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DISKURS/004: Ausschluß, Prekarisierung, Spaltung (spw)


spw - Ausgabe 3/2009 - Heft 171
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Ausschluss, Prekarisierung, Spaltung:
über die Notwendigkeit einer gesellschaftspolitischen Klärung des Begriffs von der sozialen Exklusion

Von Sascha Howind


Gefahr für den sozialen Zusammenhalt in Deutschland?

Die Aussagen der Präsidentschaftskandidatin Gesine Schwan, sie fürchte um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland und die darauf folgende Ergänzung von DGB-Chef Michael Sommer, er befürchte gar den Ausbruch sozialer Unruhen, haben heftige Reaktionen verursacht. Aus den Reihen der Unionsparteien wird ihnen unter anderem "unverantwortliche Schwarzmalerei" vorgeworfen; die Aussagen selber würden soziale Spaltung provozieren und eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt darstellen.

Besteht tatsächlich die Gefahr, dass der soziale Konsens, die Anerkennung der wechselseitigen Abhängigkeit der Mitglieder einer Gesellschaft sowie die Bereitschaft zu kollektiver Vorsorge in Zeiten der Wirtschaftskrise seine Gültigkeit verliert? Reicht alleine der Ausdruck der Befürchtung um diesen Konsens aus, um ihn zu gefährden? Befindet sich die deutsche Gesellschaft aktuell in einem Spaltungsprozess?

Im sozialwissenschaftlichen Diskurs ist bereits von einer Erosion des Sozialen die Rede; die deutsche Gesellschaft habe demzufolge die Phase "integrativer Klassenkonflikte hinter sich gelassen" und drohe nun am "konfliktuösen Nebeneinander der Gemeinschaften im postindustriellen Rahmen zu zerbrechen." Der soziale Blick werde auf Konsumgewohnheiten reduziert und es verbreite sich die "alltägliche Erfahrung eines sozialen Dschungels, die die Leute in einer Nachbarschaft ohne selbstverständliche Maßstäbe von Arbeit, Beruf und Beschäftigung bestimmt." (Bude 2008, S. 65). Tatsächlich lässt sich die Tendenz beobachten, dass große Bevölkerungsteile den gesellschaftlichen Anschluss verpassen. So hat eine Untersuchung der Politischen Milieus in Deutschland ergeben, dass ungefähr ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland sich in gefährdeten bzw. abgehängten Lagen befindet, denen eine vollwertige gesellschaftliche Teilhabe verwehrt ist (Neugebauer 2007). Im Mittleren Drittel befindet sich die vom Abstieg bedrohte Arbeitnehmermitte, die insgesamt einen Anteil von 16 Prozent aufweist. Der Übergang zwischen sicheren, prekären und abgehängten Lagen gilt als fließend wohingegen die abgehängten Lagen sich bereits verfestigt haben.


Die Debatte über soziale Exklusion

Über den Begriff der Exklusion bzw. der gesellschaftlichen Ausgrenzung wird seit mehreren Jahren eine Debatte geführt (zusammengefasst in Bude/Willisch 2008). Der Ausschluss von sozialer Teilhabe gilt hier als zentrale Kategorie zur Beschreibung dieser neuen sozialen Unsicherheiten. Der folgende Beitrag widmet sich auch der Frage, ob mit diesem soziologischen Begriff die Prekarisierung genannte Entwicklung neuer gesellschaftlicher Ungleichheiten treffend beschrieben wird.

Der Exklusionsbegriff hat seinen Ausgangspunkt in der Feststellung der Existenz von "Überflüssigen", die für den Produktionsprozess nicht oder nicht mehr benötigt werden. Bude entwirft das Bild von einer sich abkapselnden Unterschicht; exemplarisch nennt der Autor Figuren der Prekarität: allein erziehende Frauen, "verwilderte Jungmänner" und "ausbildungsmüde Jugendliche nicht deutscher Herkunft". "Sie laufen mit, aber sie haben keine Adresse in der kollektiven Selbstauffassung unseres Gemeinwesens" lautet die gemeinsame Charakterisierung dieser exemplarischen Figuren der Prekarität. Trotz seines ausschließlichen Fokus auf die Ausgegrenzten betont Bude, das Problem der sozialen Spaltung habe grundsätzlich strukturelle Ursachen, etwa im Bildungssystem. Ursachen für die zu beobachtenden Phänomene sozialer Spaltung sind soziale Ungleichheiten. So lässt sich das Phänomen der sozialen Spaltung auf den Feldern Bildung, Gesundheit und Sicherheit beobachten.

Die Ursache für diese Spaltung liegt laut Bude im sozialen Ausschluss im Sinne von einer Ausgrenzung aus gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhängen. Bezugspunkt der Exklusion "ist die Art und Weise der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, nicht der Grad der Benachteiligung nach Maßgabe allgemein geschätzter Güter wie Einkommen, Bildung und Prestige". Ausgrenzung geschieht in ökonomischer, institutioneller, sozialer, und kultureller Form; schließlich existiert eine subjektive Komponente, die sich im jeweiligen Gefühl der Zugehörigkeit bzw. des Ausgeschlossenwerdens bemerkbar machen kann. Die radikalste Form der Ausgrenzung ist die Vernichtung, etwa in Form des Genozids.

An dieser Sichtweise ist unter anderem zu kritisieren, dass die Akteure bzw. Agenturen der Ausgrenzung nicht erwähnt werden. Außerdem besteht die Gefahr einer Dichotomisierung, einer Sichtweise von Innen und Außen. Dadurch wird die Möglichkeit suggeriert, dass die Ausgegrenzten sich außerhalb der Gesellschaft befinden und somit kein Problem für die Mehrheitsgesellschaft darstellen. Doch gesellschaftliche Ausgrenzung findet in der Gesellschaft statt; die Mitgliedschaft in der Gesellschaft ist die Voraussetzung für Ausgrenzung.

Exklusion erscheint so als negative Benennung, beinhaltet die Unterstellung eines Defizits bzw. eines bestimmten Mangels bei den Ausgeschlossenen. Entsprechend bleibe der Begriff Exklusion ohne Substanz oder Benennung der Ursachen (Castel). Er beinhaltet die Beschreibung eines bestehenden gesellschaftlichen Zustands statt eines dynamisch ablaufenden Prozesses, auf den Einfluss genommen werden kann. Der Begriff der Exklusion bezeichnet also sowohl den Prozess als auch den Zustand der Ausgrenzung und birgt die Gefahr der Moralisierung bzw. der Zuschreibung, die Ausgrenzung durch gesellschaftlich nicht erwünschtes Verhalten selber verschuldet zu haben.


Zonen der Verwundbarkeit und prekäre Arbeit

Diese Problematik des Exklusionsbegriffs berücksichtigend, entwirft Castel drei Zonen der sozialen Kohärenz: die Zonen der Integration, der Exklusion und der sozialen Verwundbarkeit. Die Zone der Integration ist durch das Begriffspaar stabiles Arbeitsverhältnis und solides Eingegliedertsein in soziale Beziehungen gekennzeichnet. Die Zone der Verwundbarkeit befindet sich zwischen den beiden anderen Zonen. Sie stellt eine instabile Zwischenzone dar. Wer sich in dieser Zone befindet, hat sowohl ein prekäres Arbeitsverhältnis als auch wenig Unterstützung durch die unmittelbare soziale Umgebung. Dies bezieht sich auch auf soziale Nahbeziehungen informeller Art. Diese wichtige Dimension der Exklusion, der Ausschluss von sozialen Nahbeziehungen, ist sozialstrukturell äußerst schwer zu fassen und bislang in der Forschung kaum berücksichtigt worden. Schließlich ermöglicht ein enges soziales Netzwerk die Kompensation von Folgen prekärer Arbeitsverhältnisse, indem durch soziale Kontakte das subjektive Empfinden der eigenen Ausgegrenztheit gemildert wird.

Prekarität als Hauptkennzeichen der Zone der Verwundbarkeit bezeichnet die Situation von Menschen in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen. Dazu zählen etwa Teilzeitjobs, Leiharbeit, Praktika und Scheinselbständigkeit. Die lntegrationskraft des Arbeitsmarktes wird durch derartige prekäre Beschäftigung geschwächt. Die Folge ist, dass die automatische Gleichsetzung von Arbeit und gesellschaftlicher Integration keine Gültigkeit mehr hat. Nicht nur Langzeitarbeitslose, auch Erwerbstätige sind vom Phänomen der Ausgrenzung betroffen.

Im Zuge dieser Entwicklung ist Erwerbsarbeit nicht mehr als das zentrale gesellschaftliche Zugehörigkeitsmerkmal zu bewerten. Prekarisierung bezeichnet die Entwicklung einer Erosion des Beschäftigungssystems, das bislang als zentraler Integrationsmechanismus funktionierte. Der dritte Armutsbericht der Bundesregierung belegt eine Zunahme der Ungleichverteilung der Einkommen; mit der Zunahme des Niedriglohnbereichs geht gleichzeitig ein gestiegenes Armutsrisiko von Erwerbstätigen einher. Der Verdienst aus Erwerbstätigkeit reicht häufig nicht aus, um finanzielle Rücklagen zu bilden; weite Teile der Gesellschaft sind nicht in der Lage, am gesellschaftlichen Wohlstand teilzuhaben. Eine defekte Waschmaschine kann hier schon erhebliche finanzielle Probleme verursachen. Exklusion umfasst also auch die Degradierung der Arbeitsbeziehungen und der sozialen Absicherung und bildet die aktuelle Krise der Arbeitsgesellschaft ab.


Prekarisierung und Exklusion als Gefahren für die Demokratie

Der Exklusionsbegriff ist demnach durchaus zur Charakterisierung der gegenwärtigen sozialen Realität geeignet. Es stellt sich allerdings nun die Frage, welchen Einfluss diese wissenschaftliche Debatte auf das politische Handeln haben soll. Die aktuelle gesellschaftspolitische Anwendung dieses Begriffs führt dazu, eine Dichotomisierung von Innen und Außen zu suggerieren und das Problem neuer gesellschaftlicher Ungleichheiten damit in gesellschaftliche Randlagen zu verbannen. Die Dimension sozialer Verwundbarkeit als gradueller Aspekt von Ausgrenzung wirkt einer dualen Logik von Zugehörigkeit und Nicht-Dazugehärigkeit entgegen. Die dichotome Gegenüberstellung von Gesellschaft und den "Ausgeschlossenen" führt sonst schnell zu den Annahmen, nicht die ausschließende Gesellschaft, sondern die Ausgeschlossenen seien das Problem. Sie bewegen sich im "Gegensatz zum Wertekanon der Mehrheitsgesellschaft" (Kronauer, S. 126) und Reintegration könne das Problem lösen. Diese Ansicht leistet Vorschub für eine Sichtweise von einem leistungsfähigen arbeitenden Teil der Gesellschaft und einem komplementären "Lumpenproletariat" in Form einer neuen Unterschicht und stellt den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Frage.

Die politischen Handlungen, die aus einer solchen Denkweise resultieren, lassen sich anhand eines drastischen Negativbeispiels verdeutlichen. Die Regierung der USA veranlasste in den neunziger Jahren eine Reform der Arbeitsmarktpolitik. Sie folgte dabei der Leitlinie, "welfare" durch "workfare" zu ersetzen. Als Folge wurden repressive Maßnahmen des aktivierenden Sozialstaats durchgesetzt. Unter anderem wurde die Bezugsdauer von staatlichen Sozialleistungen auf insgesamt 5 Jahre der gesamten Lebenszeit begrenzt. Dies bewirkte ein Absinken des allgemeinen Lebensstandards der "working poor" und eine Kriminalisierung von Armut. Derartige politische Maßnahmen, die einseitig auf eine Aktivierung hinauslaufen, zementieren die Ausgrenzung zwischen Langzeitarbeitslosen und denjenigen, die in das Erwerbssystem noch eingebunden sind. Die Folge ist die Etablierung eines Prinzips der "Erwerbsarbeit um jeden Preis"; um den Preis von unsicheren Arbeitsplätzen, Niedriglöhnen, fehlender sozialer Absicherung im Alter und im Gesundheitsschutz.

Die Existenz von Ausgegrenzten und von Ausgrenzung bedrohten fällt letztlich auch auf die ausgrenzenden Institutionen zurück. Sie stellt den Geltungsbereich und die sozialen Grundlagen der Demokratie in Frage, bedeutet eine Gefährdung des Sozialen. Sie widerspricht fundamental einem erweiterten Verständnis von einer sozialen Demokratie, welches auch die Gewährung politischer und sozialer Rechte und die entsprechende materielle als auch soziale Absicherung umfasst.


Sascha Howind ist Sozialwissenschaftler an der Uni Hannover. Derzeit: Promotionsprojekt über die NS-Organisation "Kraft durch Freude", das von der Hans-Böckler-Stiftung unterstützt wird.


Literatur
Aus: Politik und Zeitgeschichte (APuZ), Abstieg - Prekarität - Ausgrenzung. Heft 33-34 2008

Heinz Bude, Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung Bd. 687, Bonn 2008

Heinz Bude/Andreas Willisch (Hg.), Exklusion. Die Debatte über die "Überflüssigen". Frankfurt am Main 2008

Robert Castel, Die Fallstricke des Exklusionsbegriffs in: Bude/Willisch 2008, S. 69-87

Hartmut Häußermann, Martin Kronauer und Walter Siebel (Hg.), An den Rändern der Städte. Armut und Ausgrenzung, Frankfurt am Main 2004
Martin Kronauer, Exklusion. Die Gefährdung des Sozialem im hoch entwickelten Kapitalismus, Frankfurt am Main 2002

Gero Neugebauer, Politische Milieus in Deutschland. Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2007

Vgl. Willisch, S. 66: "Während in der fordistischen Arbeitsgesellschaft der Lebensstandard der Bevölkerung und der wirtschaftliche Erfolg eng miteinander verknüpft waren, findet am Ende des 20. Jahrhunderts unter den Begriffen einer Liberalisierung, Flexibilisierung und Individualisierung eine Entbettung der Ökonomischen Regeln aus dem gesellschaftlichen Leben statt. Für die Überflüssigen gilt, dass der wirtschaftliche Aufschwung auf sie weitestgehend verzichten kann. [...] Die Überfüssigen definieren kein präzises Defizit einer Lebenslage, sondern sie dokumentieren den Entkoppelungsprozess gesellschaftlicher Bezüge. Überflüssige sind sie, weil der angestrebte Platz systematisch besetzt ist und ihren eine zweite Chance fehlt."

Kronauer 2002, S. 235: "Damit wird aber die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem 'Innen' und dem 'Außen' zum springenden Punkt in der öffentlichen Auseinandersetzung um das Ausgrenzungsproblem. Die sozialwissenschaftliche Debatte wird hier zum Stichwortgeber, ihre internen Kontroversen enthalten eine zusätzliche, gesellschaftspolitische Bedeutung."

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 3/2009, Heft 171, Seite 45-48
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. August 2009