Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → SOZIALES

FRAGEN/004: Irak - "Frauen brauchen eigenen Arabischen Frühling", Aktivistin Hanaa Edwar (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 15. Januar 2013

Irak: 'Frauen brauchen eigenen Arabischen Frühling' - Aktivistin Hanaa Edwar im Interview

von Karlos Zurutuza


Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Die irakische Frauenaktivistin Hanaa Edwar im IPS-Gespräch
Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Bagdad, 15. Januar (IPS) - Die Aktivistin Hanaa Edwar setzt sich für die Frauenrechte im Irak ein, die von Politik und religiöser Orthodoxie in den zehn Jahren nach dem Einmarsch der US-geführten Koalition aufgeweicht worden sind. Nach Ansicht der Leiterin des Netzwerks Irakischer Frauen und der Frauenorganisation 'Al Ama' brauchen Irakerinnen einen Arabischen Frühling gegen die Rückständigkeit, die Mädchen in Kinderehen zwingt und Kriegswitwen ein Überleben so gut wie unmöglich macht.

Im Gespräch mit IPS betonte Edwar, dass die Alphabetisierung der irakischen Frauen bereits in den 1970er Jahren abgeschlossen war. Doch inzwischen könnten nur noch 40 Prozent der Irakerinnen lesen und schreiben. Ebenso erinnerte sie daran, dass der Irak das erste Land der arabischen Welt gewesen sei, in dem Frauen ein Minister- und Richteramt inne hatten.

IPS: Was unternimmt Ihre Organisation, um die Rechte der Irakerinnen zu schützen?

Hanaa Edwar: Mit Hilfe von Al Amal betreiben wir das Netzwerk Irakischer Frauen, das sich um die Annäherung in- und ausländischer Frauenorganisationen und um deren Teilnahme an verschiedenen sozialen Aktivitäten und Schulungskursen bemüht.

Zu unseren größten Erfolgen zählt die Frauenquote von 25 Prozent für Parlamentsabgeordnete. Derzeit planen wir eine Kampagne zum Schutz der persönlichen Freiheiten.

IPS: Was sind die dringlichsten Probleme, mit denen sich die irakischen Frauen derzeit konfrontiert sehen?

Edwar: Obwohl wir Frauen 55 Prozent der irakischen Bevölkerung stellen, leben wir in einer männerzentrierten Gesellschaft. Es gibt keine Frauen an der Spitze politischer Parteien oder in höheren Regierungsämtern. Die Ausgrenzung ist weniger eine politische als eine kulturelle Frage.

Besonders schmerzhaft ist die Situation der 1,5 Millionen Witwen des Krieges von 2003. Im Irak gab es schon vor der Militärinvasion viele Witwen, doch ihre Zahl ist seither weiter gestiegen. Diese Frauen leben im absoluten Elend, sie können von einer Minirente in Höhe von 100 Dollar im Monat kaum überleben.

Ihrer Integration in die Gesellschaft muss Priorität eingeräumt werden, doch bisher beschränkt man sich darauf, die Betroffenen in einem Land, in dem Polygamie erlaubt ist, zu neuen Eheschließungen zu ermutigen. Auch diejenigen Witwen, die über eine Fachausbildung oder über einen Universitätsabschluss verfügen, haben keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Angesichts einer solchen Situation ist es für Frauen fast unmöglich, sich von ihren Vätern oder Männern unabhängig zu machen.

IPS: Dabei war der Irak in Sachen Frauenrechte ein Pionier ...

Edwar: 1959 konnte der Irak die erste Ministerin und erste Richterin des gesamten Orients vorweisen. Zu unseren größten Errungenschaften in jenem Jahr zählte auch das Gesetz zum Personenstatus, das Paare zur Registrierung von Eheschließungen verpflichtete. Die im Neuen Jahr geschlossenen Eheverträge sind illegal. Sie bringen Frauen in eine schwache Position und schaffen rechtliche Probleme für ihre Kinder.

Hinzu kommt, dass heute viele Mädchen im Alter von zehn oder zwölf Jahren mit Männern zwangsverheiratet werden, die oftmals drei Mal so alt sind wie sie. Auch werden viele Ehen auf Zeit geschlossen - offensichtlich ein Import aus dem Iran.

Dann gibt es angesichts der staatlichen Gleichgültigkeit, die die religiöse Orthodoxie und deren strikte Kleiderordnung unterstützt, einen Zuwachs von besorgniserregenden Fällen innerfamiliärer Gewalt. Frauen, die keinen Hidschab tragen, werden diskriminiert. Und was noch schlimmer ist: die Mädchen werden aus den Schulen und Frauen von ihren Arbeitsplätzen geholt.

IPS: Was hat die Frauenquote für das Parlament gebracht?

Edwar: Die Quote hat dafür gesorgt, dass 84 Frauen im Parlament sitzen. Doch viele Frauen verdanken ihren Sitz persönlichen Beziehungen und weniger eigenen Verdiensten. Auch wenn es etliche Frauen gibt, die ihr Abgeordnetenmandat verantwortungsvoll ausführen, wird die Mehrheit von ihnen nicht ernst genommen.

IPS: Der Irak verfügt über ein Frauenministerium. Inwieweit engagiert es sich für die Frauenrechte?

Edwar: Es nennt sich derzeit Staatsministerium für die Frau und soll in Staatsministerium für Frau und Familie umgetauft werden. Auch das ist Ausdruck der Reserviertheit gegenüber Frauenrechten.

Wie dem auch sei - wir sind grundsätzlich gegen ein Frauenministerium, weil wir der Meinung sind, dass es nicht um etwas geht, das sich auf ein eigenständiges Ministerium reduzieren lässt, sondern die ganze Gesellschaft betrifft. Abgesehen davon, dass das Frauenministerium nur über einen geringfügigen Etat verfügt, ist es parteigebunden.

Wir brauchen eine unabhängige Kommission, die die staatlichen Maßnahmen und Strategien überblickt und Programme voranbringt, die dazu beitragen, dass das Leben der Frauen verbessert wird.

IPS: Es gibt eine Vielzahl von Organisationen, die auf die zunehmende Zahl von Selbstmorden unter irakischen Frauen hinweisen. Auch ist von Fällen weiblicher Genitalverstümmelung die Rede.

Edwar: Bei den angeblichen Suiziden handelt es sich oftmals um innerfamiliäre Ehrenmorde. Diese Verbrechen werden als familieninterne Probleme verharmlost und auch vom Justizapparat nicht weiter verfolgt.

Die Fälle weiblicher Genitalverstümmelung beschränken sich eher auf entfernt liegende Gebiete in der autonomen Kurdenregion. Dort sind 70 Prozent der Frauen beschnitten, im Rest des Landes so gut wie niemand.

IPS: Wie wirkt sich religiöser Fanatismus auf Frau und Gesellschaft aus?

Edwar: Es handelt sich um einen fabrizierten religiösen Fanatismus, der 2006 seinen Anfang nahm und inzwischen die höchsten Kreise erreicht hat, um die Gesellschaft zu spalten und zu beherrschen.

Der fehlende Dialog zwischen den größten Parteien und die immer größere Rolle der Region ersticken unsere Gesellschaft. Inzwischen gibt es viele Eltern, die ihren Töchtern nicht mehr erlauben, einen Mann aus einer anderen Glaubensgemeinschaft zu heiraten. Das ist eine neue Entwicklung im Irak.

IPS: Im März sind es zehn Jahr her seit dem Beginn der Invasion von 2003. Gibt es soziale Verbesserungen?

Edwar: Die Invasion hat das Ende unserer internationalen Isolation bewirkt und mit dem Tabu der Meinungsfreiheit gebrochen. Bis 2003 war von einem politischen Pluralismus und aktiven zivilgesellschaftlichen Organisationen oder von Kontakten zur Außenwelt noch keine Rede gewesen.

Doch durch die Invasion und die darauffolgende Zerstörung unseres Landes haben sich unsere Grenzen den Terrorgruppen geöffnet, die sich mit den lokalen schiitischen und sunnitischen Milizen zusammengetan haben. Zehn Jahre später leben wir im Chaos mit Instabilität und Unsicherheit als den einzigen Konstanten.

Heute sehen wir uns mit einer unüberschaubaren politischen Krise konfrontiert. Wir haben uns von einer mehr als 30-jährigen Diktatur in einen Staat verwandelt, dem es an einer effektiven Regierung gebricht. (Ende/IPS/kb/2013)


Links:

http://womenpeacesecurity.org/programs-events/peacebuilders/hanaa_edwar/
http://www.iraqi-alamal.org/english/e_aboutus.htm
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=102234

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 15. Januar 2013
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Januar 2013