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ARBEIT/533: Die Außenstehenden als neues soziales Problem (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2013

Du gehörst nicht zu uns
Die Außenstehenden als neues soziales Problem

Von Gunnar Hinck



Der Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital war lange Zeit das bestimmende Konfliktfeld für Sozialdemokratie und Gewerkschaften, der Arbeitnehmer Hauptadressat für Schutz- und Fürsorgemaßnahmen. Inzwischen hat sich eine neue Spaltungslinie herausgebildet: zwischen den etablierten, abgesicherten Beschäftigten einerseits und denen in prekären Lebenslagen andererseits. Gemeinsam werden sie nicht für ihre Rechte streiten können. Nötig ist eine Intervention der Politik.


Eine Mittagsszene in der Kantine eines deutschen Unternehmens Anfang des vergangenen Jahrzehnts: An der Kasse legen die Mitarbeiter routiniert einen kleinen Plastikchip auf ein Lesegerät, das sie als Betriebsangehörige ausweist und zum vergünstigten Preis des Mittagessens berechtigt. Dann kommt eine kleine Gruppe von Mitarbeitern an die Reihe, die nicht über diesen Chip verfügt. Die Kassiererin weigert sich, ihnen den Mitarbeiterrabatt zu gewähren, obwohl sie für das Unternehmen arbeiten und die gleichen Tätigkeiten verrichten. Widerwillig zahlen sie den teureren Gästetarif. Um weitere Eklats zu verhindern, stellt die Unternehmensleitung wenig später improvisierte Pappkärtchen aus, die ihnen den Rabatt einräumt. Die subtile Demütigung aber bleibt: Der Mehrheit signalisiert das beruhigende Piepen des Lesegeräts, dass man Inhaber von Privilegien und Teil einer Gemeinschaft ist. Bei der Minderheit muss der Mitarbeitertarif nach Vorlage des Kartons umständlich mit der Hand eingegeben werden, was Zeit kostet, die Laune der Kassiererin nicht hebt und eine vertraute Beziehung "unter Kollegen" nicht fördert. Die Pappkarte signalisiert: Du bist nicht Teil unserer Gemeinschaft.

Die Chip-Inhaber gehören zur Stammbelegschaft des Unternehmens, die anderen sind Mitarbeiter von ausgelagerten, rechtlich selbstständigen Tochtergesellschaften desselben Unternehmens oder Beschäftigte einer Leiharbeitsfirma. Um Kosten zu senken und den Tarifvertrag zu umgehen, hatte das Unternehmen ab den späten 90er Jahren begonnen, Abteilungen auszulagern und neue Mitarbeiter für weit geringere Löhne einzustellen.

Die Unterschiede zwischen Stamm- und externem Personal setzen sich fort: Die einen profitieren von der in Jahrzehnten eingeübten und tariflich fixierten Praxis, Überstunden penibel aufzuschreiben, die durch ein Mehr an Freizeit vergolten werden. Die anderen trauen sich nicht, es ihnen gleichzutun, "weil das nicht gern gesehen wird". Die einen erzählen sich schon im Februar, ob es dieses Jahr nach Thailand geht oder doch nur an die Ostsee. Die anderen können ihren Urlaub nicht planen, weil sie ihre Ansprüche hintanstellen müssen. Sie, die Kinderlosen allemal, können froh sein, ihre Urlaubstage irgendwie unterzukriegen. Während sich die einen bereits am Freitag um 11 Uhr ein "schönes Wochenende" wünschen, bedeutet diese klassische Arbeitnehmer-Grußformel für die anderen eine blanke Provokation, weil sie in der Regel für die unbeliebten Schichten eingeteilt werden und laut ihrem Arbeitsvertrag ohnehin länger arbeiten müssen - für weniger Geld.

In den vergangenen 15 Jahren ist in Deutschland ein Bevölkerungssegment gewachsen, das von einer Vielzahl an Rechten und Ansprüchen teilweise oder gänzlich ausgeschlossen ist, die der deutsche Nachkriegs-Wohlfahrtstaat seit 1949 der Mehrheit zugestanden hat. Zählte man im Jahr 1999 noch 26,9% "atypisch Beschäftigte" (ohne die klassischen Teilzeitarbeitnehmer mitgerechnet), waren es zehn Jahre später bereits 36,1%. Dazu gehören Mini-Jobber, Leih-Arbeitnehmer, befristet Beschäftigte, Solo-Selbstständige, auf Werkvertragsbasis Arbeitende und geringfügig Beschäftigte, die ausschließlich dieser Form der Arbeit nachgehen. Hinzu kommen besagte Arbeitnehmer bei ausgelagerten Tochterunternehmen, über die es kein Datenmaterial gibt.


Starke Industriearbeiter, prekäre Dienstleister

Die neue Spaltungslinie, die diese Gruppen von den Etablierten in der Arbeitswelt trennt, verläuft nicht zwangsläufig zwischen oben und unten, sondern sie markiert die Grenze zwischen drinnen und draußen. Sie liegt damit neben dem klassischen marxistischen Antagonismus, der das sozialdemokratische und gewerkschaftliche Denken tief geprägt hat: Danach verläuft die wesentliche (Klassen)grenze zwischen denjenigen, die über das Kapital und die Produktionsmittel verfügen und denen, die ihre Arbeitskraft an die Kapitaleigner verkaufen müssen.

Die neue Spaltungslinie relativiert diesen alten Antagonismus. Ein festangestellter Facharbeiter im Stammwerk von BMW oder sein Kollege eines metallverarbeitenden Unternehmens in Baden-Württemberg befindet sich in einer völlig anderen Lage als der Paketausträger eines privaten Logistikunternehmens, der pro Sendung 50 Cent verdient und seinen Privatwagen für seinen Beruf einsetzen muss. Der eine verfügt über Privilegien und soziale Absicherungen, von denen der andere allenfalls träumen darf: Kündigungsschutz, Absicherung im längeren Krankheitsfall, Betriebsrente, Familienzulagen; schließlich natürlich die Höhe des Lohns. Die beiden Facharbeiter sind, auch dank der Gewerkschaft im Rücken und der Wertschätzung, die ihre Branchen aus historischen Gründen in Deutschland erfahren, in der Realität stark und nicht schwach. Schwach ist der Paketausträger. Er gehört zur Gruppe der Außenstehenden, auch, weil der gewerkschaftliche Organisationsgrad in seiner Branche klein ist und die Beschäftigten Angst haben, ihre Arbeit zu verlieren, sollten sie es wagen, gegen die Arbeitsbedingungen zu protestieren.

Hinzu kommen mediale Klischees: Wenn empörte Industriearbeiter mit grimmigen Gesichtern und hoch gehaltenen IG Metall-Fahnen vor dem Werkstor protestieren, ist ihnen der prominente Nachrichtenplatz in den Medien sicher, weil es gute Bilder gibt. Die dadurch erzeugte Aufmerksamkeit stärkt wiederum ihre Verhandlungsmacht. Den Beschäftigten der neuen prekären Arbeitswelt steht diese eindrucksvolle Bildersprache nicht zur Verfügung.

Die neue Spaltungslinie verläuft weiter quer durch die Milieus der Freiberufler und Kleinunternehmer. Die 31-jährige Architektin, die sich gerade selbstständig gemacht hat, gehört formal einer exklusiven Zunft an. Aber in der Wirklichkeit teilt sie weder Gemeinsamkeiten mit dem kleinen Zirkel hochbezahlter Star-Architekten noch mit der Gruppe der etablierten, architektonisch gesehen aber eher durchschnittlichen Berufskollegen, die Einkaufszentren oder Bürokomplexe von der Stange entwerfen und dadurch ein gutes Einkommen erzielen. Der elitäre Charakter ihrer Branche und der Stolz, alle nötigen Zertifikate und Zulassungen erhalten zu haben, lassen die junge Architektin einstweilen ihre prekäre finanzielle Lage vergessen, vielleicht hilft ein kleines Erbe finanzielle Lücken zu kompensieren. Aber regelmäßig überkommt sie die Angst, nie dorthin zu gelangen, wo das Geld sitzt und sich die Karrieren ergeben. Sie zweifelt, ob sie auf die richtigen Bauprojekte gesetzt hat, und ob sie nicht zu idealistisch war. Noch steht sie draußen, und es ist ungewiss, ob sie jemals hineinkommt.


Gebrochenes Aufstiegsversprechen

Zum weiten Kreis der Außenstehenden gehören unter anderem: Vorruheständler, die ihre karge Rente mit einem Job für eine Sicherheitsfirma aufbessern müssen; Dauerarbeitslose, die von "Maßnahme" zu "Maßnahme" geschickt werden; Freiberufler, die sich von Auftrag zu Auftrag hangeln; Beschäftigte, die einen befristeten Vertrag an den nächsten knüpfen; Alleinerziehende, für die Schulferien Stress und nicht Erholung bedeuten, weil dann die leidige Frage ansteht, wo das Kind betreut werden kann; Immigranten der dritten Generation mit starken Bildungsdefiziten; die Master-Absolventin, die schwarz im Café jobbt (zunächst "nur für ein paar Monate", woraus dann aber häufig doch Jahre werden); schließlich die klassischen Outcasts, die sich dem Verwertungsprozess des Arbeitsmarktes grundsätzlich entziehen. Die ökonomisch prekäre Lage hat Folgen für das Leben insgesamt. Wer "draußen" ist, meidet wegen Scham oder Selbstzweifeln Geselligkeit, und er verfügt im Zweifel nicht über das nötige Geld. Wem es schlecht geht, der erträgt die Erfolgsmeldungen der anderen nicht. Das Draußen-sein verfestigt sich.

Leistung allein entscheidet keineswegs mehr darüber, ob man hineinkommt und somit aufsteigen kann, oder ob man draußen bleibt. Das meritokratische Versprechen der Bundesrepublik ("Aufstieg durch Leistung"), das immer auch ein sozialdemokratisches war, ist gebrochen. Die Faktoren Branche, Ort, Zeit, soziale Herkunft und Glück sind bestimmend für die Frage, ob man es schafft oder nicht. Wer Polizist werden will oder ein Ingenieursfach studiert, hat zweifellos gute Chancen, eine sichere und auskömmliche Stelle zu bekommen. Wer nach dem Jahr 2000 in den Arbeitsmarkt eingetreten ist, trägt ein höheres Risiko, in der Endlosschleife von Projekt- und befristeten Verträgen zu bleiben als die Älteren. In Stuttgart hat man bessere Chancen als in Vorpommern. Die Tochter eines gut vernetzten Rechtsanwalts kann sich mit väterlicher Hilfe jene Zugänge verschaffen, die dem Sohn eines ALG II-Beziehers verwehrt sind. Hinzu kommt als weiteres Kriterium, ob man in der Lage ist, den Selbstoptimierungsanforderungen des Arbeitsmarktes zu genügen. Wer von der Schulzeit an verinnerlicht hat, dass es darauf ankommt, seinen Lebenslauf mit bestimmten karrierefördernden Elementen zu spicken und diese gut darzustellen, steigert ebenfalls seine Chancen.

Paradoxerweise haben die so genannte Liberalisierung des Arbeitsmarktes und die Politik des "Förderns und Forderns" die beiden Sphären des Draußen und Drinnen mehr voneinander abgeriegelt, als dass sie Brücken geschlagen haben. Diejenigen, die drinnen sind, wachen besorgt über ihren Status und wahren Distanz zu denen, die draußen sind. Und wenn die Ungerechtigkeiten im eigenen Betrieb allzu sichtbar werden, sehen sie lieber weg. Man blickt ungern in die Untiefen, die einem möglicherweise einmal selbst drohen. Andererseits ist bekannt, dass der Übergang vom Draußen ins Drinnen - etwa durch den Wechsel vom Leiharbeitsstatus in die Stammbelegschaft - nur selten gelingt.

Die Perspektiven für eine gemeinsame, öffentlich wirksame Stimme der Außenstehenden sind schlecht. Die Lebenswelten und individuellen Interessen sind zu disparat, um gemeinsam für die Verbesserung ihrer Lage zu streiten. Die 55-jährige Verkäuferin im Bahnhofs-Backshop, die auf 400-Euro-Basis arbeitet und einem promovierten 40-jährigen Soziologen, dessen befristeter Vertrag an der Universität gerade unwiderruflich endet, den Kaffee über den Tresen reicht, teilen im Grunde das gleiche Los. Die eine hat sich nach den Regeln des Arbeitsmarktes "zu lange" um die Kinder gekümmert und arbeitet jetzt in wechselnden "Jobs", der andere hat es versäumt, im Sinne der Selbstoptimierung genügend Aufsätze zu veröffentlichen, die richtigen Konferenzen zu besuchen und in jene Teildisziplinen zu gehen, in die gerade das Forschungsgeld fließt. Ihre Lage ist ähnlich, aber ihre Haltung und ihr persönlicher Hintergrund sind zu verschieden.

Reparaturen sind somit eher von oben, von den Institutionen, zu erwarten. Immerhin vertreten mit SPD, Grünen und Linkspartei inzwischen drei Bundestagsparteien ähnliche Positionen, was die Verbesserung der Lage von prekär Beschäftigten angeht. Deren Wahlprogramme gehen in die richtige Richtung. Dass es bekanntlich eine rot-grüne Regierung war, deren Gesetzgebung den Anteil der Aussenstehenden zusätzlich vergrößert hat, gehört indes zu den merkwürdigen Pointen der bundesdeutschen Politik der letzten Jahre.

Gunnar Hinck (*1973) ist Politikwissenschaftler, Buchautor und Redaktionsmitglied der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Zuletzt im Rotbuch Verlag erschienen: Wir waren wie Maschinen. Die bundesdeutsche Linke der 70er Jahre.
Gunnar.hinck@fes.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2013, S. 33-37
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juli 2013