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INTERVIEW/297: Treffen um Rosa Luxemburg - Revolutionärer Lernprozeß ...    Domenico Losurdo im Gespräch (2) (SB)


Sozialismus - weder verraten noch gescheitert

Interview am 10. Januar 2016 in Berlin


Im ersten Teil des Interviews mit dem italienischen Philosophen und Publizisten Domenico Losurdo kamen die maßgeblichen imperialistischen Kriegstreiber, der ökonomische Kolonialismus und die vermeintliche Gewaltlosigkeit Gandhis zur Sprache. Der nun folgende zweite Teil des Gesprächs thematisiert die angeblichen Religions- und Kulturkriege der Gegenwart, die historische Bewertung Stalins sowie die sozialistische Perspektive.


Im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Domenico Losurdo
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Ethnisch oder religiös konnotierte Kriege größeren Ausmaßes schienen lange ein Relikt aus einer mehr oder minder fernen Vergangenheit zu sein. Im Zuge des proklamierten "Kampfs der Kulturen" wurden sie wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Auf welche Weise werden militärische Auseinandersetzungen unter diesem Vorzeichen initiiert und befeuert?

Domenico Losurdo (DL): Wir dürfen in diesem Zusammenhang die Verantwortung des Westens nicht vergessen oder verschweigen. Wie wurde der zweite Golfkrieg 2003 gegen den Irak seitens des Westens vorbereitet und durchgeführt? In aller Offenheit unterstützte man die Schiiten gegen den Sunniten Saddam Hussein, worauf man nach dem Bürgerkrieg versuchte, umgekehrt die Sunniten gegen die Schiiten auszuspielen. Das vollständige Zerwürfnis zwischen Sunniten und Schiiten ist das Ergebnis der neokolonialen Kriege, die im Mittleren Osten ausgetragen wurden. Ich habe in meinem gestrigen Vortrag von den Plänen US-amerikanischer Neokonservativer gesprochen, die schon 2003 eine Fragmentierung des Irak ins Auge faßten. Heute gehen amerikanische Strategen daran, nach dem Irak auch Syrien auf diese Weise zu zerschlagen.

Das war auch die Tragödie Jugoslawiens, das zwar als einheitlicher Staat mit inneren Problemen zu kämpfen hatte, die jedoch ohne weiteres lösbar gewesen wären. Was in Jugoslawien und dem Mittleren Osten in den letzten Jahren geschehen ist, läßt sich als Fortsetzung der klassischen imperialistischen Politik ausweisen, die nach Übermacht strebt, indem sie die Bevölkerung ethnisch und religiös spaltet, um sie zu beherrschen.

SB: Stalin ist nicht nur im bürgerlichen Lager, sondern auch unter Linken eine ausgesprochene Reizfigur, an der sich die Geister scheiden. Zu welchen Schlüssen sind Sie im Zuge Ihrer Forschungssarbeit gelangt, die eine Neubewertung dieser höchst umstrittenen historischen Persönlichkeit vorgenommen hat?

DL: Was die Bewertung Stalins betrifft, können wir zwei Aspekte unterscheiden. Ein Aspekt betrifft die Mythologie. Heute sind nicht nur Kommunisten, sondern auch kompetente Exponenten der bürgerlichen Geschichtsschreibung der Auffassung, daß um diese Figur eine unglaubwürdige Mythologie aufgebaut worden ist. Beispielsweise räumen inzwischen auch bürgerliche Historiker die bemerkenswerte strategische Intelligenz Stalins ein. Ich kann in diesem Zusammenhang das Buch "Stalin's Wars" des britischen Geschichtswissenschaftlers Geoffrey Roberts nennen, der kein Kommunist ist, aber Stalin dennoch in dieser Hinsicht einen hohen Rang zuweist. Indessen ist die Mythologie, die sich um jede bedeutende historische Persönlichkeit rankt, ein Aspekt, den ich im Sinne unserer Fragestellung für nachrangig erachte.

Wesentlicher ist demgegenüber die häufig kolportierte Auffassung, daß Hitler und Stalin gewissermaßen Zwillingsbrüder gewesen seien. Meine These lautet hingegen - und das ist fast schon eine Banalität -, daß sie Todfeinde waren. Von Anfang an haben Hitler und Stalin absolut konträre Projekte verfolgt. Hitler steht für die Fortsetzung und schreckliche Verschärfung der kolonialen Tradition. Er hat schon frühzeitig erklärt, daß die Kolonien des Dritten Reiches im Osten lägen. In "Mein Kampf" und damit lange vor der Machtergreifung hat er geschrieben, daß Deutschland sein koloniales Imperium nicht in Afrika, sondern in Osteuropa und hauptsächlich in der Sowjetunion aufbauen müsse. Churchill zufolge herrschten dort die Barbaren, so daß Deutschland fast schon die Pflicht hatte, ein östliches Kolonialreich zu errichten, um diese Barbarei unter Kontrolle zu bringen.

Dem stand Stalins Position diametral gegenüber, der schon vor der Oktoberrevolution schrieb, daß die Westmächte Rußland als koloniale Beute betrachteten. Ihm war bewußt, daß sein Land nach dem Ersten Weltkrieg Gefahr lief, eine Kolonie zu werden. Stalin hatte zumindest eine vage Ahnung, daß der nächste Krieg gegen Rußland ein Krieg zwischen Kolonialismus und Antikolonialismus sein würde. Heute bestätigen viele namhafte bürgerliche Historiker, daß Hitlers Aggression gegen die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg dem Versuch geschuldet war, eine Kolonialreich im Osten aufzubauen. Folglich war die sowjetische Reaktion unter Stalin eine antikoloniale Antwort. In einem meiner Bücher, das in Kürze auch in deutscher Ausgabe erscheinen wird, zitiere ich eine Ansprache Himmlers vor seinen Nazikameraden. Da er in diesem Kreis frei sprechen könne, mache er kein Hehl daraus, daß Deutschland Sklaven brauche, die man in Osteuropa und vor allem in Rußland finden werde.

Es wäre lächerlich, in einem Krieg zwischen Sklavenhaltern und Sklaven diese beiden absolut konträren Seiten gleichzusetzen. Nicht lange nach der fanzösischen Revolution kam es in Santo Domingo, das heute Haiti heißt, zu einer Erhebung der Sklaven, die von Toussaint L'Ouverture angeführt wurde. Diese Revolution schaffte die Sklaverei ab und beendete zugleich die koloniale Herrschaft. Napoleon entsandte seinen Schwager mit einer gewaltigen Armee nach Santo Domingo, um die Kolonialherrschaft wiederherzustellen und die Sklaverei erneut durchzusetzen. Es kam zu einem schrecklichen Kampf zwischen der französischen napoleonischen Armee und den Aufständischen auf der Karibikinsel, der von beiden Seiten mit großer Grausamkeit geführt wurde. Aber reicht das aus, um eine Armee, die Kolonialismus und Sklaverei durchsetzen soll, und die Revolutionäre von Santo Domingo, die für die Freiheit kämpfen, als gleichwertige Seiten einzustufen? Das wäre genauso lächerlich wie die Gleichsetzung von Hitler und Stalin. Das ist meine Hauptthese.

SB: Die Gleichsetzung von links und rechts unter der Bezichtigung des Extremismus ist demnach ein ideologischer Angriff, der sich insbesondere gegen die Linke richtet?

DL: Daß Linksextremismus dasselbe wie Rechtsextremismus sei, ist ein ideologischer Topos, der die Geschichte des Liberalismus begleitet. Schon im ersten Schritt läßt sich nachweisen, daß diese Ideologie willkürlich ist. Wer definiert, was extremistisch ist und was nicht? Nehmen wir beispielsweise den amerikanischen Sezessionskrieg, so hat Lincoln die Sklaverei im Süden abgeschafft. Liest man jedoch die Literatur der Südstaaten, besteht diese darauf, daß die Abolitionisten fanatisch wie die Jakobiner waren und die Sklaverei dogmatisch als die absolute Sünde geißelten. Die Protagonisten des Südens hielten sich demgegenüber für aufgeklärt: Man könne die Sklaverei zwar kritisieren, doch rechtfertige das keinesfalls einen blutigen Bürgerkrieg zu deren Abschaffung. Die Extremisten säßen im Norden, was auch Lincoln einschließe.

Da die gegenseitigen Bezichtigungen willkürlich sind, könnte man den Begriff "Extremismus" auch auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs anwenden. Für die bürgerliche Ideologie war Lenin der Extremist, weil er zur Revolution gegen diesen Krieg aufgerufen hat. Ebensogut könnte man jedoch sagen, daß das Zweite Reich einerseits und das britische Reich und Frankreich andererseits die Extremisten waren. Damit verbunden ist das von mir so bezeichnete und kritisierte psychopathologische Paradigma. Wie viele Bücher sind geschrieben worden, um zu beweisen, daß Robespierre verrückt war, daß Lenin verrückt war und Stalin sowieso! Aber warum ist kein Buch erschienen, das beweisen soll, wie verrückt Napoleon war, der so viele Kriege entfesselt hat? Warum versucht niemand, den Nachweis zu führen, daß die Protagonisten des Ersten Weltkriegs verrückt waren? Dieses psychopathologische Paradigma wird wie der Begriff "Extremismus" ganz willkürlich angewendet.

SB: An diesem Wochenende fanden gestern hier in Berlin die Rosa-Luxemburg-Konferenz und die Podiumsdiskussion "Antiimperialismus heute" statt, bald kommen viele Menschen bei der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration zur Gedenkstätte zusammen, und am Nachmittag trifft sich die Europäische Linke zu ihrem Jahresauftakt. Wenngleich diverse linke Bewegungen, Organisationen und Parteien gemeinsam Flagge zeigen, drängt sich doch die Frage auf, ob sich an diesem Ort die spärlichen Reste einer ehemals wesentlich stärkeren Linken versammeln. Wie würden Sie deren Perspektive einschätzen?

DL: Ich glaube nicht, daß es sich hier um die Reste der historischen Linken handelt. Meiner Auffassung nach wächst das Bewußtsein von der drohenden Kriegsgefahr weiter an. Natürlich ist das nur ein Anfang, der zunächst unbedeutend gegenüber den tiefgreifenden Veränderungen im Massenbewußtsein wirkt, wie sie im Zuge einer historische Wende in Erscheinung treten. Ich kann gut verstehen, daß unmittelbar nach dem Ende des Realsozialismus in Osteuropa die These weit verbreitet war, daß der Sozialismus gescheitert sei. Wenngleich ich diese These nicht vertrete, fällt es mir doch nicht schwer, sie als Phänomen nachzuvollziehen. Eine kritische Herangehensweise vorausgesetzt, können wir heute in aller Vorsicht eine andere Evidenz erkennen. Die bürgerliche Welt hatte 1989 versprochen, daß der Sieg des Westens im Kalten Krieg ein Triumph des Friedens sei, der das Ende aller Kriege, ja sogar das Ende der Geschichte herbeigeführt habe. Heute tritt offen zutage, daß sich die internationalen Spannungen verschärfen und die Kriegsgefahr wächst, während die Wirtschaftskrise noch längst nicht überstanden ist. Marx wird von der bürgerlichen Kultur wiederentdeckt, die eine derart große Krise mit ihrem Inventar nicht erklären kann. Selbst manche bürgerlichen Ökonomen sahen sich gezwungen, einiges bei Marx nachzulesen, um die Krise zu verstehen. Die historische Situation hat sich also gegenüber 1989 verändert, wobei schon die damalige Evidenz meines Erachtens nur einen Teilaspekt im Blick hatte. Der Sozialismus erlitt in Osteuropa eine Niederlage, doch was können wir über Vietnam, China und einige andere Länder sagen?

SB: Sie halten demnach die These für widerlegt, daß der Sozialismus gescheitert sei. Inwieweit ist der Marxismus in den linken Bewegungen noch präsent und virulent?

DL: Wie können wir die Geschichte des Sozialismus verstehen? In meinen Büchern analysiere ich drei Kategorien. Im allgemeinen werden zwei Kategorien verwendet, die ich beide für falsch halte. Die erste Kategorie ist die des Verrats, die viel zu häufig und zu willkürlich verwendet worden ist. Für Stalin war Trotzki ein Verräter, was umgekehrt genauso galt. Am Ende waren alle Verräter und schlugen sich gegenseitig diese Bezichtigung um die Ohren. Wenngleich es tatsächlich auch Verräter gibt, halte ich diese Kategorie für unbefriedigend.

Als zweite Kategorie wird jene des Scheiterns häufig benutzt und unablässig wiederholt. Zu behaupten, daß der Sozialismus gescheitert sei, erweckt den Eindruck, es handle sich um einen spontanen Prozeß, der weitere Kämpfe obsolet mache. Diese Kategorie ist jedoch höchst einseitig und selektiv. Wie können wir vom Scheitern des Sozialismus in China sprechen, wenn es diesem Land gelungen ist, eine großartige wirtschaftliche und technologische Entwicklung herbeizuführen? Das macht überhaupt keinen Sinn!

Ich verwende demgegenüber eine dritte Kategorie, die ich für sehr wichtig erachte, nämlich die eines Lernprozesses. Das gilt im übrigen auch für die bürgerliche Revolution. Wie wir bei Gramsci lesen, erstreckt sich seiner Auffassung nach die Französische Revolution von 1789 bis zur Pariser Kommune oder besser noch bis zur Dritten Republik, die nach der Niederschlagung der Kommune etabliert wurde, das heißt, fast über ein Jahrhundert. In dieser Zeit zwischen der Französischen Revolution und der Etablierung der Dritten Republik sehen wir die verschiedensten politischen Experimente wie die konstitutionelle Monarchie, die Republik, die jakobinische Diktatur, den Bonapartismus und schließlich die militärische Diktatur. Die Arbeiterschaft hatte lange kein Stimmrecht, selbst nach der Dritten Republik durften Frauen noch nicht an Wahlen teilnehmen. Die Herausbildung des bürgerlichen Staates hat sich also über eine lange Zeit erstreckt.

Nicht anders sollten wir herangehen, wenn wir verstehen wollen, welche Entwicklung die Sowjetunion genommen hat und welche China heute nimmt. Unmittelbar nach der Oktoberrevolution gab es den sogenannten Kriegskommunismus, der nicht funktioniert und dem entspricht, was Marx schon im Kommunistischen Manifest als Zwangsaskese verwirft, die nichts mit dem Sozialismus zu tun habe. Sozialismus und Kommunismus können nicht darin bestehen, das Elend gleich zu verteilen. Der Sozialismus im Sinne von Marx will auch ein System sein, das die Entwicklung der Produktivkräfte mehr als andere begünstigt. Was die sozialistische Bewegung, die sozialistische Revolution betrifft, müssen wir von der Kategorie des Lernprozesses ausgehen, der schon seit langem angefangen hat, aber noch längst nicht beendet ist. Wir müssen die Kategorien Verrat und Scheitern entschieden kritisieren, denn ich bin der Überzeugung, daß dieser Lernprozeß weitergeht. Das ist mein Standpunkt!

SB: Herr Losurdo, vielen Dank für dieses auführliche Gespräch.


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2. März 2016


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