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INTERVIEW/305: Migrationskonferenz Kampnagel - fremdbestimmt und kriegsgetrieben ...    Tahir Khair Khowa im Gespräch (SB)


Flüchtlingsquelle Afghanistan - Kein Versiegen in Sicht

Interview mit Tahir Khair Khowa am 27. Februar 2016 auf Kampnagel in Hamburg


Der junge Afghane Tahir Khair Khowa kommt aus der Provinz Parwan, Standort von Bagram, dem größten Militärstützpunkt und Fliegerhorst der US-Streitkräfte in Afghanistan, der 55 Kilometer nördlich der Hauptstadt Kabul liegt und dessen Namen Kriegsgegner und Friedensaktivisten ebenso wie die der beiden Militärgefängnisse Guantánamo Bay auf Kuba und Abu Ghraib im Irak mit der Folter mutmaßlicher islamistischer "Terroristen" assoziieren. In Parwan fanden in den 1980er Jahren einige der schwersten Kämpfe zwischen den Mudschaheddin und der Sowjetarmee statt. In den neunziger Jahren galt Parwan als Hochburg der Taliban-Gegner. Mit Tahir Khair Khowa, dessen Kurzfilm über die jüngere Geschichte Afghanistans auf der internationalen Flüchtlingskonferenz für Furore sorgte, sprach der Schattenblick über die desolate Lage am Hindukusch.


Tahir Khair Khowa beim Auftritt in der Diskussionsrunde 'Moving Beyond Welcoming - Deutsche Gesetzgebung und Kämpfe in Deutschland' - Foto: © 2016 by Schattenblick

Tahir Khair Khowa fordert auf der Konferenz einen Stopp der Abschiebung von Flüchtlingen aus Afghanistan in ihre Heimat
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Herr Khowa, wann haben Sie Afghanistan verlassen?

Tahir Khair Khowa (TKK): Vor sieben Monaten.

SB: Und wie haben Sie es nach Deutschland geschafft?

TKK: Ich bin über den Iran und die Türkei gereist. Die Ägäis habe ich per Schlauchboot überquert. Von Griechenland bin ich dann mit Bus und Bahn nach Deutschland gekommen.

SB: Es scheint, als hätte 2015 in Afghanistan eine regelrechte Flüchtlingswelle eingesetzt. Dies verwundert ein bißchen, schließlich herrscht dort bereits seit Jahrzehnten Krieg. 2014 wählten die Afghanen Aschraf Ghani zum Präsidenten, der als Nachfolger Hamid Karsais die Korruption bekämpfen und die Taliban in einen Friedensprozeß einbinden wollte. Doch statt einer Wende zum Besseren verschlechtern sich die Verhältnisse in Afghanistan noch weiter. Worauf führen Sie diese Verschlechterung, welche als Ursache für die Ausreisewelle gilt, zurück?

TKK: Ende 2001, wenige Wochen nach den Flugzeuganschlägen vom 11. September in den USA, sind die Amerikaner und die NATO nach Afghanisten gekommen, um Jagd auf Al Kaida zu machen und die Taliban zu bekämpfen. Gleichwohl kündigten sie an, das Land nach dem raschen Sturz des Taliban-Regimes wieder aufzubauen. Seitdem ist eine Menge Geld geflossen, doch das meiste davon verschwand in dunkle Kanäle. Vom Wiederaufbau kann keine Rede sein. Die Infrastruktur in Afghanistan befindet sich wie vor zwanzig Jahren in einem desaströsen Zustand. Also hat sich die NATO darauf konzentriert, in Afghanistan einen Krieg zu führen, der nunmehr 15 Jahre andauert und dessen Ende nicht abzusehen ist. Ursprünglich wollte die NATO alle Truppen bis Ende 2014 abziehen. Inzwischen wird in Politiker- und Militärkreisen in Europa und den USA offen darüber geredet, daß es noch mehrere Jahre, vielleicht sogar auf Jahrzehnte hinaus eine westliche Militärpräsenz am Hindukusch geben wird.

2001 sind die Taliban dem Einmarsch der NATO ausgewichen, haben Kabul verlassen und sich in die gebirgige Grenzregion zwischen Afghanistan und Pakistan zurückgezogen, um sich neu zu formieren und auf die veränderte Lage einzustellen. Seit 2008 sind die Gotteskrieger wieder auf dem Vormarsch und kontrollieren weite Teile Afghanistans, insbesondere im Süden und Osten des Landes. Selbst im Norden werden sie stärker, wie ihre vorübergehende Besetzung von Kundus im vergangenen Jahr gezeigt hat. Hinzu kommt, daß jetzt auch die "Terrormiliz" Islamischer Staat als Akteur im Afghanistan-Krieg auftritt. Der IS hat seine Präsenz in Afghanistan durch eine Reihe von Überfällen auf Überlandbusse, bei denen hauptsächlich schiitische Fahrgäste massakriert wurden, deutlich gemacht. Die Gruppe versucht, den Taliban die Position streitig zu machen, sich als Vertreter des einzig wahren Islams darzustellen.


Interviewszene am Stehtisch mit Aufnahmegerät zwischen den Gesprächspartnern - Foto: © 2016 by Schattenblick

SB-Redakteur und Tahir Khair Khowa
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Es gibt die These, daß sich die NATO in einen bereits laufenden Bürgerkrieg zwischen Nordallianz und Taliban eingemischt und diesen Konflikt dadurch verschärft bzw. verlängert hat. Inzwischen haben die Regierung in Kabul, die von ehemaligen Nordallianz-Kommandeuren wie Abdul Rashid Dostum dominiert wird, und die Taliban ihre prinzipielle Bereitschaft zu einer Beendigung des Konflikts signalisiert. Im vergangenen Jahr trafen Gesandte Präsident Ghanis und der Taliban-Führung zu mehrtägigen informellen Gesprächen in Katar zusammen. Die innerafghanischen Friedensbemühungen werden - jedenfalls nach außen hin - von den Großmächten China, Rußland und den USA sowie den Nachbarstaaten Pakistan und Iran unterstützt. Dennoch tobt der Krieg weiterhin auf hohem Niveau. Der ersehnte Friedensprozeß kommt nicht voran. Haben Sie eine Erklärung dafür?

TKK: Das Problem mit den Taliban besteht darin, daß keiner so richtig weiß, welche politischen Ziele sie außer der Dauerforderung nach dem Abzug aller ausländischen Truppen für Afghanistan verfolgen. Auf dem Schlachtfeld sind sie derzeit recht stark und können fast nach Belieben überall im Land Angriffe durchführen. Doch wie sieht ihre Vision für ein Nachkriegsafghanistan aus? Niemand weiß es, und dies möglicherweise, weil sich die verschiedenen Taliban-Fraktionen selbst nicht darüber im klaren sind.

SB: Hängt die Undurchschaubarkeit der langfristigen Strategie der Taliban vielleicht damit zusammen, daß die einstigen Weggefährten von Mullah Mohammad Omar, die mehrheitlich Paschtunen sind, eng mit dem pakistanischen Militärgeheimdienst Inter-Services Intelligence Directorate (ISI) zusammenarbeiten und folglich die Interessen Islamabads berücksichtigen müssen?

TKK: Ganz klar. Der ISI stand bei der Entstehung der Taliban in den neunziger Jahren Pate. Ohne die jahrelange Unterstützung des ISI wären die Taliban in ihrer heutigen Form längst nicht so stark, wie sie es sind. Gleichwohl ist der Stillstand bei den Friedensbemühungen zwischen Kabul und den Taliban den unterschiedlichen Interessen ausländischer Akteure geschuldet. Um politischen und wirtschaftlichen Einfluß in Afghanistan ringen mehrere Nachbarstaaten, die gegensätzliche Interessen verfolgen, wie zum Beispiel der Iran und Saudi-Arabien sowie Indien und Pakistan. Solange sich die Möchtegern-Regionalhegemone und die Großmächte USA, Rußland, China, Frankreich, Deutschland und Großbritannien nicht darauf verständigen können, wie es in Afghanistan weitergehen soll, wird es keinen Frieden in meinem Land geben.

SB: Nachdem die Taliban 1996 Kabul erobert hatten, waren Saudi-Arabien, Pakistan und die Vereinigten Arabischen Emirate die einzigen Staaten, die das Islamische Emirat Afghanistan diplomatisch anerkannten. Seit einiger Zeit steht der Vorwurf im Raum, daß der größte Teil der finanziellen und militärischen Hilfe, die das Kalifat von IS-Gründer Abu Bakr Al Baghdadi beiderseits der syrisch-irakischen Grenze erhält, aus Saudi-Arabien kommt. Wie sieht es mit dem IS in Afghanistan aus? Erhalten dessen Kämpfer ihren Sold ebenfalls von den Saudis? Was meinen Sie?

TKK: Man kann davon ausgehen, daß die Saudis ihre Hände im Spiel haben, trägt doch der IS zur gewaltsamen Verbreitung der von Riad propagierten, rückwärtsgewandten Form des Islams bei. Gleichwohl ist schwer zu sagen, von wo aus der IS gesteuert wird. Aus der Türkei? Aus Saudi-Arabien? Aus der irakischen Metropole Mossul? Oder doch aus der ostsyrischen Stadt Rakka?


Tahir Khair Khowa hört sich interessiert die Frage des SB-Redakteurs an - Foto: © 2016 by Schattenblick

Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Offenbar schließen sich immer mehr militante Gruppen in Afghanistan dem IS an und leisten Al Baghdadi den Treueeid. Wären die Vertreter Kabuls und vor allem die Taliban unter diesen Umständen nicht aus eigenem Interesse gut beraten, ihre Annäherungsgespräche vielleicht doch etwas zügiger voranzutreiben?

TKK: Leider scheinen die Beteiligten am Krieg in Afghanistan nach wie vor mehr Interesse am Kämpfen als am Reden zu haben. Man hat den Eindruck, daß die Taliban davon ausgehen, mit der Herausforderung durch den IS fertigzuwerden. Ob sie mit dieser Einschätzung richtig liegen, muß sich noch zeigen.

SB: Für den dramatischen Anstieg der Flüchtlinge aus Afghanistan scheint das bedrückende Gefühl, daß sich auf absehbare Zeit im Land nichts verbessern wird, die Hauptursache zu sein. Was müßte Ihrer Meinung nach passieren, damit sich die Lage in Afghanistan stabilisiert und sich die Menschen zum Bleiben entschließen?

TKK: Die NATO müßte ihre Hauptenergie darauf verwenden, die verfeindeten Gruppen in Afghanistan zusammenzubringen. Es hilft niemandem, wenn die NATO-Truppen nachts auf Terroristenjagd gehen und tagsüber in ihren Stützpunkten hocken. Das trägt nicht im geringsten zu jener Stabilität bei, die erforderlich wäre, um in Afghanistan eine politische Auseinandersetzung an die Stelle der Waffengewalt treten zu lassen. Solange Kriegsverhältnisse herrschen, werden die Menschen fliehen und ein Leben in Frieden und Sicherheit im Ausland suchen. Was bleibt ihnen auch anderes übrig?

SB: Viele Kritiker des NATO-Einsatzes plädieren für den kompletten Abzug aller ausländischen Soldaten aus Afghanistan. Würde die NATO alle Stützpunkte räumen, käme Afghanistan dann endlich zur Ruhe?

TKK: Ich würde es mir wünschen, aber eigentlich kann ich nicht so recht daran glauben. Dafür kämpfen die verschiedenen Milizen in Afghanistan inzwischen zu lange gegeneinander - praktisch ununterbrochen seit dem Einmarsch der Sowjets 1979. Bis die Waffen schweigen, kann es noch eine Weile dauern - mit oder ohne Militärpräsenz des Auslands. Dennoch bin ich schon der Meinung, daß Frieden in Afghanistan geschaffen werden kann. Dafür könnten sich die ausländischen Mächte nützlich machen, indem sie den innerafghanischen Dialog begleiten und dem Land mit finanzieller und technischer Unterstützung wieder auf die Beine helfen.

SB: Vielen Dank, Herr Khowa, für dieses Gespräch


Tahir Khowa sitzt am Tisch und spricht ins Mikrophon, hinter ihm an der Wand hängt das Transparent der Flüchtlingskonferenz - Foto: © 2016 by Schattenblick

Tahir Khair Khowa auf der Pressekonferenz
Foto: © 2016 by Schattenblick


Bisherige Beiträge zur Hamburger Flüchtlingskonferenz im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

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