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BERICHT/016: Geduldet - Einblicke in ein Jugendwohnheim für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (SozPsy)


Soziale Psychiatrie Nr. 149 - Heft 3/15, Juli 2015
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Nur geduldet
Einblicke in ein Jugendwohnheim für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge

von Romy Frenzel


"Pro Xeno", eine Jugendwohneinrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, liegt mitten in Berlin-Kreuzberg. Romy Frenzel, Studentin der Sozialen Arbeit, machte dort ein siebenmonatiges Praktikum. Hier ihr Bericht.


Ohne Vorerfahrungen in der Jugendhilfe oder der Zusammenarbeit mit Flüchtlingen hatte ich keine Vorstellung davon, wie die Arbeit von "Pro Xeno" aussehen würde. Ich hoffte, einen realistischen Einblick in eine Jugendhilfeeinrichtung zu bekommen, die unbegleitete minderjährige Flüchtlinge betreut. Welche erzieherischen, sozialen, administrativen und sozialpsychologischen Faktoren werden in der Betreuung relevant? Was für ein Leben führen geflüchtete Jugendliche, die, traumatisiert, geografisch und familiär entwurzelt, hier in Deutschland oftmals nur "geduldet" sind? Und wie unterstützen ihre Betreuerinnen und Betreuer sie dabei?

Das Jugendwohnheim Pro Xeno

Im Herzen von Kreuzberg, zwischen Mehringdamm, Bergmannstraße und Waterloo Ufer, befindet sich das Jugendwohnheim Pro Xeno. Träger ist die Paul Gerhardt Werk - Diakonische Dienste gGmbH.

Pro Xeno bietet auf vier Etagen in 17 Wohneinheiten Platz für 27 junge Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund im Alter von 14 bis 18 Jahren. Das interkulturelle Team bei Pro Xeno besteht aus Sozialpädagogen, Erzieherinnen, einer Hauswirtschaftskraft und einem Hausmeister. Die Mitarbeitenden kommen aus Rumänien, Vietnam, Kosovo und Deutschland.

Die Wohneinheiten bestehen aus Ein- und Zweibettzimmern, einer Küche und einem Badezimmer und haben somit WG-Charakter. Eine Besonderheit sind die am Haus angegliederten Außenapartments, mit jeweils eigenem Bad und eigener kleiner Küche, die in der Regel für Jugendliche im betreuten Einzelwohnen zur Verfügung stehen. Im Keller befindet sich der Klubraum mit einer Sofaecke, einem internetfähigen Computer, einem Boxsack, einem Kickertisch, Spielen und Büchern. Der Innenhof wird häufig zum Tischtennisspielen, für Grillfeste oder Gespräche genutzt.

Wie kommen junge Flüchtlinge zu Pro Xeno?

Kommt ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach Berlin, erfolgt zunächst für drei Monate die "Inobhutnahme" gemäß § 42 Sozialgesetzbuch (SGB) VIII durch die Senatsverwaltung. Das ist die so genannte Clearingphase. Nach den drei Monaten wird ein Jugendamt der Stadt (nach Quotenschlüssel) als Kostenträger zuständig. Dieses Jugendamt sucht eine geeignete Einrichtung, in der der junge Mensch auf Dauer leben kann. Da seit einiger Zeit die Clearingstellen hoffnungslos überfüllt sind, kommen immer häufiger Jugendliche schon während der Clearingphase zu Pro Xeno. Bereits in dieser Phase wird durch die Senatsverwaltung beim Familiengericht die Einsetzung einer Vormundschaft beantragt.

Ist die oder der Jugendliche in der Einrichtung aufgenommen (und ist die Clearingphase abgeschlossen), findet eine erste Hilfekonferenz mit dem jungen Menschen, Vormund, Jugendamtsmitarbeiter, der Bezugsbetreuerin und Einrichtungsleitung statt. Die Hilfekonferenz dient dazu, die Wünsche und Ziele des Jugendlichen zu erfassen, deren Realisierbarkeit zu prüfen und mit den Erwartungen der für ihn oder sie Zuständigen abzuwägen und in Einklang zu bringen. Vom Jugendamt wird anschließend ein Hilfeplan angefertigt, der die nächsten Ziele schriftlich fixiert. Hiervon ausgehend erstellt der Bezugsbetreuer einen Betreuungsplan, in dem die zum Erreichen der Ziele erforderlichen Schritte formuliert werden.

Nach zirka sechs Monaten schreibt die Bezugsbetreuerin in Zusammenarbeit mit der Einrichtungsleitung einen Trägerbericht an das Jugendamt. Dieser soll die Entwicklung des Jugendlichen wiedergeben und prüfen, ob und in welchem Umfang die vereinbarten Ziele erreicht worden sind. Der Trägerbericht ist Grundlage für die nächste Hilfekonferenz. Diese finden in der Regel alle sechs Monate statt.

Ausgangslage: Was junge Flüchtlinge bewältigen müssen

Die Jugendlichen, die bei Pro Xeno leben, kommen aus der ganzen Welt: Vietnam, Serbien, Mali, Afghanistan, Bangladesch, Syrien, Russland und vielen anderen Ländern. Die Zahl der jungen Männer überwiegt seit einigen Jahren. Ihre Gründe für die Flucht sind meist Armut, familiäre Krisen, Krieg, Gewalt und Chancenlosigkeit im Herkunftsland.

Die größten Herausforderungen für die Bezugsbetreuerinnen bestehen zunächst im Auffangen der Jugendlichen und im Aufbau von Beziehung. Bei ihrer Aufnahme zeigen sich die Jugendlichen oft traumatisiert, verängstigt, misstrauisch und perspektivlos. Aufgrund ihrer Erfahrungen kann es vorkommen, dass es ihnen schwerfällt, anderen zu vertrauen oder sich sozial zu verhalten. Vor diesem Hintergrund kommen sie in eine fremde Kultur, sind sehr häufig lange mit der Ungewissheit belastet, ob sie überhaupt in Deutschland bleiben können und stoßen noch häufiger auf Ablehnung durch die ihnen fremde Gesellschaft. Sie stehen vor der Aufgabe, ohne familiäre Unterstützung ihre neue Lebenssituation zu bewältigen und sich eine Perspektive zu erarbeiten. Hinzu kommen anfangs die Verständigungsschwierigkeiten - aufgrund der Sprache wie auch inhaltlicher Art. Selbst für Deutschsprachige sind Anträge, Beschlüsse und die Kommunikation bei Terminen in der Ausländerbehörde oft eine Herausforderung.

Auch wenn die jungen Menschen Englisch oder Französisch sprechen, erfordert es doch viel Geduld und Einfühlungsvermögen, ihnen die deutschen Verwaltungsstrukturen, Abläufe und Regeln zu vermitteln. Für wichtige Termine, wie Hilfekonferenzen oder Altersgutachtenerstellung, wird daher versucht, einen Dolmetscher beizuziehen. Hier ist es oft von Vorteil, dass das Pro-Xeno-Team mehrsprachig ist.

In den meisten Fällen verstehen die Jugendlichen nach kurzer Zeit die Regeln des Zusammenlebens bei Pro Xeno und vertrauen ihren Betreuerinnen und Betreuern.

Alltagsstruktur: Selbstversorgung, Schulbesuch, Ausbildung

Die jungen Menschen werden betreut u.a. auf der Grundlage der Bestimmungen von § 27 in Verbindung mit § 34 SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe); die Betreuungsformen sind demnach Betreuung in der so genannten Regelgruppe, in geringer Betreuungsdichte, im betreuten Einzelwohnen (BEW) und im Rahmen von Fachleistungsstunden, wenn die Betreuung durch die Jugendhilfe ausläuft. Pro Xeno verfolgt das Konzept der Bezugsbetreuung, d.h., dass eine Betreuerin in Zusammenarbeit mit einem Kobetreuer drei bis fünf Jugendliche betreut.

Die Jugendlichen erhalten wöchentlich Verpflegungsgeld und versorgen sich damit selbst. Kann jemand nicht kochen, wird er anfänglich von der Hauswirtschaftskraft und Kobetreuerin versorgt und im Kochen angeleitet. Monatlich wird Taschengeld ausgezahlt, mit dem die Jugendlichen auch selbst wirtschaften müssen. Viele sparen etwas davon; das Gesparte wird von den Bezugsbetreuern verwaltet. Den Umgang mit Geld zu lernen gehört für die jungen Flüchtlinge ebenso zum Leben wie für andere Jugendliche in Deutschland. Pro Xeno bietet ihnen ein Zuhause, in dem sich eine Alltagsstruktur entwickeln soll.

Dieser Alltag ist von verschiedenen Aspekten geprägt. Der wichtigste ist der Schulbesuch. Es versteht sich von selbst, dass der Erwerb der deutschen Sprache grundsätzlich zu einem gelingenden Aufenthalt in Deutschland beiträgt. Je nach Fähigkeiten und Alter besuchen die Jugendlichen eine so genannte Willkommensklasse, einen Alphabetisierungskurs oder einen Deutschkurs an der Volkshochschule.

Die Willkommensklassen sind extra eingerichtete Klassen an regulären Schulen, in denen Schülerinnen und Schüler verschiedener Herkunft und unterschiedlichen Alters zunächst nur Deutsch lernen sollen. Ziel ist es, dass sie in eine Regelklasse wechseln und einen Schulabschluss machen.

Jugendliche, die aufgrund ihres Alters oder anderen Gründen keine Schule besuchen können, nehmen an zeitlich weniger intensiven Deutschkursen teil, die zum Beispiel vom Projekt 'Flucht nach vorn' der Stiftung 'Sozialpädagogisches Institut Walter May' (SPI) in Kreuzberg oder den Volkshochschulen angeboten werden.

Es gibt in Berlin diverse Projekte für Flüchtlinge und junge Menschen mit Migrationshintergrund, die zum einen Deutsch vermitteln und zum anderen auf eine Ausbildung vorbereiten. So können manche zum Beispiel das Projekt 'Sprungbrett' bei dem privaten Bildungsdienstleister D&B (Dienstleistung und Bildung) besuchen, wobei sie in verschiedene Ausbildungen reinschnuppern können und auch trotz Duldungsstatus - und das ist die Besonderheit - eine Ausbildung absolvieren können.

Problematisch sind, was den Schulbesuch betrifft, die häufigen Fehlzeiten der Jugendlichen, wegen Arztterminen, Behördengängen und leider auch manchmal wegen Unlust. Bei Pro Xeno bietet eine junge Engländerin regelmäßig Nachhilfe an, zusätzlich erhalten die Jugendlichen Hausaufgabenhilfe von ihren Betreuerinnen.

Aufenthalt: die ständige Angst vor Abschiebung

In den meisten Fällen haben die Jugendlichen eine Duldung, die alle drei bis sechs Monate vom Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (LABO)/Ausländerbehörde nach Vorsprache der Betroffenen verlängert wird. Wichtig für die Betreuung ist es hier, Termine bei der LABO zu vereinbaren und sie dorthin zu begleiten. In der Regel leben die Jugendlichen über Jahre hinweg von einer Verlängerung ihrer Duldung bis zur nächsten. Besteht dennoch Chance auf einen Aufenthaltstitel, werden die Jugendlichen eng dabei begleitet und unterstützt. Diese Chancen sind selten, aber es gibt sie. Beispielsweise wird ein Härtefallverfahren bei der Härtefallkommission oder ein Antrag auf Aufenthalt nach § 25a Aufenthaltsgesetz (AufenthG) angestrengt. Die Härtefallkommission setzt sich zusammen aus "sieben Vertreter[n] von Organisationen und Behörden, die in der Beratung von Migranten und Flüchtlingen aktiv sind: Wohlfahrtsverbände, Kirchen, Integrationsbeauftragte, Senatsverwaltung für Frauen, Flüchtlingsrat u.a. Aufgrund einer Empfehlung der Kommission kann der Berliner Innensenator die Ausländerbehörde anweisen, in einem besonderen Härtefall eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Er kann dies aber auch ablehnen."(1) Ein Härtefallverfahren ist jedoch genau wie ein Asylverfahren ein langwieriges Unterfangen, bei dem sich die Betroffenen in Geduld üben müssen. Der § 25a AufenthG besagt, dass ein geduldeter Ausländer, "der in Deutschland geboren wurde oder vor Vollendung des 14. Lebensjahres eingereist ist",(2) eine Aufenthaltserlaubnis erhalten kann, wenn "er sich seit sechs Jahren ununterbrochen erlaubt, geduldet oder mit einer Aufenthaltsgestattung im Bundesgebiet aufhält, er [...] eine Schule besucht hat oder [...] einen anerkannten Schul- oder Berufsschulabschluss erworben hat und der Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach Vollendung des 15. Lebensjahres und vor Vollendung des 21. Lebensjahres gestellt wird".(3) Die Antragstellung auf Aufenthaltserlaubnis nach § 25a erfolgt über Anwälte. In seltenen Fällen erlangen die jungen Menschen eine meist auf ein Jahr begrenzte Aufenthaltserlaubnis. Doch auch eine Abschiebung kommt vor, und auch dieser Prozess wird von den Betreuerinnen begleitet.

Vormundschaft und Altersgutachten: Wo bleibt die Würde?

Ein weiterer Aspekt ist die Zusammenarbeit mit den Vormündern. Da zunächst davon auszugehen ist, dass die jungen Menschen bei ihrer Ankunft minderjährig sind, wird durch die Senatsverwaltung beim Familiengericht ein Vormund bestellt. In den meisten Fällen sind dies Amtsvormünder; Privatvormünder sind selten. Eine gute, effektive und kommunikative Zusammenarbeit der Betreuer mit den Vormündern stellt eine der wesentlichen Herausforderungen in der Begleitung der jungen Menschen dar. Amtsvormünder haben eine immense Zahl an Mündeln zu betreuen und sind daher auf einen stetigen Informationsaustausch, ausgehend von den Betreuerinnen, angewiesen. Bezweifelt ein Vormund die Minderjährigkeit des jungen Menschen, kommt der nächste wichtige Aspekt in der Betreuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge zum Tragen: die Feststellung des Alters durch ein so genanntes Altersgutachten. Die Altersgutachten sind in der Flüchtlings- und Asyldebatte hinsichtlich der Menschenwürde und der Genauigkeit der Gutachten schon lange ein umstrittenes Thema. Dies spiegelt sich auch deutlich in der Betreuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge wider. Ein solches Gutachten wird mittels Inaugenscheinnahme, Röntgenbildern und körperlicher Untersuchung durch einen Amtsarzt durchgeführt. Die Jugendlichen werden in der Regel zu einem solchen Termin von ihren Bezugsbetreuern begleitet. Im Normalfall wird auch ein Dolmetscher bestellt. Die Jugendlichen erleben diese Termine als entwürdigend, da sie sich aus einem für sie meist nicht nachvollziehbaren Grund komplett entblößen, sich untersuchen und nackt fotografieren lassen müssen.

Kommen die Jugendlichen von einer Altersgutachtenerstellung zurück, erlebt sie das Pro-Xeno-Team meist für ein paar Stunden oder Tage verschlossen, in sich gekehrt oder auch aggressiv und wütend. Dazu kommt dann häufig die Enttäuschung, wenn ein fremder Mensch ihnen ein Alter attestiert, das ihrer Meinung nach nicht der Wahrheit entspricht und was für ihren Aufenthalt in Deutschland meist schlimme Folgen hat.

Werden Jugendliche als volljährig begutachtet, müssen sie in der Regel die Einrichtung verlassen und werden in einem Asylbewerberheim untergebracht. Es kommt jedoch auch vor, dass mehrere Gutachten mit unterschiedlichen Ergebnissen vorliegen, dann wird auf die Entscheidung des Familiengerichts gewartet, welches Gutachten als korrekt befunden wird. Diese Ungewissheit und das zähe Warten auf eine Entscheidung sind sowohl für die jungen Menschen als auch für ihre Betreuer oft zermürbend.

Auch die Auseinandersetzung mit der Polizei und der Justiz ist ein Aspekt der Betreuung. Einige Jugendliche sind mithilfe von so genannten Schlepperbanden geflüchtet und haben sich dafür hoch verschulden müssen. Hier in Deutschland sind sie dann gezwungen, schwarzzuarbeiten, um ihre Schulden abzuzahlen und ihre Familie im Heimatland zu schützen.

Meist verkaufen sie Zigaretten oder arbeiten in Nagelstudios. Nicht selten werden sie dabei von der Polizei aufgegriffen. Passiert das mehrfach, droht ein Gerichtsverfahren und die Abschiebung. Die jungen Menschen sind in dem Fall in einer grausamen Zwickmühle. Die Aufgabe der Betreuerinnen ist es hier, ihnen beizustehen, sie über die Sachlage aufzuklären, die Termine mit Polizei und Justiz im Auge zu behalten und sie wenn möglich dorthin zu begleiten.

Abgesehen von diesen Aspekten muss noch darauf hingewiesen werden, dass die jungen Menschen nicht zuletzt auch mitten in der Pubertät stecken. Dass sie bei all den Herausforderungen, mit denen sie in Deutschland konfrontiert sind, auch noch eine der natürlichsten durchleben: Sie entwickeln ihre Persönlichkeit und finden ihre Identität, was schon in einem "normalen" Rahmen mit Schwierigkeiten und ganz persönlichen Dramen verbunden ist. Allerdings haben pubertierende junge Menschen in einem "normalen" Leben auch meist ihre natürlichen Vertrauten, also Familie oder Freunde, die sie beim Erwachsenwerden unterstützen. Die meisten Jugendlichen bei Pro Xeno haben ihre natürlichen Vertrauten verloren oder zurückgelassen.

Leitung und Team: gemeinsam in der Betreuung der Jugendlichen

Die Aufgaben der Einrichtungsleitung (bei Pro Xeno eine Leiterin und ein Leiter) sind vielschichtig und umfangreich. Sie haben die Einrichtung nach außen zu repräsentieren und dem Träger gegenüber zu vertreten. Dies geschieht in Leitungskonferenzen, Qualitätssteuerungsgruppen oder durch die Mitarbeit in Gremien, wie zum Beispiel dem Arbeitskreis Clearing. Sie tragen die Verantwortung für die Belegung der Plätze und die Rückmeldung an den Träger. Die Konzeptionsentwicklung und die Zusammenarbeit mit Ämtern gehören ebenfalls zu dieser Arbeit. Zu den internen Aufgaben gehört unter anderem die Dienstplangestaltung, die, speziell im Schichtdienst und bei oft zu enger Besetzung, nicht immer unproblematisch ist. Genauso wie das tatsächliche Leiten des Teams. Das Pro-Xeno-Team besteht aus zirka zehn Erzieherinnen und Erziehern unterschiedlichster Nationalitäten, verschiedenen Alters, mit individuellen Erfahrungen und Einstellungen zu ihrer Arbeit.

Die Betreuung der Jugendlichen, die Auseinandersetzung mit Behörden, die teilweise enge Zusammenarbeit mit Kolleginnen anderer Ansichten und nicht zuletzt der Schichtdienst können an persönliche Grenzen führen. Jeder geht anders mit diesen Grenzen und emotionalen Belastungen um, und Aufgabe der Einrichtungsleitung ist es, Kollegen in kritischen Situationen aufzufangen. Um möglichst zur Zufriedenheit aller arbeiten zu können, findet im Pro-Xeno-Team ein regelmäßiger Austausch in Form von Dienstberatungen (hier geht es in erster Linie um die Jugendlichen) und Supervisionen (mit einem externen Supervisor) statt.

Ein weiterer Aufgabenkomplex der Leitung ist die Betreuung der Jugendlichen im betreuten Einzelwohnen in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Bezugsbetreuern, da diese Jugendlichen per Gesetz nicht ausschließlich von Erzieherinnen betreut werden dürfen. Die Tendenz zu Jugendlichen in BEW-Betreuung ist steigend, wie auch die Flüchtlingszahlen steigend sind.

In für mich oft erstaunlicher Weise gelingt es der Leiterin und dem Leiter der Einrichtung, eine vertrauensvolle Verbindung den jungen Menschen herzustellen und dabei eine für beide Seiten gesunde Distanz zu wahren. Die Beziehung der Jugendlichen zu ihnen ist eine andere als die zu ihren jeweiligen Bezugsbetreuern. Von ihnen werden sie nicht in ihrem Alltag, sondern in besonderen Situationen betreut. Wobei hier anzumerken ist, dass diese besonderen Situationen sich im Leben unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge oft einstellen können. Hier ist die Fähigkeit, zu entscheiden, wann sie sich als Einrichtungsleitung eines Problems oder Sachverhalts annehmen oder dieses delegieren können, von entscheidender Bedeutung. Dazu gehört auch, sich im Verlauf aus dem Betreuungskontext wieder zurückzuziehen und dafür vor allem den richtigen Zeitpunkt zu erkennen. Beispielsweise schalten sie sich in akuten Krisen ein, führen Gespräche mit den Betroffenen und vereinbaren Lösungen. Es war zu beobachten, dass der Deeskalationsfaktor höher ist, wenn sich die Leitung an der Konflikt- oder Problemlösung beteiligt, zumal die Bezugsbetreuer auch Teil des Konflikts sein können.

Mitbestimmung und Mitwirkung: (m)ein Projekt bei Pro Xeno

Die von Deutschland im Jahr 1992 ratifizierte Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen spricht bezüglich der Partizipation unter anderem in Artikel 12, Berücksichtigung des Kinderwillens, eine deutliche Sprache: "Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührende Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife."(4)

Auch das SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, regelt in § 8 Abs. 1 die "Beteiligung von Kindern und Jugendlichen": "Kinder und Jugendliche sind entsprechend ihrem Entwicklungsstand an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen."(5)

Dies sind nur zwei Beispiele von vielen gesetzlichen Regelungen, die den Rechtsanspruch auf Mitwirkung klar definieren.

Der Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e.V. (UMF) hat im November 2013 das "Handlungskonzept Partizipation in der Kinder- und Jugendhilfe" veröffentlicht, das in einem bundesweiten, mehrjährigen Projekt mit jugendlichen Flüchtlingen und Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen entstanden ist. Das Konzept klärt über Grundlagen zur Partizipation auf und bietet erprobte Handlungsvorschläge zu einer gelingenden Umsetzung an.

Da auch bei Pro Xeno mehr Partizipation umgesetzt werden soll, finden zu dem Thema regelmäßig Klausurtage mit dem gesamten Team statt. Hier werden vom Team Konzepte für mehr Partizipation entwickelt; so konnte ich während des Praktikums zwei Projekte mitgestalten und umsetzen. Das erste war eine Willkommensmappe für Neuankömmlinge. Diese soll den Jugendlichen einen ersten Eindruck unter anderem über die Einrichtung vermitteln und einen fortlaufenden Überblick ermöglichen. Denn Information ist der Schlüssel zur Partizipation. Das zweite Projekt ist die Pro-Xeno-Jugendlichenversammlung. Inspiriert war diese Idee von einer anderen Einrichtung, die einen Jugendrat als Interessenvertretung der Jugendlichen etabliert hatte. Die Versammlung sollte und soll eine Möglichkeit für alle Jugendlichen im Haus bieten, als Bewohnerschaft zusammenzukommen und über Themen, die sie selbst vorgeben, zu diskutieren. Vor allem aber geht es um die Gelegenheit zur Mitbestimmung in einem Leben, das überwiegend aus Vorschriften von außen (seitens des Jugendamts, der Ausländerbehörde, Vormünder ...) besteht.

Die erste Versammlung nutzten wir dazu, über Partizipation und Rechte aufzuklären, an der 17 Jugendliche teilnahmen; über diese hohe Zahl waren wir doch überrascht. Schließlich kamen viele Themen zur Sprache, wie beispielsweise "5 Euro mehr Essensgeld pro Woche" oder "WLAN im Haus", über die diskutiert wurde. Die Jugendlichen wählten nach demokratischen Regeln das wichtigste Thema ("5 Euro mehr Essensgeld pro Woche") und zwei Vertreter, die den Wunsch mit vorher gemeinsam gesammelten Argumenten an das Pro-Xeno-Team und die Leitung herantrugen. Die Leitung brachte das Anliegen der Jugendlichen auf die Agenda der Geschäftsführung des Paul-Gerhardt-Werks. Doch bisher sehen die Jugendlichen keinen Erfolg, daher ist Enttäuschung und auch reduziertes Interesse an der Versammlung zu spüren. Partizipation ist eben auch ein Prozess, deshalb bleiben wir dran und veranstalten die Versammlung alle zwei Monate.

Ausblick

Nach dem Praktikum bekam ich die Möglichkeit, weiterhin stundenweise bei Pro Xeno zu arbeiten.

Zu meinen wichtigsten Aufgaben zählt die Kobetreuung von zwei jungen Frauen aus Vietnam und einer jungen Frau aus Serbien. Kurz vor Beginn meines Praktikums war bei Pro Xeno ein Pilotprojekt gestartet: Zum ersten Mal wurde eine BEW-WG außerhalb des Hauses gegründet. Die beiden jungen Frauen aus Vietnam, inzwischen beide 18 Jahre alt, teilten sich eine Wohnung in Friedrichshain. Zur WG-Betreuung gehörte unter anderem die Unterstützung bei Anträgen (Schüler-Bafög, Mietzuschuss, Berufsausbildungsbeihilfe, Krankenversicherung), Hilfe und Begleitung bei Prüfungen und Ausbildungsplatzsuche, die Teilnahme an Hilfekonferenzen sowie die Mitarbeit am Erstellen der Träger- und Betreuungsberichte. Die letzten beiden Aufgaben galten auch für die Kobetreuung der jungen Frau aus Serbien, hier kam noch eine Begleitung in gesundheitsrelevanten Dingen hinzu. Aufgrund einer Autoimmunerkrankung muss die junge Frau regelmäßig ins Krankenhaus, und diese Termine habe ich meist begleitet. Hier war es oft hilfreich, dass ich auch Krankenschwester bin, da ich vieles für alle Beteiligten verständlich machen konnte.

Zum Ende meines Praktikums konnte nach und nach für die jungen Frauen die Unterstützung durch die Jugendhilfe (u.a. da sie alle volljährig sind) reduziert werden, und so kam als neue Aufgabe die Hilfe bei der Überleitung der Hilfen an das Sozialamt und in ein eigenständiges Leben hinzu.

Ich habe viel mit und von den jungen Frauen gelernt. Die Entwicklung der drei ist sehr unterschiedlich, so auch die Betreuung, und ich war und bin jede Woche mit neuen Herausforderungen konfrontiert.

Zu den Dingen, die ich gelernt habe, gehört in jedem Fall das Kommunizieren auf unterschiedlichen Ebenen. Am schwierigsten war es anfangs für mich, im Gespräch mit den Jugendlichen komplizierte Sachverhalte in einfachen Worten zu erklären. Gegenüber Behörden lernte ich, mit mehr Selbstsicherheit aufzutreten, auch um das den Jugendlichen vorzuleben. Hinsichtlich der jungen Menschen lernte ich, Hochachtung für ihre persönlichen Kämpfe zu empfinden und vor allem sie nicht als Opfer zu betrachten.


Romy Frenzel studiert im sechsten Semester Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen, Berlin. Ihr Interessenschwerpunkt ist die Arbeit mit Menschen mit Fluchterfahrung.
E-Mail: romy-frenzel@gmx.de


Hinweis zur Genderschreibweise: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde abwechselnd die weibliche und männliche Schreibweise verwandt. Auf Zeichen * und/oder _ für transsexuelle/intersexuelle Personen (wie im Original) wurde verzichtet. Diese sind dennoch ebenfalls angesprochen.


Anmerkungen:

(1) Härtefallkommission in Berlin - Merkblatt für Antragstellende, 2013.
(2) http://www.gesetze-im-internet.de/aufenthg_2004/_25a.html
(Zugriff am 15.10.2014).
(3) dito
(4) http://www.kinderrechtskonvention.info/uebereinkommen-ueber-die-rechte-des-kindes-370/#artikel-12bercksichtigung-des-kindeswillens
(Zugriff am 12.10.2014).
(5) Gesetze für die Soziale Arbeit - Textsammlung. Baden-Baden: Nomos, 2014, S. 1731.

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 149 - Heft 3/15, Juli 2015, Seite 31 - 35
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. August 2015

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