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DISKURS/009: Dilemmas und Verwicklungen der Care-Dienstleistungen (Olympe)


Olympe Heft 30 - Dezember 2009
Feministische Arbeitshefte zur Politik

Sozialarbeit: Dilemmas und Verwicklungen der Care-Dienstleistungen im Berufsalltag(1)

Von Marianne Modak und Françoise Messant


Unser Ziel ist es, einige "Schlüssel" zur Sichtbarmachung der Betreuungs- respektive Sorgearbeit(2) zu vermitteln. Wir wollen aber auch zeigen, was es mit dieser Sichtbarmachung insbesondere für die Anerkennung dieser Tätigkeit auf sich hat. In der Folge verzichten wir auf den Begriff "Betreuen/Sorgen" zugunsten von "Care", denn unter Benutzung dieses Anglizismus wurden zu diesem Thema, zumindest in jüngster Zeit, die meisten Studien durchgeführt und Überlegungsansätze entwickelt. Schon allein darum ist der Ausdruck "Care" inzwischen praktisch unumgänglich. Dies aber auch deshalb, weil das englische "Care" besser als die deutschen Ausdrücke "Sorgen" und "Betreuen" oder das französische "prendre soin" sowohl die betreuende Geste als auch die Fürsorge, welche die Geste veranlasst, bezeichnet.

In diesem Sinne ist Care eine Arbeit, deren Eigenheit darin besteht, dass in derselben Praktik eine Mischung aus auf die Bedürfnisse einer Person ausgerichteter Fürsorge und Übernahme von konkreter Verantwortung zur Stillung dieser Bedürfnisse vereint ist. In unserer soziologischen Untersuchung zu den Care-Praktiken der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter (in der Folge: SA)(3) zeigen wir, dass eine derartige Kombination von Fachwissen und Fürsorge für die Care erbringende Person eine relativ grosse Handlungsfreiheit erfordert. Da Handlungsspielraum bekanntlich mit der wirtschaftlichen Logik insofern unvereinbar ist, als sie die Kosten durch eine Standardisierung der den Benutzern zustehenden Betreuung zu senken sucht, ist Care-Arbeit in Ermangelung von Minimalbedingungen zu deren Erbringung - seien diese auch nur zeitlicher Art - dem Untergang geweiht. In den im Rahmen unseres Forschungsprojektes beobachteten und analysierten Sozialdiensten, die durchaus von Budgetkürzungen betroffen sind, ist jedoch von einem Untergang nichts zu spüren. Die Care-Arbeit wird erbracht, auch wenn sie nicht vorgeschrieben ist (in den Pflichtenheften ist sie relativ selten erwähnt). Dies sogar dann, wenn die Bedingungen schlecht sind - ein zusätzlicher Beweis dafür, dass sie eine unerlässliche Ergänzung zur vorgeschriebenen Arbeit darstellt -, manchmal fast im Geheimen, ohne moralische Unterstützung und mit zusehends schwächerer institutioneller Anerkennung. Somit lautet die Frage, die wir beantworten wollen, da sie die Produktionsbedingungen der Care und deren Kosten hinterfragt: Warum erbringen SozialarbeiterInnen (Pflegefachfrauen, Fachangestellte Gesundheit, PflegeassistentInnen, Spitex-Angestellte usw.) Leistungen, die über das hinausgehen, was formell von ihnen verlangt wird, und laufen sogar Gefahr, durch Überarbeitung ihr persönliches Gleichgewicht aufs Spiel zu setzen? Sind Leiden und Bedürfnisse der anderen derart schwerwiegend, dass sich jede (und jeder) betroffen fühlt, ganz zu schweigen von jenen, deren Beruf eben im "Betreuen" besteht? Hat der Umstand, eine Frau zu sein (was auf eine überwältigende Mehrheit der Angestellten im Sozial- und Gesundheitswesen zutrifft), zur Folge, dass man "ganz natürlich" mehr unternimmt als verlangt? Oder ist die Care-Arbeit, wie weit unten sie in der Hierarchie der Berufe auch eingestuft ist, aufgrund des Nützlichkeitsgefühls, das sie verschafft, immer noch mehr wert als "Dreckarbeit" (z.B. Putzen)?

Die Forschung im Bereich der Arbeitsplätze im Sektor der personenbezogenen Dienstleistungen erlaubt es, einige dieser möglichen Antworten zu überprüfen. Doch lassen sich Ergebnisse, die aufgrund der Aussagen unqualifizierter und ausschliesslich weiblicher Arbeitskräfte erlangt wurden, auf qualifizierte Care-Berufe, wie z.B. den der SozialarbeiterInnen, übertragen? Immerhin kann hier ein anerkanntes Diplom erworben werden. Ausserdem stellen in der Schweiz Männer etwa ein Drittel der SA. A priori scheint es, dass status- und geschlechtsgebundene "Vorrechte" die Tatsache nicht aufwiegen, dass das "Betreuen" soziale Berufe besonders anfällig macht für Sparmassnahmen. Denn es wird deutlich, dass das Element, das Care-Berufe verbindet und deren eigentlichen Angelpunkt darstellt, diese schwächt, weil es sich einer quantitativen Messung entzieht. Denn die nunmehr gut eingespielten Methoden der Kompetenzmessung eignen sich nicht zur Messung der für Care charakteristischen Fürsorglichkeit.

Die Schwierigkeiten beim Messen des "Betreuens" behindern zudem den Professionalisierungsprozess deutlich. Wie wir wissen, basiert die Professionalisierung auf institutionell erworbenen Kompetenzen und nicht auf Beziehungskompetenzen und emotionalen Fähigkeiten, welche nicht von der Person zu trennen und somit schwer übertragbar sind. Anders gesagt: "Sorge" ist keine von der Person loslösbare Qualifizierung und wird deshalb im Allgemeinen als natürliche Veranlagung, als Begabung betrachtet. Es kann nicht gelernt werden, ist kaum zu bemerken und zählt somit schwerlich als Kompetenz. Und trotzdem ist "Sorge" (Care) Angelpunkt des Berufes! Extrem vereinfacht kann gesagt werden, dass das Problem, mit dem sich die SA und deren Berufsorganisationen herumschlagen müssen, folgendes ist: Wie lässt sich ein Care-Beruf professionalisieren, sein Status verbessern, ohne auf Care zu verzichten und ohne dass die SA zu VerwalterInnenn werden, zu "BeamtInnen", wie viele SA in unseren Gesprächen es nannten.

"Zuhören, die Person begleiten", so drückte es eine der interviewten Personen aus, "das ist eine 'Beigabe', aber eine 'unverlangte Beigabe'. Ich vergleiche diese Einschätzung immer mit der M-Budget-Linie. Dort wird zwar Quantität geliefert, aber nicht Qualität."

Was ist diese von SA erwähnte "Beigabe" wert? Wie könnte sie anerkannt werden? Untersuchen wir nun einige theoretische Anhaltspunkte, die uns bei diesen Überlegungen leiten.


Das Care-Konzept, theoretische Anhaltspunkte

Nach Arlie Hochschild (2003), deren Definition wir hier sinngemäss übernehmen, ist Care eine oft wechselseitige emotionale Bindung zwischen einer Person, die Care-Leistungen anbietet, und einer anderen, der sie zugutekommt. Dabei fühlt sich der/die Care-Geber/in für das Wohlbefinden der/des Care-Empfängerin/s verantwortlich und erbringt eine geistige, emotionale und körperliche Arbeit, um diese Verantwortung zu tragen. Care ist somit mehr als Empathie und geht über Fürsorge hinaus, ist mehr als Beziehungstechnik. Care ist also mehr als all diese Methoden, die SA in ihrer täglichen Arbeit einzusetzen gelernt haben - und einsetzten, bevor die Auseinandersetzung über die Anerkennung dieser Arbeit losging. Care umfasst diese Techniken und diese persönlichkeitsbezogenen Kompetenzen ("savoir-être"), zeigt aber das Problem unter einem anderen Gesichtspunkt. Care wirft Licht auf einen wenig bekannten, aber unerlässlichen Aspekt, der zu verstehen hilft, was sich im Bereich der Anerkennung des Berufes abspielt.

Doch kommen wir zuerst auf theoretische Elemente zurück, die uns als Bezugspunkte dienen sollen. Zum Ersten konnte in den 1970er Jahren dank den feministischen Untersuchungen zur Haus- und Familienarbeit erstmals Licht auf Care geworfen werden. Diese Untersuchungen hinterfragten die Unentgeltlichkeit der Frauenarbeit in der Privatsphäre. Die (Schein-)Begründung für die Gratisarbeit war, es handle sich um eine beziehungs- und gefühlsmässig erfüllende Tätigkeit und die für Care nötigen Kenntnisse seien schwer erkennbar. Die Untersuchungen zeigten weiter, dass die Gründe für diese Verschleierung innerhalb der Familie auf die Natur der gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Geschlechtern zurückzuführen sind.

Zum Zweiten verschob sich das Interesse der Forschung in den 1980er Jahren auf die Berufswelt: Untersucht wurden die Arbeitsstellen, die durch die zunehmende Externalisierung der herkömmlicherweise der Familie zufallenden Aufgaben (Haushalthilfen, Krippe-Erzieherinnen usw.) entstanden waren. Diese Studien zeigen, dass auch bezahlte Care-Berufe nicht besser eingestuft werden: Sie werden schlecht entlöhnt, geniessen geringes Ansehen und werden weiterhin fast ausschliesslich von Frauen ausgeübt. Denn Frauen gehen offenbar ganz "natürlich" vom Privaten zum Beruflichen über und betreuen privat ihre Angehörigen und beruflich z.B. SozialhilfeempfängerInnen. Diese Sicht, die an Verachtung grenzt - Frauen leisten Care-Arbeit, ohne dass es sie etwas kostet und ohne dass es die Gemeinschaft etwas kostet -, verstärkt die Idee, Familien-Care und berufliche Care seien ein und dasselbe. Für Berufe, die aus der Externalisierung der Familien- und Hausarbeit hervorgegangen sind und die nach einer echten Professionalisierung streben, ist also Folgendes wichtig: Die Verknüpfung von beruflicher und Familien-Care verstärkt die Geringschätzung gegenüber der Ersteren. Es sieht ganz so aus, als kontaminiere die Arbeit, die in der Privatsphäre unbezahlt abgenötigt wird, die materielle Anerkennung und die soziale Achtung ebendieser Arbeit in der beruflichen Sphäre.

Zum Dritten gewinnt die Reflexion über Care in den 1990er Jahren im Bereich der sozialen Gerechtigkeit, der Public Policy und der Ethik eine neue Dynamik. Es wird versucht, Care aufzuwerten, indem deren gesellschaftlicher (und wirtschaftlicher) Verdienst unterstrichen wird: Einerseits kommt Care-Arbeit nicht nur der Person zugute, für die sie bestimmt ist, sondern sie produziert auch kollektive Ressourcen ("public goods"), von denen die Gesellschaft profitiert. Andererseits zeugen die Care-Praktiken vom Bestehen eines Gerechtigkeitsideals bei ihren ErbringerInnen, das deren Verantwortungsgefühl für soziale Kontakte, deren Sinn für Beziehungen anstelle blosser Rechte und Regeln ausdrückt. Diese der Care eigene ethische und moralische Dimension der Gerechtigkeit - die lange nicht als solche erkannt wurde, da sie mit der Familie und der Privatsphäre verknüpft wurde - ist insofern spezifisch, als sie sich auf die Anerkennung des Individuums stützt und die Verletzlichkeit seines ganzen Lebens umfasst: Kind, krank, behindert, mittellos usw. Anders gesagt beruht die Ethik von Care auf der Idee, dass Abhängigkeit in einem grösseren Ausmass als individuelle Autonomie zum menschlichen Schicksal gehört. In dieser Bedeutung hat Care eine kritische Tragweite: Sie betrifft uns alle.(4)


Kontrastreiche Vorstellungen über das "Betreuen"

Gegenwärtig stehen sich zwei Sichtweisen von Care gegenüber, die den Erbringerinnen und Erbringern von Care-Leistungen (insbesondere Fachleuten) bekannt sind und die auf die eine oder andere Weise ihre Praxis beeinflussen. So haben wir eine ziemlich negative Sichtweise dieser wenig prestigeträchtigen und oft mühsamen Arbeit, die Personen mit geringer sozialer Macht zugeteilt wird. Es ist eine Arbeit, die sie nicht wählen oder anderen "überlassen" können, die ihnen also zwangsläufig zufällt. Dies zeigt der Ausschnitt aus folgendem Votum:

"Als ich dieses Paar (...) sah, verlor ich sogleich den Mut und hätte am liebsten losgeheult. Es war ein solches Bild von Elend, dass ich mir sagte, 'Nein, ich habe nicht den Mut, mich damit zu konfrontieren!'. Und es hat mich gekostet, enorm gekostet. Aber ich hatte nicht die Wahl, ich hatte einen Termin mit diesen Leuten, ich musste meiner Verpflichtung nachkommen."

Demgegenüber steht eine Sichtweise von Care, die von positiven Werten gefärbt ist, weil Care eine klare Abkehr von der wirtschaftlichen Rentabilität der Handelssphäre symbolisiert und zum Allgemeinwohl beiträgt. Diese Sicht preist ein gewisses Konzept der sozialen Gerechtigkeit, der Wichtigkeit von Beziehungen und affektiven Werten, die von gewissen Berufen verfochten werden. Sie stellt aber auch eine Ressource für autonomes berufliches Handeln dar.

"Care besteht darin, Fragen zu beantworten, für die es oft keine Lösung gibt. Care begleitet somit alles, was die Gesellschaft nicht beantworten will, ist also zugleich unnütz und unentbehrlich."
"... es ist auch das Revier, das der SA eigen ist, und auf dieses Privileg beruft sie sich, gibt sich neuen Mut, wenn es ihr z.B. intern an beruflicher Anerkennung mangelt oder wenn die Stelle (von aussen) bedroht ist."
"Eine Sozialhilfebezügerin oder ein Sozialhilfebezüger kann unumwunden sagen: 'Ich bin nicht einverstanden mit Ihnen und ich kämpfe für mein Recht, ich werde mein Recht geltend machen.' So etwas macht mir Freude. Wenn man so weit ist, ist es auch, weil am Anfang SozialarbeiterInnen stehen, die an dieses Ideal geglaubt haben und die bereits kleine Schritte vollbracht haben, damit es erreichbar wird."

Das Bestehen dieser zwei antagonistischen Sichtweisen von Care weist deutlich auf die kritische Tragweite des Care-Konzeptes hin: Die multidimensionale Realität der Betreuungsarbeit lässt sich ohne vorgefasste Meinung darüber, was sie letzten Endes bedeutet, nicht erfassen. Anders gesagt ist die Mobilisierung von Care in der Berufspraxis positiv oder negativ konnotiert, stärkt oder schwächt das Selbstwertgefühl und funktioniert grundsätzlich wie ein Mechanismus zum Etikettieren von Berufsidentitäten.

Unsere Untersuchung zeigt, dass diese positiven oder negativen Sichtweisen von Care bei den SA die Art, wie sie für andere Verantwortung übernehmen (im Sinne von "eine Last tragen"), auf unterschiedliche Art beeinflussen. Wir behaupten damit allerdings nicht, dass der Umfang der Betreuungssituationen allein von den SA abhängt. Ganz offensichtlich existiert eine objektive Arbeitslast, die von allen übereinstimmend als zunehmend schwerer eingeschätzt wird.

"Es ist Rentabilität, Leistung (...). Ich muss jährlich 250 [Akten] (...) bewältigen: Ich arbeite zu soundso viel Prozent, ich muss soundso viel erledigen, ich arbeite im Akkord. Das kann sehr schmerzlich sein, denn man merkt sehr wohl, dass es nicht um den Umgang mit Menschen geht. Ich arbeite für die Stückzahl, das ist alles, was ich tun kann."

Wir haben nicht die Absicht, diese Realität abzustreiten. Wir behaupten aber, dass bezüglich des gleichen Umfangs von Akten die geistige und emotionale Belastung, das Verantwortungsgefühl für Care verschieden sind, was sich auf die Dauer der Betreuungssituationen auswirkt. Je nach Status und insbesondere je nach Geschlecht grenzt nun der/die SA seine/ihre Pflichten anders ab. Dabei handelt es sich um einen Prozess des Tragens von Verantwortung, der komplex und schwer zu beherrschen ist. Er kann zur Zwickmühle werden, falls aus der Sicht der Fachleute keine objektiven und legitimen Grenzen gesetzt werden. Was geschieht in einer sozialen Beratung, wenn diese plötzlich zum Teufelskreis wird oder gar zum "Burn-out" führt?

"Das Gefühl von Ohnmacht ist ein sehr schwieriges Gefühl. Es spannt auf die Folter, es macht einen fertig. Man wird es nicht los, mittel- oder langfristig springt es uns plötzlich an, schlägt aufs Gemüt, auf die Psyche. Wenn man sich ständig ohnmächtig fühlt, endet dies in einer Depression."

Unsere Studie hat einige für die Care-Praktiken der SA typische Mechanismen aufgezeigt, die direkt mit der Art und Weise zu tun haben, wie Care von den ProtagonistInnen der Beratung empfunden wurde. Dabei wird deutlich, dass die SA im Laufe der Gespräche während der sozialen Beratung (zusätzlich zu den konkreten Problemen) vier Dilemmas lösen müssen. Die Lösung dieser Dilemmas zeugt von der Existenz von Zwickmühlen bei diesen Fachleuten bei der Übernahme von Verantwortung zugunsten anderer, was sehr unterschiedlich gehandhabt wird.(5)

"Man gerät in eine Falle, sitzt komplett in der Falle und in Überlebensstrategien. Meine Strategie besteht darin, dass ich meine Handynummer gebe - es ist bequemer, wenn man mich zu Hause erreichen kann (...) -, und ich lehne es ab, mehr zu arbeiten: Wenn ich das täte, hätte ich mehr Akten und somit weniger Zeit, meine Arbeit recht zu machen. Ich weiss nicht, ob Sie sich das vorstellen können."


1. Dilemma hinsichtlich Care als naturgegebene Veranlagung

Da die emotionalen und relationalen Kompetenzen, die zu Care gehören, von den Mädchen von klein auf erworben werden (Spiel mit Puppen und Puppenküche, Handreichungen im Haushalt usw.), scheinen sie im Erwachsenenalter selbstverständlich, und was im Kindesalter erworben wurde, wenn auch manchmal mit Mühe, wird später als eine persönliche Eigenheit gewertet. Dass man auf dieser Basis eine fürsorgliche Haltung als angeborene Veranlagung betrachtet, kann rasch einmal vorkommen, sogar bei gewissen Fachleuten:

"Er (...), er wählt seine Worte mit Sorgfalt, und sie haben empathische Kräfte. Ich, (...), würde mehr Warmherzigkeit und Mütterlichkeit hineingeben, aber das ist, weil ich in meinem Leben Kinder gewiegt habe, das ist normal. Er, er wäre ganz rationell, er hat das ganze Drumherum nicht nötig: Er braucht nur das richtige Wort, und alles geht bestens."

Diese Haltung, die Care-Kompetenzen bei Frauen als "naturgegeben" zu sehen, ist üblich und sehr verbreitet, und dies, wie wir feststellen, nicht nur bei Laien. Im beruflichen Kontext erübrigt sie das Hinterfragen der Bedingungen, welche Care überhaupt möglich machen: Wenn diese aus einer persönlichen Veranlagung hervorgegangen sind und nicht aus einer beruflichen Rolle, brauchen sie nicht institutionell anerkannt zu werden, im Besonderen durch ein Diplom. Unsere Studie zeigt jedoch die Lage nicht auf eine so überspitzte Art. Fürsorge, Empathie, Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer sind nicht für alle SA selbstverständlich. Selbstverständlich sind sie im Wesentlichen bei SA, denen man eher solche Eigenschaften zuerkennt, das heisst vorwiegend bei Frauen.

Die Übertragung von Werten, die für die SA ein Dilemma darstellen, präsentiert sich somit in der folgenden dualen Form: Wird Care-Arbeit von weiblichen SA ausgeführt, ist die Tendenz stärker, sie als natürliche, "normale" Verlängerung der Persönlichkeit wahrzunehmen, so natürlich, dass sie praktisch unsichtbar ist. Weibliche SA laufen deshalb Gefahr, sich verpflichtet zu fühlen, "immer mehr" zu leisten, damit ihre Arbeit sichtbar wird. Wird aber Care-Arbeit von männlichen SA ausgeführt, geht die Tendenz dahin, Care von der Person losgelöst zu sehen, als angelernte Kompetenz zu betrachten und somit stärker zu registrieren, was den Fachmann dann dazu bringt, seine Anstrengungen besser zu dosieren, d.h. wahrscheinlich "gerade genug" zu leisten. Dieses erste Dilemma hat Folgen für das weitere Vorgehen.


2. Dilemma hinsichtlich der beruflichen Identität der SA

Die Care-Praktiken, die einen wichtigen Bestandteil des Berufs der SA (wie auch anderer Berufe) bilden, stehen im Zentrum eines intensiven identitären Seilziehens, namentlich für den Schutz des Berufes. Doch die Tatsache, dass diese Praktiken weiblich konnotiert sind, diskreditiert sie, da sie mit ethischen und religiösen Werten verbunden werden, die aus der Vergangenheit stammen und von einem gewissen Puritanismus geprägt sind. Welche/r Pflegefachfrau/mann würde heute ohne Widerspruch akzeptieren, dass ihr/sein Lohn unter dem Vorwand abgegolten wird, ihre/seine Berufswahl beruhe auf Berufung? Diese Diskreditierung ist auch in gewissen Meinungen spürbar, die manche Personen über die Arbeit ihrer Kolleginnen und Kollegen äussern.

"Gut, ein sehr konkretes Beispiel ist ein Umzug (...). Also wenn man die Theorie der maximalen sozialen Begleitung anwendet, so sucht man für die Person eine Wohnung, ist am Tag des Umzugs anwesend, mietet den Möbelwagen und packt mit an. So etwas kommt vor! Es gibt Leute, die das tun, und manchmal stellen sie gleich noch zwei, drei Kumpel an, die sich so ein kleines Trinkgeld verdienen. (...). Und dann legt man sich voll ins Zeug, richtet die Wohnung ein. Mit dieser Optik arbeiten die Leute, die sich für die soziale Begleitung starkmachen. Die andere Optik, wie ich es halte, besteht darin, [der Person zu sagen]: 'Wenn Sie in einer Wohnung leben wollen, sind Sie fähig, eine zu finden. Sobald Ihnen dies gelungen ist, unternehme ich die nötigen Schritte und befasse mich mit dem offiziellen Teil, am Umzugstag. Ich beauftrage einen Umzugstransport, der Ihre Möbel abholen kommt und sie transportiert, und ich werde am Tag der Wohnungsübergabe zur Bestandesaufnahme da sein.' Der Zeitaufwand ist in den beiden Fällen radikal verschieden."

Die berufliche Identität der SA ist auf des Messers Schneide, denn sie wird von Care gekennzeichnet und zugleich abgewertet. Mit anderen Worten stärkt dies für die SA, die "immer mehr Care-Arbeit erledigen müssen", ihre berufliche Identität, doch sie riskieren gleichzeitig, den Beruf zur Berufung zu machen. Umgekehrt verleihen Situationen, in denen man "nur das Nötigste macht", die nötige Verfügbarkeit, um neuartige Berufstechniken zu entwickeln, doch zur heutigen Zeit besteht das Risiko, dass die durch das Wegfallen des Betreuens entstandene Verfügbarkeit ausschliesslich durch administrative Aufgaben ausgefüllt wird, was den Beruf langfristig in Richtung Büroangestellte treibt.


3. Dilemma hinsichtlich der Übertragbarkeit der familiären Kompetenzen

Eine der Schwierigkeiten der Care-Praktiken im beruflichen Umfeld besteht darin, diese von den Kompetenzen im familiären Umfeld abzugrenzen, um sich der in der Privatsphäre gültigen Logik der Unentgeltlichkeit zu entziehen.

"Gerade heute Morgen sagte mir eine meiner jungen Kolleginnen (...): Ja, ist es eigentlich legitim, dass ich hier bin und Leuten Ratschläge erteile, die Kinder haben, wenn ich selber keine habe?"
"Ich betrachte sie nicht als meine Tochter, aber ich kommuniziere mit ihr wie mit meiner Tochter. Ich sage ihr nicht weniger, als ich meiner Tochter sage, mehr auch nicht. So verstehe ich das, wenn ich sage 'wie meine Tochter', denn altersmässig könnte ich ihre Mutter sein, deshalb erlaube ich mir, ihr Dinge zu sagen, die ich mir gegenüber meiner Tochter herausnehme."

Es ist effektiv schwierig, die beiden Welten, die private und die berufliche, voneinander abzugrenzen, obgleich alle Fachpersonen von der Notwendigkeit dessen überzeugt sind. Dies rührt einerseits daher, dass die Möglichkeit, von klein auf erlernte Kompetenzen in seine Berufspraxis aufzunehmen, einen Vorteil und eine zusätzliche Erfahrung darstellt. (Das Erlernen von Care in der Familie ist in Wirklichkeit ein Erwerb von Know-how, auch wenn dies selten anerkannt wird.) Andererseits verleiht wahrscheinlich die Logik des Gebens, der Unentgeltlichkeit, die den Austausch innerhalb der Familie rechtfertigt, Care-Tätigkeiten einen magischen Reiz. Es ist ein Gemeinplatz, zu glauben, alles, was unentgeltlich ist, sei notgedrungen besser als etwas Entsprechendes, das seinen Preis hat.

Anders gesagt bildet die Möglichkeit, Können von einer Welt in die andere zu übertragen, eine gewaltige Erfahrungs-Ressource, doch ist sie nicht unbedingt prestigeträchtig, denn der familiäre Aspekt wird oft als abwertend empfunden (in unseren Gesprächen war sogar von "Care- Mamis" die Rede). Auf der anderen Seite scheint die strikte Unterscheidung zwischen privater und beruflicher Care in Richtung einer Professionalisierung zu weisen, die jedoch noch in den absoluten Anfängen steckt. Dabei geht es in der Tat um die Idee, dass Care in der Arbeitswelt etwas Spezifisches ist und auf der Legitimierung von emotionalen Praktiken und Beziehungen beruht, die aus ihrer privaten und familiären Verankerung herausgelöst werden müssen.


4. Dilemma hinsichtlich zweier im Spannungsfeld stehender Gerechtigkeitsprinzipien

Wie bereits oben erwähnt beruhen die Eigenheit der Care-Arbeit und deren Reichhaltigkeit zu einem guten Teil auf der Tatsache, dass diese Praktiken sich an Werten orientieren, die, obgleich sie vorrangig den Einzelnen betreffen, zumindest in der Berufswelt das Prinzip des gleichen Zugangs für alle zu den Rechten und Mitteln sicherstellen müssen. Es ist somit offensichtlich, dass es keine Anerkennung von spezifischen Bedürfnissen der Care-EmpfängerInnen geben kann, ohne dass vorher die Rechte anerkannt wurden, die eine Person zur Beanspruchung von Care-Leistungen qualifizieren. Umgekehrt scheint die Achtung ihrer Rechte ohne die Existenz von Empathie schwer haltbar. In der Tat schwächt die "juristische" Kälte die Wirkung der Hilfe und, mehr noch, deren Akzeptanz.(6) Unsere Gespräche mit den SA zeigen aber auch, dass sich Care-Praktiken nie so gut entfalten, wie wenn sie mit objektiven Rechten abgegrenzt und in einem Rahmen gehalten werden. So wie auch die Rechte nie so wirksam sind, wie wenn sie der Person wirklich klar und verständlich erklärt wurden. Doch ein Gleichgewicht ist schwer zu erlangen.

"Ich war nach Abwägen von Dafür und Dagegen einverstanden, ihm diesen Dienst zu erweisen (...), doch es geht mir immer noch gegen den Strich, denn für mich ist es eine Gewissensfrage. Denn es muss natürlich so sein, dass ich gegenüber allen Personen die gleiche Haltung einnehme, also dass wir institutionell vorgehen und nicht einzelfallmässig."

Die der Care entstammende Erfordernis, die sich den SA in ihrer Arbeit stellt - nämlich ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden "in Konkurrenz stehenden" Prinzipien aufrechtzuerhalten -, ist eine schwierige Aufgabe. Bei der Beobachtung der Praktiken der SA zeigt sich ein Schwanken zwischen einer starken Gewichtung der Kommunikation der Bedürfnisse durch die Care-EmpfängerInnen, mit dem Risiko, dass diejenigen, die "schlecht" im Kommunizieren sind, benachteiligt werden, und einer starken Gewichtung der Gleichheit der Rechte im diskriminierten Kollektiv. Dies mit dem Risiko, dass der Einzelne mit seinen persönlichen Bedürfnissen vernachlässigt wird.


Schlussfolgerung

In unserer Studie betrifft der berufliche Einsatz von Care alle interviewten SA, Frauen und Männer, da Care ein inhärenter, grundlegender Teil ihrer Arbeit, ein Bestandteil ihrer beruflichen Identität ist. Man kann somit nicht behaupten, dass diese Arbeit, zumindest im Beruf der SA, einem Geschlecht zuzuschreiben ist. Doch die Möglichkeit, in eine der Zwickmühlen zu geraten, die wir hier schematisiert gezeigt haben, hängt im Gegensatz dazu stark vom Geschlecht ab. So ist die Schwierigkeit, sich gegen eine Flut von Care-Arbeit zu schützen, die von Frauen aufgrund ihrer Einbindung in Privat- und Berufssphäre erwartet wird, eine typisch weibliche. Denn Sinnübertragungen sind nun einmal, wie sie sind, und zahlreiche Frauen (ab und zu auch Männer) haben eine typische berufliche Laufbahn mit Verknüpfungen zur Privatsphäre, die sie dazu führen, in Abteilungen und mit BezügerInnen von Care-Leistungen zu arbeiten, wo Care tendenziell vorrangig und zugleich wirksam ist: in der Opferhilfe oder bei Pro Senectute zum Beispiel, und nicht bei der Amtsvormundschaft für Erwachsene.

Für die SA geht es bei der Lösung dieser Dilemmas konkret darum, das Ineinanderspielen verschiedener Verantwortungen zu meistern, die jede Care-Praktik mit sich bringt. Die Beherrschung dieser Verwicklungen ist je nach Geschlecht der Betreuenden von unterschiedlichen (gesellschaftlichen) Erwartungen geprägt. Sie konditioniert die Fähigkeit, dem beruflichen "Burn-out" entgegenzuwirken oder eben nicht. Sie ist somit keine rein technische Operation, auch wenn sie sich mit zunehmender Berufserfahrung aneignen lässt: Sie ist normativ, geschlechterspezifisch und strategisch, sie ist somit auch politisch. Was dabei auf dem Spiel steht, ist einerseits die Anerkennung des Berufs, die Möglichkeit, dass dabei das persönliche Prestige steigt oder im Gegenteil sinkt. Andererseits geht es darum, dass auf persönlicher Ebene die Qualität der Betreuungen aufrechterhalten werden kann, ohne dass man sich selber körperlich oder seelisch zerstören lässt. Davon handeln die Care-Praktiken der SA. unter der Bedingung, dass man über die nötigen konzeptuellen und methodologischen Schlüssel verfügt, um sie ausloten zu können.

Übersetzung aus dem Französischen: Marianne Scheer


Dilemmas und Verwicklungen in den Care-Praktiken

NATURGEGEBENHEIT




Die Care-Praktiken der Personen,
die als "Versorger" bezeichnet
werden, sind selbstverständlich.


Die Care-Praktiken der Personen,
von denen kaum solche erwartet
werden, erlauben eine
rollengebundene Distanz...
BERUFLICHE
IDENTITÄT


...man sieht sie nicht und riskiert,
dass die Arbeitslast ständig zunimmt
die "Verweiblichung" des Berufs und
die Geringschätzung sich verstärken.
...man bemerkt sie, mit dem
Vorteil, dass man so viel macht
wie nötig, aber nicht mehr, was
den Berufswert stärkt.
ÜBERTRAGBARKEIT
DER FAMILIÄREN
KOMPETENZEN

Anknüpfung ans Familiäre/
Mütterliche: echte Erfahrung,
aber geringe berufliche
Valorisierung.
Care-Praktiken, die einen Bruch
mit dem Familiären markieren:
Sie müssen mit neuen Kriterien
definiert und legitimiert werden.
ZENTRALER WERT
DES BERUFS

Persönliche Beziehung
(Nähe, Authentizität)
zu Empfängern.
Abstraktion und Beziehungsdistanz
zu Empfängern, Rechtssubjekt.



Anmerkungen:

(1) Wir geben hier einen Vortrag vom 28. Januar 2009 wieder, den Prof. Marianne Modak anlässlich eines Studientages der Forschungs- und Weiterbildungseinheit an der Fachhochschule für Soziale Arbeit (EESP) inLausanne, zum Thema der Ökonomie des "Sorgens und Betreuens", gehalten hat. Das Referat wurde von Marianne Modak und Françoise Messant ausgearbeitet.

(2) Anm. der Redaktion: Im französischen Text ist hier von "le travail du prendre soin" die Rede. In der deutschsprachigen Fachliteratur wird heute für die Pflege- und Betreuungsarbeit oft übergreifend der Begriff "Sorgearbeit" (oder "Sorge- und Versorgungsarbeit") gebraucht, um generell bezahlte und unbezahlte personenbezogene Dienstleistungen zu beschreiben, welche Beziehungsarbeit, das Sich-Kümmern um und die Sorge für andere beinhalten.

(3) Modak, Marianne et al.: Du privé au public; travail social et professionnalisation du care. Etude sur les pratiques de care chez les AS. Finanzierung der Studie durch den Schweizerischen Nationalfonds (Fonds DORE, Nr. 13DPD*-109374) und Kompetenznetz REA der HES-SO. Partner der Studie: fünf Sozialdienste der französischen Schweiz (Opferhilfe, Vormundschaftsdienst, Jugendschutz, Sozialhilfe, Betagtendienst).

(4) Für eine Synthese (in französischer Sprache), der wichtigsten Arbeiten in dieser Perspektive siehe P. Paperman und S. Laugier (Verl.) (2005): Le souci des autres. Ethique et politique du care. Paris: Editions de l'Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales.

(5) Siehe Tabelle am Ende des Artikels.

(6) Fisher, Jeffrey/Nadler, Arie/DePaulo, Bella (Hg.) (1983): New Directions in Helping. Recipient Reactions to Help. New York: Academic Press.


Literatur:

Bachmann, Laurence et al.(Hg.) (2004): Famille-travail: une perspective radicale? Nouvelles Questions Féministes, 23 (3), 4-10.

Bubeck, Grace (1995): Care, Gender, and Justice. Oxford: Clarendon Press.

Modak, Marianne/Benelli, Natalie/De Kinkelin, Carol (2008): La reconnaissance du care dans le travail social: éléments pour une analyse du travail des assistant·e·s sociales. In: Rosende, M./Benelli, N. (Hg.): Laboratoires du travail. Lausanne: Antipodes.

Nadai, Eva/Sommerfeld, Peter/Bühlmann, Felix (2005): Fürsorgliche Verstrickung, Soziale Arbeit zwischen Profession und Freiwilligenarbeit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Paperman, Patricia/Laugier, Sandra (Hg.) (2005): Le souci des autres. Ethique et politique du care. Raisons pratiques, 16. Paris: Editions de l'Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales.


Autorinnen:

Françoise Messant, Soziologin, Honorarprofessorin. Sie arbeitet seit längerer Zeit mit Marianne Modak aus feministischer Sicht zum Thema Arbeit/Familie und ist Mitglied des Redaktionskomitees der Zeitschrift "Nouvelles Questions Féministes".

Marianne Modak, Soziologin, Professorin an der Fachhochschule für Soziale Arbeit (EESP) in Lausanne. Sie arbeitet seit längerer Zeit mit Françoise Messant zusammen aus feministischer Sicht zum Thema Arbeit/Familie und ist Mitglied des Redaktionskomitees der Zeitschrift "Nouvelles Questions Féministes". Sie organisierte den Studientag zum Thema der Ökonomie des "Sorgens und Betreuens" vom 28. Januar 2009 in Lausanne.


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Quelle:
Olympe Heft 30 - Dezember 2009, Seite 70-81
Feministische Arbeitshefte zur Politik
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juli 2010