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INTERVIEW/283: EU-Umlastkonverter - geklärte Fronten ...    Gregor Kritidis im Gespräch (SB)


Austeritätspolitik in ganz Europa zum Thema machen

"Griechenland, EU und Euro in der Krise" - Interview am 6. November 2015 in Hamburg-Wilhelmsburg


G. Kritidis in Großaufnahme - Foto: © 2015 by Schattenblick

Gregor Kritidis
Foto: © 2015 by Schattenblick

Der Sozialwissenschaftler Dr. Gregor Kritidis hat mit seinem Buch "Griechenland - auf dem Weg in den Maßnahmestaat? Autoritäre Krisenpolitik und demokratischer Widerstand" [1] im September 2014 ein Werk vorgelegt, in dem er klarstellt, daß die massive soziale Verelendung der griechischen Bevölkerung keineswegs eine unerfreuliche Begleiterscheinung einer im übrigen alternativlosen Sparpolitik ist, sondern die repressiven, in der gesamten EU vorherrschenden Verfügungsverhältnisse in einer Art Vorreiterrolle zum Ausdruck bringt.

In der Hamburger Veranstaltungsreihe zum Thema "Griechenland, EU und Euro in der Krise" [2] hielt er am 6. November im Bürgerhaus Wilhelmsburg einen Vortrag zum Charakter der herrschenden Klasse in Griechenland [3] und stellte sich dem Schattenblick für einige Fragen zur Verfügung.


Schattenblick (SB): Vor fünf Jahren hast du im Internetmagazin sopos einen Artikel zum Thema "Testfeld Griechenland. Die Diktatur der Gläubiger ist das Pilotprojekt für den Angriff auf die Unter- und Mittelschichten in ganz Europa" [4] geschrieben, der immer noch total aktuell anmutet. Was würdest du aus heutiger Sicht sagen, war deine Analyse zutreffend oder wurde sie von der Entwicklung sogar noch überholt?

Gregor Kritidis (GK): Ich glaube, die herrschenden Klassen in Europa sind schon ein großes Stück vorangekommen bei der Umsetzung dieses Projektes. Ich hätte damals zumindest erwartet, daß es mehr und umfangreicheren Widerstand gibt, aber das ist eigentlich bisher in keinem Land der Fall gewesen. Wir haben eine Verfassungskrise in Portugal, über die man hierzulande wenig liest und hört, aber das ist im Prinzip genau dasselbe Problem wie in Griechenland. Über die Konflikte in Irland oder in Italien liest man auch relativ wenig. Aber grosso modo wird das mittlerweile auf gesamteuropäischer Ebene systematisch betrieben, etwa mit der Kommission "Arbeit der Zukunft" zur Beratung der Tarifpartner bei der Lohnfindung, was eingeführt werden soll. Das ist schon eine gesamteuropäische Angelegenheit.

SB: Du hältst hier heute einen Vortrag zum Thema "Die Analyse der herrschenden Klasse in Griechenland". Da wollte ich gern einmal auf dem Klassenbegriff zu sprechen kommen. Wo liegen seine Stärken, aber vielleicht auch Schwächen als Instrument der Analyse? Wie schätzt du seine Nützlichkeit heute ein?

GK: Das muß man natürlich immer relativ konkret versuchen zu füllen, denn wer oder was ist die Arbeiterklasse? Hat sie eine Adresse, kann man da mitmachen? Dieser Begriff ist zunächst einmal der Versuch, gesellschaftliche Konflikte zu fassen im Gegensatz zu Schichten. Schichten können sich irgendwie übereinander stapeln, Klassen kämpfen gegeneinander. Das ist eigentlich das, was ich wichtig und interessant am Klassenbegriff finde: die Erklärung gesellschaftspolitischer Großkonflikte. Dazu taugt der Klassenbegriff, und da läßt sich dann politisch-soziologisch immer noch relativ gut auseinanderklamüsern, worum es geht.

In Griechenland beispielsweise besteht ein großer Teil der Bevölkerung aus kleinen Selbständigen. Das prägt natürlich auch die sozialen Bewegungen und ist zum Teil sogar maßgeblich, während diejenigen, die klassischerweise unter Arbeiterklasse verstanden werden, also wirkliche Fabrikarbeiter, in Griechenland eine relativ kleine Schicht bilden, die sehr aktiv ist, sehr viel macht und auch historisch eine große Rolle gespielt hat. Dann gibt es zum Beispiel viele Mischformen aus Lohnarbeit in Kombination zum Beispiel mit Landwirtschaft oder kleinerer Selbständigkeit. So etwas prägt den Charakter eines Landes natürlich enorm, und da läßt sich eben auch aufzeigen, warum welche Konflikte wie zustandegekommen sind.

SB: Du hast 2010 auch erwähnt, daß die methodischen Möglichkeiten der Wirtschaftswissenschaften eigentlich völlig unzureichend sind, um das Geschehen überhaupt zu erfassen. Gibt es aus deiner Sicht kritische wissenschaftliche Ansätze, die sich in dieser Hinsicht bewährt haben?

GK: Es gibt mittlerweile durchaus wieder eine breite Diskussion unter kritischen Ökonomen, vor allen Dingen den marxistischen, die im Mainstream natürlich nicht wahrgenommen werden oder die, wie man es eigentlich schärfer formulieren muß, ausgegrenzt werden. Da gibt es eine ganze Reihe sehr guter Ansätze.

SB: In Deutschland bzw. deutschen Medien wird, wenn man nach Griechenland blickt, eigentlich überwiegend nur Syriza wahrgenommen, dabei gibt es noch viele andere Strömungen jenseits der traditionellen Parteien. Welche Rolle spielen die verschiedenen Bewegungen und Organisationen in diesem Spektrum?

GK: In Griechenland gilt Syriza eigentlich gar nicht als klassisch zur Linken zugehörig. Das ist eine reformistische Partei, zumindest aus Sicht der Kommunistischen Partei und der außerparlamentarischen marxistischen Linken und auch aus Sicht der Anarchisten. Es ist eine Strömung, die mittlerweile, in den letzten 25 Jahren, an Gewicht gewonnen hat. Als klassisch links gelten eigentlich eher die kommunistischen Strömungen. Die Kommunistische Partei ist in ihren Grundpositionen sehr dogmatisch, aber in taktisch-politischer Hinsicht doch sehr beweglich. Und man muß fast sagen, daß sie mit ihrer Position eine gewisse Rechtfertigung erfahren hat nach den Ereignissen in diesem Sommer, weil sie von Anfang an gesagt hat: Wir wollen uns an dem Projekt Syriza weder aktiv noch passiv beteiligen. Daraus spricht natürlich eine historische Erfahrung, daß die Parteien, die große Teile der Mittelschicht mitrepräsentiert haben, im Zweifelsfall immer auch das Bündnis gebrochen haben.

Dann gibt es noch eine relativ wichtige neue linke Strömung, die im Wahlbündnis Antarsya mitmacht. Ursprünglich war das eine Abspaltung der Kommunistischen Partei, von einem Teil der Intellektuellen und einem Großteil der kommunistischen Jugend. Sie spielt eine erhebliche Rolle bei den gewerkschaftlichen Basisverbänden, ist sehr aktivistisch und trägt erheblich zu den sozialen Bewegungen bei. Und es gibt natürlich noch ein breites Feld undogmatischer linker Strömungen ganz unterschiedlicher Provenienz, die jetzt nicht zu Wahlen kandidieren, aber bei den sozialen Bewegungen eine große Rolle spielen, was sich auch gezeigt hat, als sich nach der Kapitulation der griechischen Regierung im Juli ein Großteil von der Partei verabschiedet oder zumindest von ihr Abstand genommen hat - auch die, die nicht formell organisiert waren.

Das Wahlergebnis vom 20. September hat gezeigt, daß die Wahlbeteiligung relativ niedrig war. Syriza hat zwar seinen Wahlanteil halten können, aber an absoluten Stimmen erheblich verloren - über 300.000, vielleicht 320.000 Stimmen. Das zeigt, daß viele der aktiven Leute an der Basis, in den sozialen Projekten und in den Bewegungen im Grunde diesen Versuch, mit Wahlen an der Austeritätspolitik etwas zu ändern, als gescheitert betrachten. Mittlerweile gibt es eine sehr umfangreiche Strategiediskussion zu der Frage, wie es jetzt eigentlich weitergehen kann und welcher Ansatz jetzt erfolgversprechend ist.

SB: Lange Zeit gab es Differenzen zwischen der KKE und anderen Gruppierungen. Hat sich das aufgrund der aktuellen Entwicklung deiner Erfahrung nach etwas entschärft? Gibt es da eine Annäherung oder vielleicht auch so etwas wie neue Bündnisse?

GK: Bisher gibt es keine neuen Bündnisse. Auch die Linksabspaltung von Syriza hat nicht zu einer übergreifenden Diskussion geführt. Es gibt schon eine Diskussion, aber man kann jetzt nicht sagen, daß es in irgendeiner Weise ein neues linkes Projekt der Kommunistischen Partei, der Linksabspaltung von Syriza und anderen Gruppen gibt. Es haben sich Leute aus der außerparlamentarischen Linken einem Teil der Strömungen und Gruppierungen der Linksabspaltung von Syriza angeschlosssen.

SB: Werner Rügemer hat in einem Text von 2010 mit dem Titel "Griechen aller Länder vereinigt euch" [5] die Position vertreten, daß der Griechenland aufgezwungene Sparkurs erst der Anfang sei, ein Vorreiter einer Entwicklung in allen EU-Staaten inklusive Deutschlands. Wie weit wird dies deiner Einschätzung nach in den vielen Solidaritätsgruppen und -netzwerken, die es hier in Deutschland gibt, auch so gesehen?

GK: Ich glaube schon, daß das in den Griechenland-Solidaritätsgruppen, die es überall gibt, so gesehen wird, auch im großen, weiten Feld der Linken in der Bundesrepublik. Aber wenn man sich zum Beispiel die Gewerkschaften anschaut, kann man feststellen, daß es da zwar auch eine Menge guter Positionspapiere gibt, aber wirklich passiert im Sinne einer konkreten Aktivität ist da natürlich nichts oder nur sehr wenig. Das sind immer noch kleine Gruppen und einzelne, die da in diese Richtung agieren und sagen: Im Grunde müssen wir die Austeritätspolitik in ganz Europa zum Thema machen.

Mittlerweile haben sich die Gewerkschaften auch auf den Standpunkt gestellt, daß jetzt erst einmal die Schuldenbremse ausgesetzt werden muß. Das ist schon eine Kritik an der Austeritätspolitik, aber hat natürlich noch keinen mobilisierenden Effekt. Es wird auch nicht richtig versucht, in dieser Richtung zu mobilisieren, obwohl das wirklich viele betrifft. Kleine Kommunen werden ja auch behandelt wie Griechenland. Ihnen wird vorgeschrieben, was sie zu tun und zu lassen haben. Es finden Zwangsfusionen statt, natürlich immer mit dem Druckmittel der Schulden. Aber daß das jetzt schon wirklich ein breites Thema wäre, würde ich nicht sagen.

SB: Die Frage "Austritt aus der Eurozone?" oder möglicherweise auch aus der EU scheint so etwas wie ein rotes Tuch zu sein. Wie wird sie in Griechenland oder auch hier in der Solidaritätsszene deiner Erfahrung nach diskutiert?

GK: Die Diskussion in Griechenland hat auf jeden Fall an Fahrt gewonnen. Das hängt natürlich mit den Erfahrungen vom Sommer zusammen. Denn wie will man denn die Austeritätspolitik überwinden, wenn die andere Seite sagt: Das wollen wir nicht und wenn ihr nicht macht, was wir euch sagen, dann drehen wir euch den Liquiditätshahn zu? Das war das zentrale Druckmittel. Und das ist auch die zentrale Fehlkonstruktion der Eurozone, wenn man denn überhaupt von einer Fehlkonstruktion reden will. Die einzelnen Länder haben keine Zentralbank, mit der sie irgendwie Geld- oder Währungspolitik machen können, und hinter der Europäischen Zentralbank steht keine demokratisch legitimierte Regierung, sondern die Versammlung der Regierungen der Einzelstaaten und so exklusiver Clubs wie dem der Wirtschaftsminister der Eurozone.


G. Kritidis während des Interviews - Foto: © 2015 by Schattenblick

Wer ist bereit, den Konflikt mit der EU durchzufechten?
Foto: © 2015 by Schattenblick

Dann stellt sich natürlich die Frage: Wenn man wirklich dagegen vorgehen will, muß man im Zweifelsfalle auch bereit sein, diesen Konflikt durchzufechten, und wenn einem Land wie Griechenland die Liquidität abgeschnürt wird, ist doch die zwangsläufige Folge, daß man in irgendeiner Weise eine Parallelwährung oder eine eigene Währung auflegen muß. Das ist unvermeidlich und insofern dann eher die Folge einer Verschärfung eines Konfliktes, als daß man sagen könnte: Wir treten jetzt aus der Eurozone aus. Die Mitgliedschaft oder Nicht-Mitgliedschaft in einem Währungsgebiet ist ja kein Ziel an sich, sondern es geht um die Austeritätspolitik. Und da stellt sich natürlich schon für die einzelnen Länder die Frage: Wie wollen wir dagegen vorgehen, wenn wir nicht auch das Mittel einsetzen wollen, im Zweifelsfalle eine eigene Geldzirkulation zu organisieren?

SB: Es gibt inzwischen auch eine Initiative von Mélenchon, Varoufakis, Lafontaine und anderen, die versucht haben, angesichts der jüngsten Entwicklungen so etwas wie ein Zwischenmodell, also ein neues Währungsmodell, vorzuschlagen. [6] Siehst du darin eine Möglichkeit, die man weiterverfolgen sollte?

GK: Das ist ein Vorschlag und eine Diskussion, von der ich glaube, daß sie zumindest die Debatte in dieser Frage auflockert, weil es insbesondere in Deutschland ein Riesenproblem ist zu sagen, daß man die Eurozone bzw. die Währungsunion für ein schlechtes Projekt hält, das man im Grunde möglichst schnell auflösen müßte. Das ist fast so, daß man eher gegen den Kapitalismus sein kann als gegen die Europäische Union oder gegen die Eurozone. Das ist absurd, aber so ist es. Was aber haben Völkerverständigung oder internationale Kooperation zwingend in diesem Währungsprojekt zu suchen? Das ist eigentlich nicht einleuchtend.

SB: Lassen sich aus sozialwissenschaftlicher Sicht begründete Prognosen darüber erstellen, was bei einem Austritt aus der Eurozone passieren würde? Vielfach wird die These vertreten, daß ein solcher Fall zu Katastrophen führen würde.

GK: Genau. Die Argumentation ist immer: Dann werden die Mineralölprodukte teurer, die Medikamente werden knapp und können nicht mehr bezahlt werden, und, und, und ... Aber das ist alles jetzt schon der Fall. Wirtschaftlich gesehen hätte ein Austritt Griechenlands aus der Währungsunion mittel- und langfristig für die griechische Wirtschaft eigentlich eher Vorteile. Sie würde einfach konkurrenzfähiger werden durch die Möglichkeit der Abwertung. Natürlich würden die Importe teurer werden, aber das ist ein eher lösbares Problem. Zum Schutz der eigenen Wirtschaft wäre ein Austritt eigentlich sinnvoll.

Es ist nicht so, daß Syriza nicht aus der Währungsunion rausgehen oder auf keinen Fall riskieren will, rausgeschmissen zu werden, weil das ökonomisch ein Riesenproblem werden würde, sondern aus politischen Gründen. Man muß das eigentlich umdrehen und sagen: Syriza hat sich für die Eurozone entschieden, obwohl es wirtschaftliche Nachteile für die griechische Ökonomie mit sich bringt, in der Währungsunion zu bleiben. So herum ist das eigentlich zu betrachten, und das gilt natürlich für die anderen Länder der europäischen Peripherie genauso.

Wenn es also Vorschläge gibt, in irgendeiner Weise zu einem Übergang zu kommen, der den einzelnen Ländern wieder mehr Gestaltungsspielraum läßt, finde ich das insofern nur zu begrüßen und auf jeden Fall eine sinnvolle Diskussion. Denn das Ganze ist eher ein politisches Problem, bei dem sich die Frage stellt, mit welchen Konflikten das eigentlich verbunden ist und ob man bereit und in der Lage ist, sie einzugehen oder ob man sagt, das ist politisch zu riskant und dann lieber versucht, innerhalb Europas ein Mindestmaß an Kooperation aufrechtzuerhalten. Aber man sieht schon an der Flüchtlingsfrage, daß das nicht der Fall ist. Was also hält Europa eigentlich zusammen? Die Währungsunion als solche kann es ja gar nicht sein. Also was ist das positive Ziel einer Europäischen Union, die zumindest im Sommer und Spätsommer insbesondere durch die Flüchtlingsströme ziemlich in Frage gestellt worden ist?

Was ist die Europäische Union mehr als ein Zusammenschluß von Staaten, die alle auf ihren Vorteil bedacht sind und in dem es eine starke Achse zwischen Deutschland und Frankreich gibt, die den anderen mehr oder weniger aufdrückt, was sie zu tun oder zu lassen haben? Aber man kann auch sehen, daß die Gestaltungsmacht Deutschlands in den einzelnen Ländern begrenzt ist. Die Deutschen können nicht einfach sagen: Ihr nehmt jetzt so und so viele Flüchtlinge auf und macht dies und das. Der positive Gestaltungsspielraum ist gar nicht so groß. Was bleibt dann eigentlich von Europa? Wenn es gerade gut läuft so in Schönwetterperioden, funktioniert das so halbwegs, aber in der Krisenphase der letzten Jahre hat sich das europäische Projekt als sehr brüchig erwiesen.

SB: Glaubst du denn, daß die Krise überhaupt eine Übergangserscheinung ist oder wird sie sich genauso oder noch schlechter weiterentwickeln?

GK: Das ist natürlich Spekulation. Aber nach allem, was ich weiß und vermuten würde, ist das eigentlich fast eher ein Dauerzustand. Ich sehe auch keine Anzeichen, daß in irgendeiner Weise grundlegende Strukturprobleme, weder innerhalb der Europäischen Union noch im kapitalistischen Weltsystem, gelöst werden würden in dem Sinne, daß es jetzt über eine längere Periode eine Stabilisierung und ein starkes ökonomisches Wachstum geben würde.

SB: Die Europäische Union wird häufig als alternativlos dargestellt. Auch wenn Europa und Lateinamerika streng genommen nicht vergleichbar sind, könnte man doch in die Debatte werfen, ob sich die europäischen Staaten nicht zu einem Kooperationsprojekt wie ALBA zusammenschließen könnten, zumal sie nicht zwingend an ein Projekt wie die EU in ihrer jetzigen Gestalt gebunden sind. [7]

GK: Das ist natürlich eine Diskussion, die insbesondere in Deutschland relativ unterentwickelt ist. Die politischen Konfliktlinien verlaufen auch eher in der Defensive, so daß eigentlich über positive Konzepte wenig nachgedacht wird, und wenn doch, wie bei Habermas beispielsweise, sind sie empirisch relativ schwach unterfüttert. In seiner Auseinandersetzung mit Streeck [8], das muß man schon sagen, bringt Streeck, was das empirische Material betrifft, eigentlich die besseren Argumente, obwohl diese Forderung, sich auf den Nationalstaat zurückzuziehen, natürlich auch mehr als fragwürdig ist. Aber die Diskussion über Alternativen ist immer noch, wie ich finde, ziemlich schwach entwickelt.

SB: Die EU-Verträge sehen die Möglichkeit der militärischen Intervention im Katastrophenfall vor, wenn die bedrängte Regierung eines Mitgliedsstaates sie anfordert. Siehst du für Griechenland die Gefahr eine Intervention von außen oder eventuell auch einer Machtübernahme durch die eigenen Militärs?

GK: Bisher eigentlich nicht. Innerhalb der EU wäre das ein Präzedenzfall, der eigentlich eher zum sofortigen Zerfall der Gesamt-EU führen würde. Ich wüßte auch gar nicht, wer das politisch durchsetzen wollte. Man wird ja sehen, wie es jetzt zum Beispiel auch mit Großbritannien weitergeht. Da ist ja - vorsichtig formuliert - die Lockerung aus den Strukturen der Europäischen Union in der Diskussion schon weit vorangeschritten. In Griechenland glaube ich nicht, daß es irgendwie die Gefahr eines Eingreifens des Militärs gibt. Bei den ersten Kürzungsbeschlüssen 2010 gab es noch jede Menge Offiziere, die ihren Hut genommen haben und vorzeitig in den Ruhestand gegangen sind, um noch in die bessere Rentenregelung zu kommen. Eine Armee, die putschen will, verhält sich eigentlich anders.

Im Grunde haben wir eher die Situation, daß mit den Kreditverträgen im staatsrechtlichen Sinne weitgehend staatsstreichähnliche Verhältnisse eingeführt worden sind. Die griechische Verfassung ist gebrochen worden, auch das Völkerrecht ist an vielen Punkten überschritten bzw. ebenfalls gebrochen worden. Mit europäischem Recht hat das alles relativ wenig zu tun, insofern ist es im Grunde schon seit 2010 eine Art Ausnahmezustand, der durch die Regierung von Syriza und den Unabhängigen Griechen jetzt auch nicht verändert worden ist.

Man könnte natürlich fragen, ob das nicht ohnehin ein Problem ist, das man frühzeitig hätte thematisieren müssen, nämlich, daß man aus dieser Zwangsjacke mit den üblichen legalen demokratischen Mitteln eigentlich gar nicht mehr rauskommt, weil es schon ein Zustand ist, der vielleicht nicht in der Illegalität, aber doch außerhalb der Legalität liegt. Zahlreiche Rechtsgrundsätze sind durchbrochen worden. Wie will man denn so eine Situation wieder einfangen? Das ist ein grundsätzliches Problem. Gut, es gibt jetzt, zumindest formal, in Griechenland eine demokratische Mehrheit, und da stellt sich diese Frage ohnehin nicht. Solange die Regierung jetzt macht, was die Gläubiger von ihr verlangen, ist das relativ weit weg.

SB: Aktuell gibt es wieder Proteste und Streiks. Für den 12. November haben die Gewerkschaften zum Generalstreik aufgerufen. Ist das eine Mobilisierung auch gegen Syriza?

GK: Oh ja. Das geht gegen Syriza, gegen die Austeritätspolitik und gegen die Forderungen der Gläubiger, die jetzt in zahlreiche Gesetze übersetzt worden sind. Es gibt Proteste nicht von allen, aber doch von sehr vielen gesellschaftlichen Gruppen, und es gibt wieder Streiks. Es ist im Moment nicht ganz abzusehen, wie weit sich das alles noch zuspitzen wird, aber es ist auf jeden Fall eine Mobilisierung gegen die Regierung Syriza. Und dann wird man natürlich sehen, wie sie sich dazu verhält. In der Frage des Zaunes am Evros, der ja auch sehr umstritten ist, hat sich die Regierung klar positioniert: Der bleibt so, wie er ist. Das heißt, daß alle Flüchtlinge, die von der Türkei aus übersetzen, gerade jetzt in den Herbststürmen vom Ertrinken bedroht sind. Da hat es eine Mobilisierung gegeben, die durchaus sehr massiv gewesen ist und an der sich eben auch Teile von Syriza beteiligt haben. Das ist natürlich auch eine interessante Sache, wenn Teile der regierenden Partei gegen die Regierung mobilisieren. Ich vermute, daß Syriza mittelfristig das Schicksal aller anderen Parteien, die die Vorgaben der Gläubiger umgesetzt haben, teilen wird und daß ihnen die Aktivisten und vor allen Dingen auch die Wähler weglaufen.

SB: Zum Abschluß möchte ich noch einen kleinen Sprung in die politische Theorie machen. Die Gruppe Arbeiterpolitik, die sich in der Nachkriegszeit von der KPD, der SEW und der Sozialdemokratie abgrenzte, ist heute hier Mitveranstalter. Sie bezieht sich auf die Analysen des kommunistischen Politikers August Thalheimer. Könntest du dessen Arbeiten ein wenig erläutern?

GK: Es gibt von Thalheimer zum Beispiel eine aufschlußreiche Analyse der Nachkriegssituation. Er hat im Exil in Kuba schon 1945/46 genau vorhergesehen, daß sich die Welt in drei große Lager aufteilt - den staats- bzw. realsozialistischen Osten, den kapitalistischen Westen und dann quasi die Underdogs im Trikont, also in der Dritten Welt - und daß im Grunde die große Dynamik der gesellschaftlichen Veränderungen von seiten der Dritten Welt kommen wird. Damit hat er natürlich vollkommen recht gehabt. Die Entstehung der Bandung-Staaten, also die blockfreie Bewegung, hat ja eine enorme Auswirkung gehabt, das hat die Konflikte bis weit in die 80er Jahre bestimmt. Insofern war das schon eine sehr vorausschauende und gute Analyse.

Ich finde auch seine Faschismus-Analyse, die er Ende der 20er Jahre, also zu einem relativ frühen Zeitpunkt, gemacht hat, hervorragend. Die hat natürlich auch ihre Schwächen, aber im Grunde war es der Versuch, wirklich politisch-soziologisch zu analysieren, was für Strömungen und Bewegungen das eigentlich sind. Er hat sich da auch auf die Bonapartismus-These von Marx gestützt von der Verselbständigung des Staatsapparates, gestützt auf eine faschistische Massenbewegung, die relativ unabhängig agiert von einzelnen Kapitalfraktionen und so quasi einen Ausweg aus einer bestimmten Krisensituation eröffnet. Das war schon eine sehr gute Analyse, aus der man, wie ich finde, noch eine Menge lernen kann auch für die Analyse heutiger Gegebenheiten, auch wenn die sich natürlich stark verändert haben.

SB: Hältst du es für möglich, daß die Beschäftigung mit der kommunistischen Opposition, ihren historischen Erfahrungen und spezifischen Auffassungen heute nützlich sein könnte?

GK: Sie kann auf jeden Fall eine Menge Anregungen geben. Die Analysen der Austromarxisten, zum Teil auch von linken Sozialdemokraten aus den 20er, 30er Jahren, sind, was die faschistischen Bewegungen betrifft, ein guter Anknüpfungspunkt. Man kann das natürlich nicht übertragen, aber man kann sich inspirieren lassen, um - was heute, wie ich finde, besonders wichtig ist - dem Ganzen ein soziologisches Unterfutter zu geben und auch ökonomische Fragen mit zu behandeln. Die große Faschismus-Analyse von Franz Neumann [9] ist einfach unübertroffen. Auch spätere wissenschaftliche Arbeiten haben im Kern keine neuen Erkenntnisse zu Tage gefördert, das ist sowohl theoretisch als auch empirisch gut durchdacht. In dieser Tradition, glaube ich, kann man ganz gut weiterarbeiten.

SB: Vielen Dank, Gregor, für dieses Gespräch.


Fußnoten:


[1] Siehe die Rezension seines Buches "Griechenland - auf dem Weg in den Maßnahmenstaat?" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BUCH → SACHBUCH:
REZENSION/645: Gregor Kritidis - Griechenland - auf dem Weg in den Maßnahmestaat? (SB)

[2] http://www.kapitalismus-in-der-krise.de/

[3] Siehe den Bericht zur Veranstaltung im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
BERICHT/216: EU-Umlastkonverter - Wertschöpfungskolonie Griechenland ... (SB)

[4] http://www.sopos.org/aufsaetze/4b9914d82c6cc/1.phtml

[5] Werner Rügemer, Griechen aller Länder, vereinigt Euch! Junge Welt vom 24.2.2010

[6] In einer von Oskar Lafontaine, Jean-Luc Mélenchon (Parti de Gauche, ehemaliger französischer Minister für Berufsbildung), Gianis Varoufakis (ehemaliger griechischer Finanzminister) und anderen am 12. September vorgestellten Erklärung wurde die vollständige Neuverhandlung der europäischen Verträge und - bis dahin - eine europaweite Kampagne zivilen Ungehorsams vorgeschlagen.
www.jungewelt.de/2015/09-14/021.php

[7] ALBA ist das Kürzel der "Bolivarischen Allianz für die Völker unseres Amerikas", der in Mittel- und Südamerika sowie der Karibik die Staaten Antigua und Barbuda, Bolivien, Kuba, Dominica, Ecuador, Honduras, Nicaragua, St. Vincent und die Grenadinen sowie Venezuela angehören. Um die Abhängigkeit vom US-Dollar und damit auch den USA zu verringern, hat das Bündnis eine gemeinsame Währung, den Sucre, eingeführt. Diesem Währungsbündnis ist 2013 auch Uruguay beigetreten.

[8] Wolfgang Streeck ist Soziologe und Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Sein 2013 erschienenes Werk "Gekaufte Zeit" löste eine Kontroverse über die Reformierbarkeit der EU aus.

[9] Franz Neumann war ein deutsch-amerikanischer Politologe und Jurist. Als Student nahm er 1918/19 an der Novemberrevolution teil und trat in die SPD ein. Nach seiner Verhaftung im April 1933 emigrierte er nach England und 1936 in die USA, wo er mit namhaften Vertretern der emigrierten Frankfurter Schule - Theodor Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse - zusammenarbeitete. Ab 1950 war er auch an der FU Berlin tätig.


Veranstaltungsreihe "Griechenland, EU und Euro in der Krise" im Schattenblick
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

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BERICHT/214: EU-Umlastkonverter - Viel Feind', viel Ehr' ... (SB)
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21. November 2015


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