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ARMUT/189: Globale Armut als institutionelle Menschenrechtsverletzung (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2012

Globale Armut als institutionelle Menschenrechtsverletzung

Von Thomas Pogge



Die Aufrechterhaltung supranationaler Regelungen mit starker Schräglage zugunsten der reichsten Menschen und Unternehmen führt zur massiven Verletzung der Grundrechte der ärmeren Hälfte der Menschheit. Die Demokratie ist dadurch in vielen Staaten einem rapiden Erosionsprozess ausgesetzt. Um welche Ungerechtigkeiten geht es, und wer trägt für sie die Verantwortung?


Weltweite Ungerechtigkeit

Laut jüngsten Daten der Weltbank beträgt das globale Pro-Kopf-Einkommen im Durchschnitt knapp unter drei internationale Dollar (eine von der Weltbank berechnete Vergleichswährung) pro Tag (2005). Das heißt, dass die Menschen im Durchschnitt pro Tag so viel konsumieren konnten, wie man 2005 für drei US-Dollar in den Vereinigten Staaten oder für 2,31 Euro in Deutschland kaufen konnte - oder so viel, wie man heute (2012) für 3,52 US-Dollar in den Vereinigten Staaten oder für 2,75 Euro in Deutschland kaufen kann. Man kann also sagen, dass Menschen, die auf diesem Niveau leben, wirklich sehr arm sind. Diese Einschätzung wird von zwei wichtigen Fakten untermauert. Zum einen ist der Preis für Lebensmittel, da sie Handelsware sind, in armen Ländern durchweg höher als die Kaufkraft-Paritäten der Weltbank suggerieren - durchschnittlich um 50%. Das heißt, dass eine Person 2008 im globalen Durchschnitt nur so viel Lebensmitteln kaufen konnte, wie 2005 für zwei US-Dollar in den Vereinigten Staaten oder für 1,54 Euro in Deutschland. Das ist signifikant, da ärmere Menschen einen viel größeren Anteil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben als die Bevölkerung im Allgemeinen. Zum anderen hat die ärmere Hälfte der Menschheit gar nicht dieses Durchschnittseinkommen, sondern im Schnitt nur etwa 46% dieses Betrags. Die Weltbank schätzt, dass 2008 tatsächlich ganze 1,74 Milliarden Menschen von weniger als 1,50 Dollar pro Person und Tag lebten (in internationalen Dollar von 2005, als Äquivalent zu der Kaufkraft von 1,50 US-Dollar in den Vereinigten Staaten oder von 1,155 Euro in Deutschland im Jahr 2005).

Es liegt auf der Hand, dass solch minimale Einkommen zu schweren Entbehrungen und hoher Anfälligkeit führen. Laut offiziellen Statistiken leidet etwa eine Milliarde Menschen unter chronischem Hunger und Unterernährung, 884 Millionen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, 2,5 Milliarden müssen auf moderne Sanitäreinrichtungen verzichten, und fast zwei Milliarden haben keinen Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten. Über eine Milliarde hat keine zulängliche Unterkunft, 1,6 Milliarden leben ohne Elektrizität, 796 Millionen Erwachsene sind Analphabeten, und 215 Millionen Kinder leisten Kinderarbeit. Noch schockierender ist die Anzahl der Menschen, die an den Folgen der Armut sterben. Laut Weltgesundheitsorganisation sind rund ein Drittel aller menschlichen Todesfälle,18 Millionen pro Jahr, auf Krankheiten wie Diarrhöe, Tuberkulose, Schwangerschaftskomplikationen und Atemwegsinfektionen zurückzuführen - alle leicht vermeidbar durch Zugang zu sauberem Trinkwasser, modernere Sanitäranlagen, bessere Ernährung, Rehydrations-Medizin, Impfstoffe und andere Medikamente. All diese Krankheiten kommen unter Wohlhabenden nicht vor. Und noch einmal: Darauf sind rund ein Drittel aller Todesfälle zurückzuführen. Hochgerechnet bedeutet dies: In den 22 Jahren seit dem Ende des Kalten Krieges sind etwa 400 Millionen Menschen infolge von Armut gestorben. Das ist doppelt so viel wie durch staatliche Gewalt, wie Kriege, Konzentrationslager, Gulags oder Genozide, im gesamten 20. Jahrhundert.

Für diese massiven Entbehrungen gibt es eine vordergründige Erklärung, aus der sich die Möglichkeit ihrer Vermeidung ableiten lässt. Dazu muss man sich einmal die Verteilung des Haushaltseinkommens anschauen, geschätzt anhand der aktuellen Marktwechselkurse.


TABELLE 1: Verteilung des globalen Haushaltseinkommens, 1988 und 2005, umgerechnet nach Marktwechselkursen
Diese Daten wurden dem Autor freundlicherweise von Branko Milanovic, Chefökonom der Forschungsgruppe Entwicklung der Weltbank 2010 zur Verfügung gestellt.)

Tabelle 1: Verteilung des globalen Haushaltseinkommens, 1988 und 2005, 
 umgerechnet nach Marktwechselkursen

Segment
der Welt-
bevölkerung


Anteil am
globalen Haus-
haltseinkommen 1988

Anteil am
globalen Haus-
haltseinkommen 2005

Absolute
Änderung im
Einkommens-
anteil

Relative
Änderung im
Einkommens-
anteil

Reichste 5%
Nächste 20%
Zweites Viertel
Drittes Viertel
Ärmstes Viertel

42,87
46,63
6,97
2,37
1,16

46,36
43,98
6,74
2,14
0,78

+3,49
-2,65
-0,23
-0,23
-0,38

+8,1%
-5,7%
-3,3%
-9,7%
-32,8%


Es lohnt sich, vier auffällige Fakten aus Tabelle 1 hervorzuheben:

• In nur 17 Jahren haben die reichsten 5% der Menschheit mehr (3,49%) hinzugewonnen, als die ärmere Hälfte am Ende dieser Periode noch übrig hatte (2,92%).

• Das Verhältnis des Durchschnittseinkommens der reichsten 5% zum ärmsten Viertel stieg im Zeitraum 1988-2005 von 185:1 auf 297:1.

• Wäre das Einkommen der ärmeren Hälfte konstant geblieben, so hätte ihr Anteil am globalen Haushaltseinkommen 2005 21% mehr (3,53 anstatt 2,92%) betragen müssen. Hätte sich das ärmste Viertel konstant gehalten, hätte sein Anteil am globalen Haushaltseinkommen 2005 49% höher (1,16% anstatt 0,78%) gelegen.

• Wäre ihnen der Zuwachs von 3,49% vergönnt gewesen, den die reichsten 5% erreichen konnten, hätte die ärmere Hälfte 2005 ihren Anteil mehr als verdoppeln können (auf 7,02%). Das hätte ausgereicht, um alle Menschen über das 2008 aktuelle Durchschnittseinkommen von drei internationalen Dollar zu bringen. Und es wären immer noch 93% des globalen Haushaltseinkommens für die reichere Hälfte der Menschheit übrig geblieben.

Das sind rein mathematische Überlegungen zur schnell wachsenden Polarisierung in der Verteilung des globalen Haushaltseinkommens seit 1988 - sie erklären nicht einmal ansatzweise, warum es zu dieser Polarisierung gekommen ist. Meiner Ansicht nach ist ein wichtiger Einflussfaktor die rapide Entwicklung eines zunehmend dichten und einflussreichen globalen Regelwerkes zusammen mit der Etablierung einer Gruppe neuer internationaler, supranationaler und multinationaler Akteure. Diese transnationalen Regeln und Akteure gestalten und regulieren nicht nur den ständig wachsenden Anteil an Interaktionen über nationale Grenzen hinweg, sondern greifen auch immer stärker in das praktische Leben nationaler (vor allem ärmerer) Gesellschaften ein, indem sie der nationalen Gesetzgebung zuvorkommen, sie einschränken und gestalten.

Diese dramatische Verlagerung von Recht und Regulierung von der nationalen auf die supranationale Ebene seit den späten 80er Jahren führt zu einer globalen ökonomischen Polarisierung, weil die supranationalen Regeln nicht durch transparente, demokratische Prozesse gestaltet werden, wie sie die nationale Gesetzgebung in Ländern charakterisieren, deren nationales Recht immerhin ein Mindestniveau erreicht hat. Vielmehr bilden sich supranationale Regeln durch Verhandlungen zwischen Regierungen heraus, von denen die allgemeine Öffentlichkeit und sogar einige der schwächeren Regierungen ausgeschlossen sind. Die Öffentlichkeit bekommt nicht sofort mit, welche Vorschläge debattiert werden und erfährt vom Inhalt neuer Regeln erst, wenn sie bereits verabschiedet worden sind. Auch darum besteht keinerlei Verantwortlichkeit,weil keine Information darüber vorliegt,wie sich der endgültige Vertragstext aus den anfänglichen Verhandlungspositionen entwickelt hat, ob nachträglich Druck ausgeübt wurde und Kompromisse von den verschiedenen beteiligten Staaten vorgeschlagen wurden.

Dieser verschleierte Regulierungskontext ist ideal für den kosteneffektiven Lobbyismus einiger weniger mächtiger Organisationen und Personen, inklusive großer multinationaler Unternehmen, Banken, Industrieverbände und Milliardäre, die über die Ressourcen und Anreize verfügen und die erforderliche Kompetenz zur Beeinflussung von Regierungen aufbringen, die die supranationale Regelsetzung dominieren. Unbeeinträchtigt von irgendeiner Mitwirkung der übrigen Menschheit kann diese winzige Elite das neue Regulierungsterrain unter sich aufteilen, wobei jeder mächtige Akteur Zugeständnisse auf jenen Gebieten machen kann, auf denen für ihn relativ wenig auf dem Spiel steht und im Gegenzug Vorteile auf den Gebieten bekommt, wo seine wichtigsten Interessen liegen. Ohne jede böse Absicht gegenüber den von all dem Ausgeschlossenen resultieren solche Übereinkommen erwartungsgemäß in supranationalen Übereinkommen, die diejenigen weiter stärken und bereichern, die sowieso schon die Stärksten und Wohlhabendsten sind - auf Kosten der anderen. Massive und anhaltende schwere Entbehrung ist dann ein unbeabsichtigter, aber voraussehbarer Effekt dieses starken Lobbyismus der mächtigsten ökonomischen Akteure, die die Regulierung erfolgreich auf die supranationalen Ebenen verlagern, wo es ein leichtes Spiel für ihre widerstreitenden Bemühungen ist, die Regeln und deren Anwendungen zu ihrem eigenen Vorteil zu gestalten.

Wenn diese Erklärung richtig ist, wäre zu erwarten, dass die größten Nutznießer die reichsten Unternehmen und Personen in den einflussreichsten Ländern sind - vor allem in den Vereinigten Staaten, da dieses Land immer noch ein dominanter Akteur in den supranationalen Verhandlungen ist und weil die US-Regierung ein wesentlich weicheres Ziel für Lobbyismus ist als nahezu alle anderen mächtigen Regierungen. Diese Erwartung erweist sich tatsächlich als gerechtfertigt:

Tabelle 2: Entwicklung der höchsten Anteile am nationalen Haushaltseinkommen in den USA
Quelle: Facundo Alvaredo, Tony Atkinson, Thomas Piketty and Emmanuel Saez, Top Incomes Database,
http://g-mond.parisschoolofeconomics.eu/topincomes/ (last visited September 4, 2012).



Tabelle 2: Entwicklung der höchsten Anteile am nationalen Haushaltseinkommen
in den USA

Segment
der US-
Population



Anteil
am US-
Haushalts-
einkommen 1928     

Anteil
am US-
Haushalts-
einkommen 1978     

Relative
Änderung am
Einkommens-
anteil


Reichste 0,01%
Nächste 0,09%
Nächste 0,40%
Nächste 0,50%
Nächste 4,00%
Nächste 5,00%

5,02    
6,52    
7,86    
4,54    
14,62    
10,73    

0,86    
1,79    
3,51    
2,79    
13,09    
11,45    

  

 Absolute

 Änderung am

  

 Absolute

 Änderung am

+602%     
+249%     
+101%     
+50%     
+16%     
-3%     


Tabelle 2 zeigt, wie sich die Einkünfte an der Spitze der US-Einkommenspyramide konzentrieren, wo sich die Einkommen von einem Hundertstel Prozent der US-Bevölkerung innerhalb von nur 29 Jahren um den Faktor 7 erhöht haben. Mit Einkommen von mehr als 12 Millionen Dollar pro Jahr verfügten diese Superreichen - etwa 14.400 Steuererklärungen stehen hier für rund 30.000 Personen - 2007 insgesamt über halb so viel Einkommen wie die untere Hälfte der US-Bevölkerung (rund 150 Millionen Personen) und über etwa zwei Drittel so viel wie die untere Hälfte der Menschheit (etwa 3,3 Milliarden Menschen). Diese Daten stützen meine Hypothese, dass die zunehmende Marginalisierung der Armen die Kehrseite eines massiven Trends der Beeinflussung der Spielregeln ist, der eine gewaltige Spirale der Ungleichheit in Gang setzt, der Kuznets-Kurve (nach der das Einkommensungleichgewicht eines sich entwickelnden Staates in späteren Phasen wieder abnimmt) in dramatischer Weise zum Trotz. Winzige Eliten in den mächtigeren Ländern beeinflussen ihre Regierungen, die Regulierungen auf die supranationale Ebene zu verlagern, wo sie von demokratischer Verantwortung entbunden sind und sie so zu verändern, dass sie zum eigenen Vorteil dieser Eliten formuliert und angewendet werden können. Sind diese Bemühungen erfolgreich, erlangen diese Eliten ökonomische und politische Macht, was sie noch besser in die Lage versetzt, jene Regierungen, die auf der internationalen Bühne von Bedeutung sind, zu ihrem eigenen Gunsten zu beeinflussen.

Die ökonomische Polarisierung in den USA und die konsequente ökonomische und politische Marginalisierung der ärmeren 90% der US-Bevölkerung illustrieren, dass die Zunahme ökonomischer Ungleichheit heute vor allem an der wachsenden intra-nationalen Ungleichheit liegt, die - natürlich auch durch inländische Faktoren beeinflusst und durch den inländischen politischen Prozess veränderbar - von der WTO-Globalisierung der letzten beiden Jahrzehnte begünstigt und vorangetrieben wurde und wird. Der Prozess bringt nicht nur eine Marginalisierung der Armen der ganzen Welt mit sich, sondern auch eine rapide Erosion der Demokratie in vielen Staaten, die noch vor 30 oder 40 Jahren wesentlich demokratischer waren als heute. Diese Erosion der Demokratie, vor allem in den Vereinigten Staaten, ist nicht im Interesse der ärmeren 90% der US-Bevölkerung, die durchaus die politische Macht haben, durch die Beschränkung der enormen Auswirkungen des Geldeinflusses auf die inländische Gesetzgebung und die Gestaltung der US-Außenpolitik (vor allem in Hinblick auf internationale Regeln und Verträge im Zusammenhang mit Handel und Investment) ihr politisches System zu demokratisieren.


Wer trägt die Verantwortung?

Nimmt man die Ungleichheit und die belastende Armut einmal unter die Lupe, so gehören die folgenden zu den gravierendsten Ungerechtigkeiten bei supranationalen institutionellen Regelungen. Die Bürger der einflussreicheren Länder haben die Verantwortung, auf ihre Regierungen einzuwirken, diese zu beseitigen:

• Das neue globale Handelsregime, verkörpert im Vertrag der Welthandelsorganisation (WTO), sollte umfassende kollektive Vorteile durch freie und offene Märkte schaffen. Doch dieses Regime ist manipuliert, es gestattet reichen Staaten, ihre Märkte durch Tarife und Anti-Dumping-Zölle zu schützen und durch Exportkredite und Subventionen, die sich ärmere Länder nicht leisten können, größere Weltmarktanteile zu gewinnen (inklusive jährlich rund 265 Milliarden Dollar allein für die Landwirtschaft). Da die Produktion in armen Ländern viel arbeitsintensiver ist als in Wohlstandsländern, zerstören solche protektionistischen Maßnahmen viel mehr Jobs als sie schaffen.

• Das sogenannte TRIPS-Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte geistigen Eigentums, das den Entwicklungsländern als Bedingung für die Mitgliedschaft in der WTO aufgezwungen wurde, sichert den technologisch fortgeschrittenen Ländern einen starken Gewinnzufluss aus der Nutzung ihres geistigen Eigentums, während arme Menschen effektiv von wichtigen Innovationen in der Pharmakologie und Landwirtschaft ausgeschlossen werden.

• Unter den existierenden Handelsregeln kaufen wohlhabende Länder und deren Unternehmen den Machthabern von Entwicklungsländern große Mengen an natürlichen Ressourcen ab, ohne zu berücksichtigen, wie diese Regierenden an die Macht gekommen sind und wie sie sie ausüben. In vielen Fällen läuft dies hinaus auf eine Kollaboration beim Diebstahl dieser Ressourcen von deren eigentlichen Eigentümern: der Landesbevölkerung. Es bereichert außerdem deren Unterdrücker und verstärkt somit die Unterdrückung.

• Die bestehenden Kreditregeln ermutigen wohlhabende Länder und deren Banken, Geld an illegitime Machthaber zu leihen und die Landesbevölkerung zu nötigen, es zurückzuzahlen, selbst wenn die Machthaber nicht mehr im Amt sind. Viele arme Bevölkerungen sind immer noch stark belastet durch Schulden, die - explizit gegen ihren Willen - ihre ehemaligen Unterdrücker an der Macht hielten, etwa Suharto in Indonesien, Mobutu in der Republik Kongo und Abacha in Nigeria.

• Das internationale Bankensystem ist so strukturiert, dass es in weniger entwickelten Ländern Beamten die Veruntreuung finanzieller Mittel erleichtert, indem es ausländischen Banken erlaubt, diese Gelder zu akzeptieren. Diese Komplizenschaft kann leicht vermieden werden: Banken sind bereits zu strikter Rechenschaftslegung im Zusammenhang mit Geldmitteln verpflichtet, die im Verdacht einer Verbindung zum Terrorismus oder Drogenhandel stehen. Doch westliche Banken akzeptieren und managen immer noch eifrig veruntreute Finanzmittel, gestützt von Regierungen, die sicherstellen wollen, dass ihre Banken für solche illegalen Einlagen attraktiv bleiben. Global Financial Integrity, eine Initiative für mehr Transparenz im Finanzsektor, schätzt, dass weniger entwickelte Länder auf diese Weise im Zeitraum von 2000 bis 2008 jährlich mindestens 342 Milliarden US-Dollar verloren haben.

• Globale Bilanzierungsregeln erleichtern multinationalen Unternehmen die Steuerflucht in weniger entwickelte Länder. Da sie nicht länderbezogenen Offenlegungspflichten unterworfen sind, können solche Unternehmen ihre Transferpreise zwischen ihren Niederlassungen leicht so manipulieren, dass sie ihre Profite in jene Länder konzentrieren, wo diese am geringsten besteuert werden. Das heißt, sie können den geringsten Profit in jenen Ländern melden, in denen sie den höchsten Nutzen bei der Herstellung oder beim Verkauf von Waren oder Dienstleistungen erzielen, und ihre weltweiten Profite werden in irgendeinem Steuerparadies versteuert, in dem sie nur auf dem Papier präsent sind. Die GFI schätzt, dass im Zeitraum von 2002 bis 2006 Handelsfehlbewertungen entwickelte Länder um 98.4 Milliarden Dollar Steuereinnahmen pro Jahr beraubt haben.

• Die bestehenden Regeln ermöglichen es den wohlhabenderen Ländern, die Umwelt beliebig zu verschmutzen, ohne Entschädigung für die angerichteten Schäden, wie für ernsthafte Gesundheitsgefährdung, extreme Wetterereignisse und Klimaveränderung leisten zu müssen, denen die armen Bevölkerungen besonders ausgeliefert sind. Einem Bericht des Global Humanitarian Forum zufolge trifft der Klimawandel bereits 325 Millionen Menschen, indem er jährlich 125 Milliarden Dollar wirtschaftlichen Schaden sowie 300.000 Todesfälle verursacht, 99% davon in weniger entwickelten Ländern.

Durch die Aufrechterhaltung der genannten supranationalen institutionellen Regelungen mit einer starken Schräglage im Interesse der reichsten Menschen und Unternehmen der Welt verletzen die Regierungen der führenden Nationen massiv die Menschenrechte der ärmeren Hälfte der Menschheit, die durch eben diese Regelungen voraussehbar und vermeidbar in lebensbedrohlicher Armut gehalten wird. Die Verantwortung für diese größte Menschenrechtsverletzung aller Zeiten tragen auch die Bürger der einflussreicheren Staaten, die - auch wenn sie selbst aus dieser Ungerechtigkeit keinen Nutzen ziehen - in die Fehler und Ungerechtigkeiten, an deren Verursachung sich ihre Regierungen beteiligen, verwickelt sind.

(Aus dem Amerikanischen von JULIA MATÉ)


Thomas Pogge (* 1953) ist Professor für Philosophie und Internationale Angelegenheiten an der Yale Universität. Zuletzt erschien bei de Gruyter auf deutsch: Weltarmut und Menschenrechte. Kosmopolitische Verantwortung und Reformen. (Ideen & Argumente).
thomas.pogge@yale.edu

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2012, S. 26-31
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Januar 2013