Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REPORT


INTERVIEW/434: Manifest für Gegenkultur - Front gegen Fremd- und Vorherrschaften ...    Julieta Daza im Gespräch (SB)


Gespräch am 8. Juni 2019 in Berlin-Neukölln


Die in Venezuela lebende Kolumbianerin Julieta Daza gehört dem Team der Website Agencia Bolivariana de Prensa (ABP-Noticias) an. Zudem wirkte sie bei der Wochenzeitung Petare Al Día mit, die von einer Gemeinde in Caracas herausgegeben wird. Für verschiedene politische Organisationen arbeitet sie im Management der sozialen Netzwerke, hauptsächlich über Facebook. Darüber hinaus bringt sie Erfahrungen aus der Redaktion der Radiosendung "Paraos en la raya" und dem Gemeindesender Radio Arsenal (98,1 FM) in Caracas mit, die im Rahmen der Bolivarischen Revolution entstanden sind. [1]

Bei der Künstler-Konferenz zum "Manifest für Gegenkultur" [2] der Kulturzeitschrift Melodie & Rhythmus, die am 8. Juni im Berliner Heimathafen Neukölln stattfand, gehörte Julieta Daza zu den Teilnehmerinnen des Podiums "Unter den Medien schweigen die Musen" - Im Bann von Manipulationsästhetik und (digitalisierter) Meinungsmache. Am Rande der Konferenz beantwortete sie dem Schattenblick einige vertiefende Fragen zur Entwicklung in Venezuela im Kontext der Bolivarischen Revolution.


Mit Mikrophon beim Vortrag - Foto: © 2019 by Schattenblick

Julieta Daza
Foto: © 2019 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Die Bolivarische Revolution in Venezuela war für die europäische und auch die deutsche Linke lange ein hochgeschätzter Entwurf, da es ansonsten weltweit wenig vergleichbare emanzipatorische Entwicklungen gab. Inzwischen ist diese Begeisterung doch erheblich abgeflaut, zumal auch die Propaganda der Gegenseite zunehmend verfängt. Wie schätzt du diese Entwicklung ein?

Julieta Daza (JD): Es gibt etliche Theoretiker und Politiker weltweit, die bereits vom Untergang der Bolivarischen Revolution sprechen. Ich denke jedoch, daß das ein nicht hinzunehmender Fehlschluß ist. Ich lebe seit mehr als zehn Jahren in Venezuela, und aus meinem Blickwinkel kann von einem Scheitern der Bolivarischen Revolution keine Rede sein. Dieser Prozeß erfreut sich nach wie vor eines starken Rückhalts in weiten Teilen der Bevölkerung. Der Traum, eine gerechtere Gesellschaft aufzubauen, ist nach wie vor lebendig. Wir hoffen, daß das auch in anderen Teilen der Welt wie Europa und Deutschland so aufgenommen und mit der Bolivarischen Revolution weiterhin solidarisch umgegangen wird. Das wäre für uns sehr hilfreich. Natürlich gibt es Schwierigkeiten, denn es fand noch nie ein revolutionärer Prozeß statt, der nicht mit enormen Problemen zu kämpfen gehabt hätte. Uns ist bewußt, daß es Selbstkritik zu leisten und noch vieles zu verbessern gilt, aber es geht weiter.

SB: Viele Menschen sind verständlicherweise von einer Entwicklung begeistert, solange sie ihnen persönliche Vorteile beschert, wie das in Venezuela durch eine Anhebung des Lebensstandards gerade für die ärmeren Bevölkerungsteile der Fall war. Ist dieselbe Begeisterung noch vorhanden, wenn die Bedingungen schwieriger werden? Oder gibt es Brüche, daß Menschen sagen, wenn es mir nicht mehr so viel bringt, sind mir auch die Ideale und Solidarität nicht mehr so wichtig?

JD: Das ist eine gute Frage. Meines Erachtens ist noch eine großer Teil der Bevölkerung trotz aller Schwierigkeiten bereit, Widerstand zu leisten und für die Bolivarische Revolution weiterzukämpfen. Diese Menschen sind sich bewußt, daß viele der Schwierigkeiten, die es zur Zeit in Venezuela gibt, von den Sanktionen und der Blockade seitens des US-amerikanischen Imperialismus herrühren. Sie erkennen die Ursache und treten weiter für eine Umgestaltung ein, ungeachtet der Probleme, mit denen sie im Alltag konfrontiert sind. Man kann diese Schwierigkeiten, Lebensmittel, Medikamente und die notwendigen Güter zur Ankurbelung der Produktion bis hin zur Erdölförderung zu importieren, nicht leugnen. Die große Ungerechtigkeit ist dabei, daß die gesamte Bevölkerung von den USA bestraft wird, weil sie mit dem politischen System Venezuelas nicht einverstanden sind. Sie wollen Zugriff auf das Erdöl erlangen, um weiterhin ihre Weltherrschaft aufrechtzuerhalten, die ja ins Wanken geraten ist.

SB: Die Bolivarische Revolution war insofern ein innovativer Entwurf, als ein Pakt zwischen einer linken Regierung und den ärmeren Teilen der Bevölkerung geschlossen wurde, aber die herrschenden Verhältnisse der nationalen Eliten weiterhin Bestand hatten. Inwieweit ist das ein neuer Begriff von Revolution und wie kann man damit umgehen?

JD: Ein wichtiger Bestandteil der Bolivarischen Revolution ist der damit verbundene kreative Prozeß. Es wird tagtäglich darüber debattiert, wie die Revolution fortgesetzt und gestaltet werden soll. Wollen wir einen Sozialismus, und wenn ja, wie sollte er aussehen? Viele befürworten einen Sozialismus, der auch gut zu uns paßt. Er mag anders sein, als in anderen Teilen der Welt, paßt aber zu Venezuela und den konkreten Bedingungen in ganz Lateinamerika. Dennoch ist uns bewußt, daß man die Eigentumsverhältnisse verändern muß. Solange es private Konzerne gibt, die mit den Interessen der Bevölkerung spielen, kann die Revolution keine entscheidenden Fortschritte herbeiführen und die nötigen Veränderungen schaffen, die wir brauchen. Aber es ist natürlich nicht einfach, diesen kapitalistischen Interessen etwas entgegenzusetzen. Das bleibt ein gewaltiger Machtkampf. Viele Menschen im Land gehen jedoch davon aus und fordern es auch, daß noch weitreichendere Veränderungen herbeigeführt werden müssen.

SB: Die Bolivarische Revolution war ein Fanal und strahlte über ganz Lateinamerika aus, so daß die Hoffnung wachgerufen wurde, sie werde weitere Länder erfassen und die Emanzipation von der Vorherrschaft der USA beflügeln. Längst hat jedoch der Rollback eingesetzt, und vielerorts treten rechte Regierungen auf den Plan wie zuletzt in Brasilien. Wie beeinflußt das Einstellung und Empfinden, wenn man merkt, daß "der Hinterhof Washingtons" keineswegs auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet ist, sondern abermals greift?

JD: Das ist auf jeden Fall sehr schwierig, da wir uns regelrecht umzingelt fühlen. Ich bin ja Kolumbianerin und halte es in diesem Zusammenhang für sehr wichtig, auch die Rolle Kolumbiens in dieser Entwicklung hervorzuheben. Leider muß man sagen, daß das Land ein regelrechter Militärstützpunkt der USA und inzwischen auch Mitglied der NATO ist. Das stellt ebenso wie der Rechtsruck in Brasilien und Argentinien eine große Bedrohung dar. Dennoch hoffen wir, daß Venezuela weiterkämpfen kann, wobei uns klar ist, daß unsere Gegner die Regierungen dieser Staaten sind. Große Teile der Menschen in diesen Ländern glauben nach wie vor an eine andere Welt und sind solidarisch mit Venezuela.

SB: Wie verhält es sich in Venezuela selbst, da hier das ansonsten vorherrschende Muster der Linken, gegen die Regierung zu opponieren, nicht greift. Die Basisbewegung arbeitet im Prinzip mit der Regierung zusammen. Welche Konflikte treten dabei auf?

JD: Es gibt auf jeden Fall Spannungen. Wir sind uns bewußt, daß der venezolanische Staat bislang ein bürgerlicher Staat ist, in dem noch viel verändert werden muß. Seit den 30er Jahren entstammen die Haupteinkünfte des Landes der Förderung von Erdöl. Daraus resultieren Besonderheiten des Staates, die schwer zu verändern sind. So ist der Staat der größte Arbeitgeber und verfügt über die bedeutendsten Einkünfte aus dem Ölgeschäft. Er hat also in gewissem Sinne auch die wirtschaftliche Macht und ist überall präsent. Wir wissen jedoch, daß nicht der Staat die Revolution durchsetzt, sondern die Basis, also die Bevölkerung. Ein wichtiger Vorschlag ist in diesem Zusammenhang die Schaffung eines Kommunalstaates, der ganz anders strukturiert wäre. Er setzte sich an der Basis aus einer Vielzahl von Gemeinderäten zusammen, in denen sich die Bevölkerung organisiert und für ihre Kämpfe mobilisiert. Wir arbeiten daran, die Entwicklung in dieser Richtung zu gestalten.

SB: Zentrale Themen der jüngeren Bewegungen in Deutschland wie Fridays for Future sind Umweltzerstörung und Klimawandel, aber auch Patriarchat und Identität. Sind das Themen, die auch in Venezuela für die jüngere Generation relevant sind?

JD: Auf jeden Fall. Beispielsweise spielen die Frauen eine sehr wichtige Rolle in der Bolivarischen Revolution. Sie sind im Grunde zumeist die Hauptpersonen der Organisierung in den Gemeinden und bei der Mobilisierung. Das sieht man im Alltag, und das sehr wichtig in einem Land wie Venezuela, das früher ausschließlich für Miss Venezuela und die Seifenopern bekannt war. Die kulturelle Veränderung ist wichtig und es ist spürbar, wie sich die Vorstellung von der Rolle der Frau in der Gesellschaft verändert. Auch die Klimafrage spielt eine bedeutende Rolle. Als Hugo Chavez seinen Entwicklungsplan für Venezuela formuliert hat, war der Klimaschutz ein sehr wichtiger Bestandteil. Viele unterstützen das, was natürlich in einem Land, das vom Erdöl und Bergbau lebt, nicht einfach ist. Das ist eine Herausforderung, die uns bewußt ist.

SB: Du hast auf dem Podium im Zusammenhang der Medienarbeit die Bedeutung der sozialen Medien angesprochen, zumal in Venezuela die größten Medien in der Hand der Gegenseite sind. Du hast zugleich auf die Gefahr einer Kontrolle der sozialen Medien hingewiesen. Wie könnte man deines Erachtens verhindern, auf diesem Wege vereinnahmt oder gesteuert zu werden?

JD: Ich denke, man sollte versuchen, die sozialen Netzwerke als Werkzeug zu nutzen. Das muß man lernen, weil sie heutzutage einfach eine sehr wichtige Rolle spielen. Das gilt insbesondere in Venezuela, wo der durch die Sanktionspolitik der USA hervorgerufene Papiermangel die Printprodukte beeinträchtigt. Der Import von Rohstoffen und Materialien, die für die Papierherstellung benötigt werden, ist erheblich eingeschränkt. Man kommt also nicht umhin, als Ersatz verstärkt auf soziale Netzwerke zurückzugreifen, sollte aber sehr vorsichtig sein, Fake News auf den Leim zu gehen. In diesem Zusammenhang spielen die Gemeindemedien wie Radiosender oder auch digitale Medien eine wichtige Rolle bei der Aufklärung, dieser Lügenpresse etwas entgegenzusetzen. Die Menschen an der Basis kennen sich in ihrem Alltag aus und können davon viel besser berichten als Außenstehende.

SB: Julieta, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnoten:

[1] www.jungewelt.de/aktion/jwstaerken/356307

[2] www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0338.html


Berichte und Interviews zur Künstlerkonferenz "Manifest für Gegenkultur" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT

BERICHT/338: Manifest für Gegenkultur - Gefahren und Chancen ... (SB)

12. Juni 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang