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INTERVIEW/373: Initiativvorschläge - Gegen Staat, Partei und Industrie ...    Aktivistin Niki im Gespräch (SB)



Die Physiotherapeutin Niki ist in der Solidarischen Sozialen Klinik in Thessaloniki aktiv und berichtete auf dem Kongreß "Selber machen - Konzepte von Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie", der vom 28. bis 30. April im offenen Zentrum Bethanien in Berlin-Kreuzberg stattfand, über Geschichte und Praxis dieser Form von selbstorganisierter Gesundheitsversorgung. Anschließend beantwortete sie dem Schattenblick einige ergänzende Fragen, wobei ihr wichtig war zu betonen, daß ihre Antworten ausschließlich ihre persönliche Sicht der Dinge wiedergeben und sie nicht für die Klinik und die sie betreibenden Aktivistinnen und Aktivisten spricht.

Schattenblick (SB): Niki, könntest du uns etwas über die Geschichte der Sozialen Klinik in Thessaloniki berichten?

Niki: Wir haben die Klinik 2011 zu Beginn der Krise eingerichtet. Dem ging der große Hungerstreik von 300 Flüchtlingen voraus, die für einen legalen Status in Griechenland kämpften. Ungefähr 20 bis 30 Menschen unterstützten den Hungerstreik der Flüchtlinge, der im Gewerkschaftshaus in Thessaloniki stattfand, mit medizinischer Hilfe. Nach dem Ende des Hungerstreiks fragten sich die Aktivistinnen und Aktivisten, was sie in der schlechten und wahrscheinlich immer schlechter werdenden sozialen Lage der Bevölkerung der Stadt tun könnten. Im Ergebnis des Diskussionsprozesses beschlossen sie, etwas für die medizinische Versorgung jenes Teils der Bevölkerung zu tun, der vom öffentlichen Gesundheitswesen ausgeschlossen ist.

Das war der Ausgangspunkt. Im Zentrum der Überlegungen stand von Anfang an, daß wir eine politische Gemeinschaft sind, die versucht, die geleistete Hilfe als Ausdruck einer politischen Arbeit zu verstehen, die das Ziel hat, eine universale Krankenversicherung für jeden Menschen zu schaffen. Niemand sollte ausgeschlossen sein. Wir hatten von Anfang an vor, dies mit so vielen Aktivistinnen und Aktivisten wie möglich in Solidarität mit den Menschen, die Versorgung benötigen, zu tun. Dies war die Idee, aber natürlich sind die Dinge nicht immer ideal.

Jetzt sind mehr als fünf Jahre seit Gründung der Klinik, die besser als Zentrum für medizinische Erstversorgung bezeichnet werden könnte, vergangen. Mit dem Aufbau einer Gemeinschaft, die eine derartige Hilfe anbietet, waren wir durchaus erfolgreich. Ungefähr 200 Leute halten den praktischen Betrieb des Zentrums aufrecht, bei dem in keiner Weise Geld fließt. Niemand wird bezahlt, jeder bringt hin und wieder etwas ein, was gerade möglich ist, und jeder ist gleichgestellt. Wer mehr Zeit für den Betrieb der Klinik einsetzt, dessen Stimme hat deshalb kein größeres Gewicht.

SB: Die Arbeit wird nicht bewertet?

Niki: Nein, die Arbeit wird nicht bewertet. Sie wird nicht in Beziehung zur individuellen Zeit gesetzt, die dafür aufgewendet wird. Ungefähr 60 bis 70 Aktivistinnen und Aktivisten sind Ärzte, Zahnmediziner, Apotheker, Psychiater oder Psychologen, also Personen, die über einen Abschluß in ihrem Beruf verfügen. Alle anderen, die sich in das Zentrum einbringen, sind ganz normale Leute. Sie arbeiten vor allem in der Verwaltung, denn alles muß koordiniert werden. Danach ist die Apotheke am wichtigsten, denn dort fällt viel Arbeit beim Erfassen, Ordnen und Ausgeben der Medikamente an. Es gibt ungefähr 340 bis 350 Apotheken in Thessaloniki, die Medikamente von Kunden einsammeln, die diese nicht mehr benötigen oder aus anderen Gründen keine Verwendung für sie haben. Sie können die Medikamente in spezielle Behälter hineinlegen. Außerdem erhalten wir nicht mehr benötigte Präparate von Schulen und Einzelpersonen, die uns kennen. Um all das zu organisieren, werden viele Menschen benötigt.

Andere Leute werden zu Zahnarzthelferinnen und -helfern ausgebildet. Leute ohne jede medizinische Ausbildung lernen, bei der Behandlung zu assistieren. Insgesamt gibt es mehr medizinische Nichtprofis als Profis, deren Meinung natürlich gleiches Gewicht hat. In der Stadt arbeiten überdies 150 bis 200 spezialisierte Arztpraxen solidarisch mit uns zusammen. Wenn Fachmediziner benötigt werden, können wir die Patienten und Patientinnen dorthin überweisen. Sie lassen uns zuvor wissen, daß sie etwa fünf Personen im Monat zusätzlich behandeln oder zehn Blutuntersuchungen durchführen können. Das ist ein weiteres Netzwerk, das unser Zentrum unterstützt. Wenn man es so betrachtet, dann handelt es sich um eine größere Bewegung.

SB: Würdest du sie eher als linke oder bürgerliche Bewegung bezeichnen?

Niki: Diejenigen, die im Zentrum arbeiten, sind meistens links eingestellt, aber es gibt auch Menschen, die sich keiner politischen Richtung zuordnen, sondern einfach der Ansicht sind, daß man sich in der Krise solidarisch verhalten sollte. Vor allem jedoch müssen diejenigen, die ins Zentrum kommen, um zu helfen, unsere Hauptprinzipien akzeptieren. Wir gehören keiner Partei an, arbeiten jedoch politisch. Wir sind keine Philantrophen, und das müssen alle akzeptieren.

SB: Ist die Soziale Klinik in Thessaloniki Teil einer landesweiten Bewegung oder eher auf sich selbst orientiert?

Niki: Wir sind überall in Griechenland vernetzt. Zumindest haben wir eine Mail-List, über die alle Aktionen und Diskussionen ausgetauscht werden. Alle ein bis zwei Jahre kommen die Solidaritätskliniken zu einem landesweiten Treffen zusammen, um zu diskutieren und sich zu beraten. Dabei wird über den Stand des Gesundheitswesens gesprochen und was man daran ändern könnte, also über Fragen der Selbsorganisation. Die meisten der Solidarischen Zentren in Griechenland haben eine ähnliche Einstellung wie wir, aber nicht alle. Es gibt auch Gesundheitszentren, die in die kommunale Verwaltung eingebunden sind, ein Zentrum erhält Geld von der Kirche, zwei oder drei Zentren akzeptieren Geld von der Europäischen Union. Aber im allgemeinen wird das vermieden. Meines Wissens haben sich mindestens zehn der Solidarischen Zentren darauf festgelegt, niemals Geld von einer offiziellen Institution des Staates, der Wirtschaft oder von Parteien anzunehmen. Von Unternehmen der Pharmaindustrie nimmt sowieso niemand Geld.

SB: Syriza hat sich im Wahlkampf als Partei dargestellt, die selbstorganisierte Initiativen und soziale Bewegungen nicht nur unterstützt, sondern praktisch deren parlamentarisches Sprachrohr ist. Deckt sich das deiner Ansicht nach mit der Politik Syrizas als Regierungspartei?

Niki: Aus meiner ganz persönlichen Sicht würde ich sagen, daß sie das versucht haben, aber damit nicht erfolgreich waren. Sie hatten eine Organisation namens "Solidarität für alle" aufgebaut, die bestrebt war, sich als Dach dieser Bewegungen zu etablieren. Ihre Repräsentanten kamen auf unsere Treffen und kündigten an, mit uns zu kooperieren und auch Geld zu geben. Wir erwiderten darauf, daß wir niemanden benötigen, der uns koordiniert, weil wir das selbst können. Sie haben es lange Zeit versucht. Wir haben nichts von ihnen genommen und stehen in keinem Kontakt zu ihnen, aber manche Kliniken haben die Zusammenarbeit akzeptiert. Aber an einem bestimmten Punkt merkten sie, was sie im Schilde führen, und brachen die Kooperation ab. Vielleicht hatten sie auch Geld akzeptiert, das weiß ich nicht, aber sie erhielten Medikamente und Geräte. Dann gelangten sie jedoch zu dem Schluß, daß die Verhältnisse sehr undurchsichtig sind. So weit ich informiert bin, steht niemand mehr in Kontakt mit der Syriza-Organisation. Vielleicht irre ich mich, aber das ist mein Kenntnisstand.

In unserem Zentrum sind auch Syriza-Mitglieder vertreten. Aber unser Prinzip lautet, daß wir in der Sozialen Klinik als Personen auftreten. Das Zentrum ist kein von Parteien oder Organisationen gebildetes Kollektiv. Wir sind Einzelpersonen und zugleich Mitglieder dieser Solidarischen Klinik. Deshalb akzeptieren wir nicht, wenn die Positionen bestimmter Parteien bei uns propagiert werden. Ich persönlich glaube, daß Parteien immer versuchen werden, ihre Ansichten in solchen Projekten zu verbreiten, das ist schließlich ihre Aufgabe.

SB: Könntest du Beispiele dafür geben, wie EU-Institutionen oder die deutsche Regierung unter dem Vorwand des zu leistenden Schuldendienstes Einfluß auf das griechische Gesundheitswesen nehmen?

Niki: Wir sind verpflichtet, die Privatisierung des Gesundheitssystems voranzutreiben. Es gab in Griechenland schon zuvor den Trend, Teile des Gesundheitswesens zu privatisieren, aber es betraf nur kleine Bereiche am Rande des Systems, die die Grundversorgung nicht beeinträchtigten. Zum Beispiel nahmen viele Frauen die Dienste von Privatkliniken bei der Geburt ihrer Kinder in Anspruch. Jetzt wird diese Entwicklung in großen Schritten vollzogen. Die Experten, die das Gesundheitswesen vor Antritt der Syriza-Regierung restrukturieren sollten, kamen aus Deutschland. Sie überzeugten die Regierung, das System nach deutschem Vorbild zu reorganisieren, und das wurde auch bei der letzten Reform so getan. Niedergelassene Ärzte schließen einen Vertrag mit dem staatlichen Gesundheitswesen zur Behandlung krankenversicherter Personen ab. Das wurde praktisch direkt kopiert.

Daß große Privatunternehmen im Gesundheitswesen darüber befinden, wofür das Geld verwendet wird, ist auch ein Import aus Deutschland. Wir haben dagegen gekämpft, aber die Syriza-Regierung hat nichts gegen die Einführung dieses Systems getan.

SB: Im Workshop sagtest du, daß die Zukunft in der EU sehr düster ist und das, was in Griechenland geschieht, auch die Zukunft der Menschen hierzulande sein wird. Was kommt deiner Ansicht nach in nächster Zukunft auf die Menschen in der EU zu?

Niki: Es sieht so aus, daß mehr und mehr Menschen von sozialen Dienstleistungen und sozialer Unterstützung ausgeschlossen werden. Es wird immer mehr gekürzt, und immer mehr Menschen erhalten nichts. In Griechenland gab es unglücklicherweise schon zuvor keine soziale Wohlfahrtspflege, kein Sozialsystem. Es gab lediglich eine Art von Arbeitslosenunterstützung für sehr wenige Menschen, die dafür beweisen mußten, daß sie im letzten Jahr mindestens acht Monate gearbeitet hatten, um Unterstützung für ein Jahr zu bekommen. Das war mehr oder weniger die einzige Art von sozialer Unterstützung, die jemand in Griechenland in Anspruch nehmen konnte.

Bevor das Gesetz die große Mehrheit der Bevölkerung vom Gesundheitswesen ausschloß, konnte jeder Leistungen kostenlos in Anspruch nehmen. Aber das wurde abgeschafft, und jetzt haben wir drei Millionen nicht krankenversicherte Menschen. Zudem ist die durchschnittliche Lebenserwartung bereits um einige Jahre zurückgegangen. Seitdem wurde die allgemeine Inanspruchnahme des Gesundheitssystems wieder eingeführt, aber die öffentlichen Dienstleistungen wurden zerstört.

Ich habe eine Weile in Großbritannien gelebt, und dort findet die gleiche Entwicklung statt. Mehr und mehr Menschen werden ausgeschlossen, das gilt insbesondere für psychologische und psychiatrische Probleme. Man sagt ihnen, das brauchst du nicht mehr, denn du bist okay. Wir fühlen uns wie Versuchstiere in einem Labor, wie die Meerschweinchen der Europäischen Union. Wenn die Menschen in Griechenland ohne soziale Hilfsangebote überleben können, dann sollte das in unseren Ländern auch gehen. Das können wir managen, und dann gibt es keine Revolution, wir können sie ruhig halten. Ich glaube nicht, daß es ruhig bleiben wird.

SB: Niki, vielen Dank für das Gespräch.


Beiträge zum Kongreß "Selber machen - Konzepte von Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie" im Schattenblick unter:
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5. Juli 2017


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