer innerhalb kürzester Zeit durch Hartz IV aufs unterste Niveau heruntergebrochen werden können, ist eigentlich schwer nachzuvollziehen, wieso eine solche Sozialpolitik nicht Massenproteste quer durch alle Schichten und politischen Überzeugungen hervorgerufen hat.

IH: Bis heute ist es doch so, daß es solche Massenproteste geben sollte und die Leute in Massen vor dem Bundestag, in ihren Städten und überall sonst demonstrieren müßten. Doch wir bekommen die Erwerbslosen fast gar nicht mehr auf die Straße. Entweder, weil ihnen das Geld fehlt, klar. Die müssen sich überlegen: Bezahle ich drei Euro für ein Busticket? Da wird gegengerechnet. Sie sagen: Dafür esse ich einen Tag lang. Viele sind aber auch stigmatisiert, sie haben die physische und psychische Kraft nicht mehr. Und bei der sogenannten Noch-Mittelschicht, da sind wir dran, sie zu sensibilisieren.

Ich merke das in meinen Vorträgen oder wenn ich eine Lesung mache, daß die Hälfte der Leute, die da reinkommen, inzwischen aus der Mittelschicht sind. Nur noch 10 oder 20 Prozent sind Betroffene. Die brauchen meinen Vortrag aber auch nicht, die kennen ihr Elend. Es kommen Gewerkschaftsvertreter, Stadt- und Gemeinderäte. Das hat sich in den letzten eineinhalb Jahren sehr gewandelt, und das finde ich gut so. Wenn man sich das Buch ansieht und genau durchliest, wird deutlich: Das ist eigentlich für Menschen geschrieben, die damit noch nie etwas zu tun hatten, und zwar in "einfacher Sprache" - in Anführungszeichen -, damit ihnen klar wird, was das eigentlich für ein Konstrukt ist. Die Erwerbslosen sagen dann: Das habe ich auch erlebt, genau so ist es.

Was wir brauchen, ist die Unterstützung der Gewerkschaften. Die haben wir aber nicht. Ver.di nimmt da eine ganz, ganz schwache Position ein, auch der DGB, der weiterhin für die Sanktionen ist. Es hilft kein Bsirske oder Hoffmann vom DGB, der sagt: "Wir brauchen einen höheren Mindestlohn", wenn er das System gar nicht versteht. Ich habe Unterstützung erhalten von seiten der IG Metall, erstaunlicherweise, und der GEW. Die sagt: Innerhalb der Unis, bei diesen vielen befristeten Verträgen, über Drittmittel finanziert, sind auch Wissenschaftler natürlich echt betroffen.

SB: Wenn man jetzt die politische Perspektive einmal etwas weiter ausdehnt, auch in außenpolitischer Hinsicht, drängt sich doch die Frage auf, ob die durch Hartz IV heruntergewirtschaftete soziale Realität damit zusammenhängen könnte, daß Deutschland als einer der reichsten Staaten der Welt gilt.

IH: Ich weiß nicht, ob es uns wirklich so gut geht. Frankreich steht gar nicht so viel schlimmer da, das wird nur anders transportiert. Wir in Deutschland haben zum Beispiel weniger Vermögen als die Menschen in Frankreich. Der DGB hat eine ganz, ganz ausführliche Studie erstellt, die besagt, daß wir an Vermögen, jetzt in Geldern oder Gold, gar nicht an erster Stelle stehen, sondern eher im unteren Drittel, und daß Frankreich weit vor uns liegt. Das finde ich hochinteressant.

Aber ich denke, gewollt ist der Niedriglohnsektor mit Hartz IV, das ist die eigentliche Intention gewesen, um erst einmal billig zu produzieren und nach außen auch billig zu exportieren. Das geht natürlich nur, indem ich mir Menschen heranziehe, die ich unter Druck setzen kann wie im Jobcenter, oder wenn ich den Menschen, die im Erwerbsleben stehen, sagen kann: Ja, wenn es dir nicht paßt, dann geh doch! Da stehen zehn andere draußen, die für diesen Lohn arbeiten würden. Wir haben mit dem Hartz-IV-System einen Druck aufgebaut bei Erwerbstätigen und Nicht-Erwerbstätigen.

Auf der anderen Seite ist aber auch interessant, daß zum Beispiel die Zeitung Le Monde in Frankreich immer wieder von 6 Millionen Arbeitslosen in Deutschland schreibt. Der Le Monde ist die einzige Zeitung, die die wahren Zahlen schreibt. Österreich begehrt jetzt gegen Hartz IV auf. Ich habe so Anfang Mai eine Tour durch Südtirol gemacht und war da auf zwei Fachtagungen, wo ich auch referiert habe. Da ging es um einen Vergleich zwischen den europäischen Ländern im Sozialsystem. Und es stellte sich heraus: Kein Land hat ein so niedriges Sozialsystem oder so geringe Regelleistungen wie Deutschland. Die haben alle gedacht: "Oh, Deutschland", und waren total entgeistert, als ich die Zahlen gebracht habe, sogar die in den Medien genannten - nicht daß Sie denken, ich erzähle hier irgendetwas! Da bekommt jedes andere europäische Land mehr Geld, auch auf dem Rentensektor, und da zeigt sich, wie wenig Rente wir haben und wie sich das absenkt. Mit Österreich stehe ich seit Beginn in Kommunikation, auch der "Standard" schreibt da viel drüber, das ist ganz gut. Ich glaube, die wachen so langsam auf.

SB: Wie kommt es denn, daß die sozialen Auseinandersetzungen beispielsweise in Frankreich mit sehr viel mehr Härte und Schärfe geführt werden als in Deutschland?

IH: Die haben andere Gewerkschaften. Das sind Gewerkschaften, die wirklich sagen: Wir sind Gewerkschaften und gehen auf die Straße, weil wir für die Menschen, die uns brauchen, einfach da sind. Die haben eine ganz andere Streitkultur. Ich kenne das noch aus Süddeutschland, wo uns die Franzosen bei Demos in Freiburg und Umgebung immer unterstützt haben. Die sind in Massen rübergekommen. Als es letztes Jahr 'mal hieß, Hartz IV solle in Frankreich eingeführt werden, habe ich mit der französischen Gewerkschaft Kontakt aufgenommen. Und dann haben sie gesagt: "Frau Hannemann, kommen Sie ganz schnell nach Paris. Wir müssen einen Plan machen, wie wir das stoppen können. Bringen Sie Dokumente mit." Wir hatten vorher schon Kontakt gehabt. Und zwei Tage später haben wir dann einen Plan gehabt, wie ein Streik organisiert werden kann, wenn das wirklich kommt und der dortige Arbeitsminister sagt: "Das machen wir jetzt." Bis heute setzen sie es dort nicht um, was andere politische Gründe hat, aber der Plan steht einfach.

SB: Könnte es unter dem Einfluß der Rechten, des Front National, zu einer solchen Entwicklung kommen?

IH: Nein, nein, die stoppen das eher. Die Rechten sind natürlich dafür, sonst wären sie nicht so. Aber die Angst, daß da irgendetwas eskaliert durch den Front National und der Rassismus noch stärker wird, stoppt die dortigen Sozialisten. Die sagen: Wir machen das erst einmal nicht. Deswegen darf man aber natürlich nicht sagen, der Front National sollte stärker werden.

SB: Spielt die EU bei der Ausweitung des Hartz-IV-Systems eine Rolle? Gibt es Bestrebungen, das EU-weit zu koordinieren und dieses Modell, so Staat für Staat, überall einzuführen?

IH: Es gibt die Überlegung, eine EU-Arbeitslosenversicherung einzuführen. Das wurde in einem Buch kurz beschrieben, ich glaube, in "Die Strippenzieher" [2]. Das würde bedeuten, daß man eine einheitliche Arbeitslosenversicherung in ganz Europa macht, auch von der Höhe her. Das ist natürlich Quatsch. Aber diese Bestrebungen oder Überlegungen sind immer noch nicht ganz weg. Irgendein Politiker von der SPD oder der FDP kommt damit immer wieder, 'mal so im Nebensatz, was ich dann irgendwo in den Medien lese. Ich glaube, da darf man gespannt sein, insbesondere, wenn man Herrn Juncker und Herrn Schulz beobachtet.

SB: Das würde dann, wie anzunehmen ist, auf einem unteren Niveau stattfinden und nicht auf dem höchsten.

IH: Das sowieso nicht. Das ist wie beim Hartz-IV-Regelsatz: Der wird ermittelt anhand einer alleinstehenden Person mit einem mittleren Einkommen. Das heißt: In der ganzen Regelleistung wird der tatsächliche Bedarf eines Kindes nicht berücksichtigt. Das sieht man schon, wenn man sagt: 2,30 Euro für Kinderschuhe pro Monat. Da brauche ich selber kein Kind zu haben, um zu wissen, das ist zu wenig. Ich befürchte, daß man dann einen Warenkorb nimmt, der den Durchschnitt von Europa betrifft und der dann da, wo er vielleicht höher ist, auch von der Ermittlung und Berechnung des Bedarfs her gesenkt werden würde. Oder daß beispielsweise das Grundeinkommen in den Niederlanden, das zwar nicht bedingungslos ist, aber mit dem die Menschen schon anders leben können, gekürzt wird. Ich glaube eher nicht, daß es sich zum Positiven wenden würde.

SB: Wenn Sie noch ein Schlußwort auf den Lippen haben...

IH: Wir müssen zurück zu wirklich menschlichen Werten, das heißt zu Menschlichkeit, Empathie und Respekt, und dabei bleibe ich. Respekt vor jedem Menschen, unabhängig davon, welchen Status oder welche Herkunft er hat. Das wäre eine schöne Gesellschaft.

SB: Haben Sie vielen Dank, Frau Hannemann, für dieses lange Gespräch.


Transparent mit der Aufschrift 'Hartz IV Widerstand, um-fair-teilen, Hier: Die Linke.Eimsbüttel' - Foto: © 2015 by Schattenblick

Hartz IV ohne Menschlichkeit - Ralf Peters von der Linkspartei in Hamburg-Eimsbüttel und Inge Hannemann
Foto: © 2015 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] Siehe den ersten Teil des Interviews mit Inge Hannemann im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
INTERVIEW/270: Die Hartz IV Diktatur - eine Verkehrung des Gemeinwohls ...    Inge Hannemann im Gespräch (Teil 1) (SB)

[2] Europas Strippenzieher. Wer in Brüssel wirklich regiert. Von Cerstin Gammelin und Raimund Löw. Econ, 2014


Siehe auch die bisherigen Beiträge zur Lesung mit Inge Hannemann im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/199: Die Hartz IV Diktatur - Eine Arbeitsvermittlerin klagt an ... (SB)
INTERVIEW/270: Die Hartz IV Diktatur - eine Verkehrung des Gemeinwohls ...    Inge Hannemann im Gespräch (Teil 1) (SB)

29. Juni 2015


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