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INTERVIEW/376: Initiativvorschläge - Zusammenschlüsse und Erfolge ...    Callum Cant im Gespräch (SB)


Callum Cant war unter anderem in Kämpfen an der University of Sussex aktiv. Er hat in Brighton das Bulletin "Rebel Roo" mitgegründet, ein selbstorganisiertes Projekt von Kurierfahrern im Kontext von Plan C, einer autonomen politischen Organisation, die koordinierte Aktionen in der Arbeiterschaft für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen unterstützt. [1]

Auf dem Kongreß "Selber machen - Konzepte von Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie", der vom 28. bis 30. April im Bethanien in Berlin-Kreuzberg stattfand, stellte Callum Cant im Workshop "Gegenmacht ohne Produktionsmacht?" [2] sein Engagement in den Kämpfen der Kurierfahrer des Online-Lieferdienstes Deliveroo vor. Im Anschluß an die Veranstaltung beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.



Logo mit der Aufschrift 'Rebel Roo' - Grafik: © www.weareplanc.org


Schattenblick (SB): Callum, könntest du etwas zu dem Streik der Kurierfahrer sagen, den du in Brighton mitorganisiert hast?

Callum Cant (CC): Im Februar riefen die Kurierfahrer in Brighton zum Streik auf, um höhere Löhne und weitere Forderungen durchzusetzen. [3] Unsere Löhne waren seit langem immer weiter gesenkt worden. Der Streik brach spontan aus, als eine Gruppe brasilianischer Mopedfahrer ohne gewerkschaftliche oder andere Unterstützung die Arbeit niederlegte. Die Nachricht breitete sich wie ein Lauffeuer durch sämtliche Kurierdienste aus, ähnlich wie es auch bei Streiks der Kuriere in London und Leeds geschehen war. In all diesen Fällen griff der Streik durch Mundpropaganda sehr, sehr schnell um sich, ohne daß ein Gewerkschaftsapparat mit offiziellen Aufrufen im Spiel gewesen wäre. Die Ergebnisse waren bemerkenswert: In London setzten die Kurierfahrer mit einem einwöchigen Streik ihre Forderungen durch, so daß diese Kampfmaßnahme erfolgreich war. Und auch in Brighton ist es uns gelungen, höhere Einkünfte und bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen.

SB: Wie verbreitet ihr Informationen über die Arbeitskämpfe der Kurierfahrer und anderer prekär Beschäftigten in einem weiteren Umfeld?

CC: Wir geben ein Bulletin namens "Rebel Roo" heraus, das wir selbst herstellen und von dem wir jeden Monat 1300 Exemplare landesweit verschickten. Gemessen an der Zahl sämtlicher Kurierfahrer in UK bedeutet das, daß es von ungefähr zehn Prozent dieser Berufsgruppe regelmäßig gelesen wird, wobei die tatsächliche Reichweite vermutlich noch erheblich größer ist. Aber natürlich läuft auch sehr viel über die sozialen Medien, die eine große Rolle bei der schnellen Verbreitung solcher Nachrichten spielen.

SB: Es handelt sich demnach bei den Kurierfahrern um einen Sektor prekär Beschäftigter, der von den großen Gewerkschaften ignoriert wird?

CC: So ist es. Da wir formell selbständig sind, ist keine der großen Gewerkschaften daran interessiert, überhaupt mit uns zu reden. Aus ihrer Sicht haben wir nicht viel zu bieten, da wir aufgrund unserer niedrigen Einkünfte nur geringe Beiträge zahlen könnten. Deshalb kümmern sie sich überhaupt nicht um uns. Die Verbesserungen, die wir aus eigener Kraft erstritten haben, sind unter diesen Umständen auch deshalb bedeutsam, weil sie die etablierte Arbeiterbewegung zwingen, sich mit einer Sphäre außerhalb dessen zu befassen, was sie traditionell im Blick hat, nämlich vor allem die männlichen Industriearbeiter. Die prekär Beschäftigten stellen eine Herausforderung für die Gewerkschaften dar.

SB: In welcher Lage sehen sich die großen britischen Gewerkschaften wie Unite oder UNISON heute?

CC: Sie sind in der Tat sehr groß. Im Vereinigten Königreich sind rund sechs Millionen Menschen in Gewerkschaften organisiert, die meisten von ihnen in den großen wie Unite und UNISON. Deren Mitgliederbasis stellen vor allem Beschäftigte im öffentlichen Sektor, wo der Organisierungsgrad relativ hoch ist, wenngleich auch häufig auf eine eher passive Weise bloßer Mitgliedschaft, ohne daß es zu nennenswerten Kämpfen käme. Obgleich diese Gewerkschaften so viele Mitglieder in verschiedene Branchen haben und die Löhne und Gehälter drastisch gesenkt worden sind, haben sie es sehr lange unterlassen, eine direkte Konfrontation mit den Bossen einzugehen. Und obwohl sie in jüngerer Zeit mit einem etwas nach links rückenden Programm der Labour Party korrespondieren könnten, haben sie dessen Umsetzung in Gestalt direkter sozialer Konfrontation an den Arbeitsplätzen unterlassen. Ganz im Gegenteil fahren sie oftmals damit fort, das Ausmaß an Kampferfahrung der Arbeiterschaft zu schmälern und bestehende Kämpfe zu untergraben.

SB: Vor einiger Zeit war eine Delegation der Londoner Basisgewerkschaft United Voices of the World (UVW) [4] in Hamburg zu Gast, wo ich sie erstmals kennengelernt habe. Du kennst sie sicher auch?

CC: O ja, Petros schätze ich sehr! Sie machen eine bemerkenswerte Arbeit und organisieren unter anderem Migranten, die als Reinigungskräfte arbeiten. Eine phantastische Arbeit, die unserer eng verwandt ist.

SB: Weißt du, ob der von der UVW unterstützte Streik der Reinigungskräfte an der London School of Economics immer noch läuft?

CC: Soweit mir bekannt ist, wollen sie weiterhin einen Tag in der Woche streiken und das solange fortsetzen, bis ihre Forderungen erfüllt werden. Ich weiß nur nicht, ob sie diese Form ihres Arbeitskampfs bereits aufgenommen haben.

SB: Wie würdest du die aktuelle politische Situation in UK insgesamt einschätzen?

CC: Aktuell sorgen die kurzfristig angesetzten Neuwahlen des Unterhauses für großen Druck, da nicht auszuschließen ist, daß der rechtsgerichtete politische Flügel gestärkt daraus hervorgeht. Grundsätzlich hat die Linke große Probleme damit, sich in der vom Brexit ausgelösten Krise zu positionieren. Wir müssen sehen, wie sich das weiter entwickelt. Im Augenblick sind wir als radikale Linke jedenfalls eine isolierte Minderheit. Die gesellschaftliche Polarisierung spitzt sich zu, denn während einige Leute von Tag zu Tag weiter nach links rücken, formiert sich auf der anderen Seite ein rasch wachsender rechter Block. Wir werden also Zeuge eines Prozesses rasanter Polarisierung. Graswurzelbewegungen erleben derzeit einen Aufschwung, der meines Erachtens jedoch nicht allzu lange anhalten wird und davon abhängt, wie es mit Jeremy Corbyn weitergeht. Es sind insofern aufregende Zeiten, als im Grunde nichts wirklich vorhersagbar ist.

SB: Existiert in UK eine rechtsgerichtete Bewegung, die über Einfluß verfügt?

CC: Wir haben sie größtenteils vermöbelt. (lacht) Aber im Ernst: Im Januar 2016 gab es eine große Protestaktion in Dover, bei der die radikale Linke und Rechte aufeinandertrafen. [5] Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen, an denen auf beiden Seiten ungefähr 500 Leute beteiligt waren. Viele Rechte sitzen derzeit im Gefängnis und können deshalb nicht auf der Straße Präsenz zeigen, so daß es ihnen schwerfällt, dort eine Bewegung aufzubauen. Die Partei der Rechten ist mit dem Brexit ausmanövriert, die UKIP hat ihrer Stimmen wieder an die Konservativen verloren. Die Rechte gewinnt zwar zunehmend an Einfluß auf den öffentlichen Diskurs, verfügt aber über sehr geringe Wirkung, was die Organisierung betrifft. Das ist eine interessante Konstellation, denn wir haben keine Pegida oder ähnliche rechte Bewegung wie in Deutschland, die in größerer Zahl auf die Straße geht. Dort trifft man lediglich auf sehr kleine und isolierte Haufen.

SB: Ist die politische Arbeit an der Basis in diesen Krisenzeiten ein wirksames Unterfangen?

CC: Ich denke, schon. Soziale Gegenmacht an der Basis zu entwickeln, ist nach meinem Dafürhalten der beste Weg, die vorherrschende Situation zu überwinden. Auf der eingefahrenen politischen Ebene mit Argumenten zu agieren, führt nicht weiter. Statt dessen ist es wichtig, sich im Viertel, in der Kommune, in der ganzen Stadt zu organisieren und Rote Nachbarschaften, Hausbesetzungen, soziale Zentren, Basisgewerkschaften und antifaschistische Gruppen zu etablieren. Diese Mobilisierung ist unabhängig von anstehenden Wahlen und sie wird künftig sogar noch wichtiger. Die Leute gehen mehr und mehr dazu über, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, statt es den Politikern zu überlassen. Wenn es überhaupt einen Weg aus der Krise gibt, dann entspringt er solchen Basisbewegungen.

SB: Welche Eindrücke und Erkenntnisse nimmst du von dem Kongreß hier im Bethanien nach Hause mit?

CC: Es ist wirklich aufregend! Ich habe hier jede Menge Diskussionen geführt, kann meine Erfahrungen einbringen, mich in Gesprächen austauschen und dabei ein Menge lernen. Außerdem gefällt mir gut, daß ein konkretes Programm von Aktivitäten dabei herauskommen soll. Für mich konkretisiert diese Tagung viele Aspekte dessen, was wir meines Erachtens in Angriff nehmen sollten. Außerdem bin ich zum ersten Mal hier in Berlin mit seiner beeindruckenden Infrastruktur selbstorganisierter Zentren, die es in dieser Form in England nicht gibt. Der Kongreß ist eine Inspiration, und ich bin sehr gespannt darauf, das eine oder andere in der Praxis umzusetzen.

SB: Callum, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] https://www.weareplanc.org/blog/a-new-initiative-rebel-roo-1/

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0281.html

[3] https://www.theguardian.com/commentisfree/2017/mar/31/deliveroo-organising-wages-conditions-gig-economy

[4] Zur Basisgewerkschaft UVW im Schattenblick:
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0260.html
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0343.html
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0344.html
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0346.html
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0349.html

[5] http://www.independent.co.uk/news/uk/home-news/fascist-anti-fascists-violent-clash-dover-immigration-refugee-demonstrations-a6843596.html


Beiträge zum Kongreß "Selber machen - Konzepte von Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

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11. Juli 2017


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