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FRAGEN/013: Hans Bertram "Ohne ein Kinder-Grundeinkommen geht es nicht" (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2015

Leben in der Rushhour
"Ohne ein Kinder-Grundeinkommen geht es nicht"

Gespräch mit Hans Bertram von Thomas Meyer


Der Soziologe und renommierte Familienforscher Hans Bertram ist emeritierter Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin und war u.a. Vorsitzender der Siebten Familienberichtskommission des Deutschen Bundestages. Zuletzt erschien sein Buch "Die überforderte Generation: Arbeit und Familie in der Wissensgesellschaft", welches er gemeinsam mit Carolin Deuflhard verfasste. Ausbildung und Beruf, Partnerschaft, Kinder, Familie - das alles lässt sich heute schwerer denn je vereinbaren. Es gibt eine überforderte Generation, davon ist Hans Bertram überzeugt. Die Fragen stellte Thomas Meyer.


NG/FH: Die heute 30- bis 45-Jährigen werden von Ihnen als überforderte Generation bezeichnet, die sich in der Rushhour des Lebens befindet. Worin genau unterscheidet sich diese Generation zum Beispiel von der davor oder von anderen Generationen?

Hans Bertram: Es sind drei Dinge. Das Wichtigste ist: Wir haben alle dafür gekämpft, dass es in den 60er und 70er Jahren Bildungsreformen für Chancengleichheit geben sollte. Jetzt haben wir eine Generation von jungen Leuten, von der fast die Hälfte eines Altersjahrgangs Abitur macht und ein Drittel studiert. Und plötzlich gibt es einen großen Anteil hochqualifizierter junger Leute, die dann aber auf einen Arbeitsmarkt stoßen, der so nicht auf sie gewartet hat. Während man in den Generationen zuvor, wenn man hochqualifiziert war, eigentlich immer davon ausgehen konnte, doch noch eine Anstellung zu bekommen, selbst wenn man etwas studierte, was nicht 100-prozentig passte. Auch in den USA und vielen anderen Ländern können Sie beobachten, dass die Hochqualifizierten heute unter Problemen beim Übergang in den Arbeitsmarkt leiden, was es in den früheren Generationen nicht gab.

Der zweite Unterschied ist: Diese Generation trifft auf einen Arbeitsmarkt, bei dem sich die Übergänge grundlegend geändert haben. Um das deutlich zu machen: Wenn Sie 1991 als junge Frau oder junger Mann in den Öffentlichen Dienst in Baden-Württemberg oder Bayern einsteigen wollten, bekamen Sie in der Regel eine Referendariatsstelle und wussten: "Wenn ich jetzt nicht zu schlecht bin, entwickelt sich mein Leben kontinuierlich weiter." Heute muss die Hälfte der jungen Leute, die in den Öffentlichen Dienst in diesen Bundesländern geht, damit rechnen, dass sie allenfalls kurzfristige Projektstellen bekommt. Die Projektzeit dauert im Durchschnitt etwa vier Jahre, und das ist keinesfalls nur im Öffentlichen Dienst der Fall, sondern auch in der Wirtschaft. Das heißt, man muss erst einmal eine Zeitlang darum kämpfen, um sich in irgendeiner Weise zu etablieren. Das ist eine relativ neue Entwicklung. Einige sagen, es sei die Folge einer neoliberalen Arbeitsmarktreform. Ich will mich auf die Darstellung der Fakten beschränken.

Das betrifft beispielsweise die Entscheidung für Kinder: Die jungen Frauen, die etwa in Baden-Württemberg in den Öffentlichen Dienst einsteigen, kriegen erst vier Jahre später Kinder als der Durchschnitt, weil sie diese unsichere Phase erst überwinden wollen. Dementsprechend ist auch die durchschnittliche Kinderzahl von 1,9 Kindern im Jahr 1990 auf heute 1,5 zurückgegangen. In den neuen Bundesländern beobachten wir exakt die gleiche Entwicklung. Das ist also offensichtlich ein allgemeines Phänomen. An den Universitäten und in anderen Bereichen beißen sich diese gut qualifizierten jungen Leute irgendwie durch. Auch dieses Muster hat sich erst in den letzten Jahrzehnten so entwickelt.

Der dritte Punkt sind die extrem gestiegenen Erwartungen an die eigenen Kinder. Wenn 50 bis 60 % eines Jahrgangs Abitur machen - die OECD sagt, so viele sollen studieren - dann muss irgendjemand dafür sorgen, dass die Kinder das auch schaffen, und das sind in erster Linie die Eltern. Es gibt also eine besser qualifizierte Generation, die aber Schwierigkeiten hat, sich auf dem Arbeitsmarkt zu positionieren. Gleichzeitig sind die Erwartungen von Seiten der Gesellschaft, der Schule und anderer - auch direkt an die Eltern - enorm gestiegen.

Diese drei Faktoren unterscheiden diese Generation deutlich von früheren Generationen.

NG/FH: Um wie viele Menschen handelt es sich hierbei in Deutschland?

Bertram: Wenn Sie davon ausgehen, dass in den 80er Jahren etwa 30 bis 40 % eines Altersjahrgangs Abitur gemacht haben und etwa 20 bis 25 % eines Jahrgangs studierten, dann ist das heute eine relativ große Gruppe, weil heute rund 50 % das Abitur machen und etwa 40 % studieren. Bezogen auf das Beispiel des Öffentlichen Dienstes sind es heute dort immerhin 50 %, die zunächst diese vier Jahre zu überwinden haben. Das sind ziemlich große Anteile einer Gesellschaft und das stellt ein ganz neues Phänomen dar. Oft kommt der Vorwurf, man würde sich nur mit den oberen Bildungsgruppen auseinandersetzen, aber eine Gesellschaft, die Humankapital entwickelt, muss natürlich schauen, wie die Lebenswege organisiert werden. Das ist meiner Meinung nach das Hauptproblem vor dem moderne Gesellschaften stehen: Wie organisieren wir unsere Qualifikationsanforderungen in Bezug auf Humankapital? Wie organisieren wir die Lebensläufe, damit junge Menschen die Möglichkeit haben, unterschiedliche Lebensziele auch angemessen zu erreichen?

NG/FH: Das sind alles große neue Anforderungen. Woher wissen wir, dass das Überforderungen sind? Gibt es Anzeichen im Verhalten dieser Leute, in ihren Aktivitäten? Empfinden sie sich auch selber subjektiv als überfordert?

Bertram: Sie müssen sich nicht subjektiv überfordert fühlen, es reicht schon aus, wenn beispielsweise ein immer größerer Prozentsatz nicht mehr bereit ist, in Familien zu leben oder aussteigt. Das trifft besonders auf Männer zu, was sich gut empirisch zeigen lässt. Bei den 45-jährigen Männern lebt inzwischen mehr als die Hälfte nicht mehr mit ihren Kindern zusammen. Offensichtlich stellt dieser Lebensentwurf Anforderungen an sie, die sie nicht erfüllen wollen. Die anderen, und hier vor allem die Mütter, leben noch mit ihren Kindern zusammen. Und plötzlich entsteht durch die Entscheidung der einen eine weitere Gruppe, die unter besonderen Stress kommt, weil sie beispielsweise nicht über genügend Einkommen verfügt, wenn Paare auseinander gehen.Was in diesem Lebensalter in früheren Generationen üblich war, dass die Mehrheit mit Kindern zusammenlebte, gilt nur noch für Frauen. Das hat sich komplett verändert.

NG/FH: Wenn man das Gesamtbild der Gruppe nimmt - Sie haben es schon angedeutet -, wie sollte differenziert werden? Es gibt diejenigen, die in Familien zusammenleben, bei denen sich die Anforderungen, die sie zu Beginn aufgezählt haben, häufen. Dann gibt es diejenigen, die aus ihrer Familie weggegangen sind, Alleinerziehende oder Alleinlebende, wenn sie die Kinder nicht mitgenommen haben. Was gehört noch zu dem Bild dieses Jahrgangs oder dieser Jahrgänge?

Bertram: Ich denke, dass sich innerhalb dieser Gruppe ein ziemlich scharfer Wettbewerb um Berufspositionen entwickelt hat. Und die Verlierer in diesem Wettbewerb sind in der Regel die Frauen, die Kinder haben. Das haben wir auch in unserem Buch Die überforderte Generation aufgezeigt. Wenn Sie sich die High Potentials bei den 30-Jährigen in allen 30 DAX-Konzernen anschauen - eine Unternehmensberatung hat das einmal untersucht -, sind davon 20 % Frauen. Bei den 34-Jährigen haben Sie noch 7 % und im Alter von Mitte 40 nur noch 2 % Frauen auf dieser Ebene. Diejenigen, die sich dafür entscheiden, beispielsweise Care-Aufgaben zu übernehmen, fliegen einfach aus dem System. Das heißt, dass eine vernünftige Gleichstellungspolitik schon zu einem Zeitpunkt infrage gestellt wird, an dem sie noch gar nicht wirken kann, nämlich in der Entscheidungsphase für Kinder. Die meisten jungen Frauen wissen nicht, dass die Entscheidung für ein Kind praktisch bedeutet, aussteigen zu müssen. Das zeigt sich erst später. Wenn sich das so klar zeigen lässt, stellt sich die Frage, welche Überforderungen dadurch entstehen können, dass die Politik Erwartungen etwa an die Gleichstellung formuliert, die sich im Lebenslauf in dieser Form gar nicht erfüllen lassen.

NG/FH: Das sind sicherlich auch Gründe dafür, warum das politische und gesellschaftliche Engagement bei vielen drastisch zurückgeht - dafür ist keine Zeit, keine Energie mehr vorhanden. Sie sagen, dass die Grundlage dieser ganzen Problematik eigentlich ist, dass die Biografien weitergelebt werden, aber nicht mehr zum gesellschaftlichen Wandel passen, dass zwischen beiden eine Ungleichzeitigkeit eingetreten ist. Die Gesellschaft hat sich völlig verändert, die Wirtschaft hat sich verändert, ebenso die Qualifikationsanforderungen - aber die Biografien folgen immer noch traditionellen Mustern. Ist das das Hauptproblem?

Bertram: Ich denke, das Geniale an Bismarcks Rentenkonzeption war, unabhängig von anderen politischen Aspekten, dass er es geschafft hat, die Bilder eines gelungenen und wohlgestalteten Lebens in das soziale Sicherungssystem zu übertragen: Ich lerne, fange an zu arbeiten, entscheide mich für Partnerschaft, Kinder, und bis zum 40. Lebensjahr geht es bergauf - und dann geht es wieder bergab. Ein wohlgeordnetes Leben - festgelegt mit der Rente, bei Bismarck noch mit 70, dann bei Kaiser Wilhelm II. mit 65 Jahren. Und diese Muster, die ursprünglich aus dem Militär kamen, wo körperliche Fitness ein wesentliches Element für solche Karrieremuster war, haben wir auch noch heute. Das spiegelt sich in der männlichen Normalbiografie wider: Das, was ein junger Mann zwischen 30 und 40 schafft, bleibt für sein ganzes Leben prägend.

Mehr als die Hälfte aller heute lebenden Frauen werden 100 Jahre alt. Ein Lebensrhythmus, der darauf angelegt ist, bis zum 40. Lebensjahr alles geschafft zu haben und dann noch 60 Jahre vor sich zu haben, passt einfach nicht mehr. Da besteht ein Konflikt, der in der Genderpolitik bis heute nicht gelöst ist. Die Männer halten natürlich an dem Modell fest, weil es sie privilegiert. Diejenigen, die von diesem Modell abweichen, versuchen sich an ihm zu orientieren, um auch in eine privilegierte Situation zu kommen. Wer sich aber für Familiengründung entscheidet, kann das nicht erreichen, weil ihm Zeitkontingente fehlen.

Wir haben das gerade für ganz Europa untersucht. Egal ob in Schweden, Deutschland oder Frankreich, es fallen bis zum fünften, sechsten Lebensjahr eines Kindes etwa - je nach Land etwas unterschiedlich - 40 bis 50 Stunden Betreuungsleistung in der Woche an, die sich nicht outsourcen lassen. In einigen Ländern machen die Männer vielleicht 15 Stunden zusätzlich, in anderen sind es nur 10 Stunden, das variiert. Aber es gibt überall diese Stundenkontingente, die deutlich absinken, wenn die Kinder älter als sechs sind.

Diese Stundenkontingente fehlen natürlich, wenn man sich in der Arbeitswelt bewähren will. Wer keine Verpflichtungen hat, der ist fein raus. Das Kernproblem ist, ob es auf Dauer gelingt, Lebenslaufmodelle zu organisieren, die die Normalbiografie verändern, so dass man auch mit 40 noch sagen kann: "Jetzt starte ich aber durch", so dass sich das überkommene Lebensmodell den längeren Lebensläufen anpasst. Darin liegt eine der größten gesellschaftspolitischen Herausforderungen. Das Gleiche gilt auch für die Älteren, die ebenso vitaler geworden sind.

Das heißt, solange wir am alten Modell festhalten, werden wir viele der Probleme überhaupt nicht lösen können, weil alle jungen Eltern wieder genau in diese Falle tappen, die sie nicht aufgestellt haben, die sich aber aus der Struktur der Lebensläufe ergibt.

NG/FH: Nach Ihrer Schilderung kann dieses Problem offenbar nur gelöst werden, wenn viele gesellschaftliche Instanzen zusammenwirken. Können Sie umreißen, welche Art von Zusammenarbeit, Zusammenwirken zum Beispiel von Politik, Unternehmen, Gesellschaft, Wissenschaft, Beratung notwendig wäre, um diese komplexe Aufgabe anzugehen?

Bertram: Ein Beispiel: Sie werden ein 16- oder 17-jähriges Mädchen nicht davon abhalten können, wenn sie einen Realschulabschluss hat, Erzieherin zu werden. Dann ist sie mit 21, 22 Jahren ausgebildete Erzieherin, arbeitet, findet den Job ganz toll und kann bis zu ihrem 65. Lebensjahr Erzieherin bleiben. Sie können auch eine Krankenschwester oder einen anderen Beruf nehmen, diese Jobs sind alle ähnlich entworfen - weil sie als Übergangsberufe in die Familiengründung konstruiert worden sind: Man macht eine Ausbildung, arbeitet fünf Jahre, wird dann Mutter und zieht sich aus dem Erwerbsleben zurück. Ein anderes Beispiel: Sie machen eine Ausbildung als Bereitschaftspolizist, werden erst kaserniert und können sich dann langsam hocharbeiten - ein völlig anderes Muster, obwohl das Qualifikationsniveau zunächst das Gleiche ist.

"Die meisten jungen Frauen wissen nicht, dass die Entscheidung für ein Kind praktisch bedeutet, aussteigen zu müssen."

Die Aufgabe muss es sein, einen typischen Job wie zum Beispiel Erzieher/in, der historisch so konstruiert wurde, derart neu zu konzipieren, dass die veränderten Lebenslaufperspektiven aufgenommen werden. Das ist eine zentrale Aufgabe für den Öffentlichen Dienst, beispielsweise der Gewerkschaften, die sich diesen Themen öffnen und sich fragen müssen, wie sieht Zeitpolitik im Lebenslauf aus? Natürlich ist es auch eine wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Aufgabe, sich zu fragen: Müssen junge Leute mit 16 Jahren wissen, was sie ihr ganzes langes Leben machen möchten? Der frühere niederländische Ministerpräsident Wim Kok hat zum Beispiel vorgeschlagen, dass der Staat einem Arbeitnehmer nach zehn Jahren im Beruf eine zweijährige Weiterbildung zahlt.

Das setzt aber voraus, die Vorstellung eines lebenslangen kontinuierlichen Berufs zugunsten der Möglichkeit von Wechseln aufzugeben, und das nicht nur im Öffentlichen Dienst. Nach zehn Jahren im Lehrberuf könnten beispielsweise ein Studium und der Wechsel in den Professorenstand folgen. Wenn man in bestimmten Berufen vielleicht bis zum 75. Lebensjahr arbeitet, wenn man das wollte, ist das auch nicht schwierig unterzubringen.

Der Punkt ist: Um ein solches Lebensmodell durchzusetzen, muss die Frage des Senioritätsprinzips, des steigenden Einkommens mit wachsendem Dienstalter und die Vorstellung der Höchstqualifikation zu Beginn ganz neu bewertet werden. Das hat erhebliche Konsequenzen für die Frage der Gehaltsfindung, inklusive der Dienstaltersstufen, was eine intensive Debatte eröffnet. Deswegen glaube ich auch, dass man nicht gesamtgesellschaftlich, sondern bereichsspezifisch beginnen sollte und dies genau in den Bereichen, wo derzeit ein großer Bedarf besteht.

NG/FH: Wenn Sie sagen, "man" sollte beginnen, heißt das, dass eine politische Initiative erfolgen sollte? Dass zum Beispiel im Parlament oder in der Regierung das Problem zur Kenntnis genommen werden muss, dass bestimmte Lösungen favorisiert werden und von da aus die koordinierenden Initiativen in die Gesellschaft hineinkommen sollten?

Bertram: Ich denke, der Staat ist in Bezug auf die Organisation des Lebenslaufs der einzig zentrale Akteur. Er bestimmt, wie lange wir in den Kindergarten und in die Schule gehen, wie lange wir arbeiten, ab wann wir Renten erhalten. Die staatlichen Akteure müssen klar sagen: "Wir wollen das und wir wissen ganz genau, dass wir es nicht von heute auf morgen erreichen können."Diese Prozesse dauern lange. Man kann Menschen, die sich vor Jahren anders entschieden haben und heute 55 Jahre alt sind, nicht plötzlich sagen: "Jetzt ist alles anders!"

NG/FH: Ist das, was Sie skizziert haben, bis in die Regierungen durchgedrungen, in die politischen Parteien hinein? Wo stehen wir momentan?

Bertram: Ich denke, wir brauchen noch ziemlich viel Aufklärung, denn es gibt natürlich Interessen, die dagegen sind. Sie sehen das am Tarifkonflikt im Erziehungs- und Sozialdienst seit Mai dieses Jahres. Wenn diese Bereiche - seien es Erzieher/innen, Krankenschwestern, Krankenpfleger oder andere Pflegeberufe - in Lebenslaufberufe umgebaut werden, aus denen die Menschen auch wieder aussteigen können, kostet das so viel, dass jeder Stadtkämmerer blass werden würde. Es gibt enorme Interessenkonflikte, auch innerhalb der Gewerkschaften: Wenn die körperliche und psychische Leistung im Beruf mit einem Durchschnitt von 100 angesetzt wird, dann liegt eine Pflegerin in einer Schicht ungefähr bei 175, ein technischer Angestellter im städtischen Dienst etwa bei 75. Der technische Angestellte etwa im Bauamt verdient aber deutlich mehr, bei formal gleichem Ausbildungsabschluss.

Auch in den Gewerkschaften sind also Konflikte zu diskutieren: Wie ist mit solchen unterschiedlichen Lebensbereichen umzugehen? Wenn es gelingen würde, in den obersten Gruppen zu zeigen, dass es auch anders geht, dann hat das in der Gesellschaft in der Regel Vorbildcharakter.

NG/FH: Was wäre die oberste Gruppe?

Bertram: Wenn man sich die Lebensläufe der Minister/innen anschaut, stellen Sie fest, dass fast alle gewechselt haben. Nehmen Sie zum Beispiel Manuela Schwesig, die sich zunächst im Finanzsektor entwickelt hat und dann offensichtlich in der Lage war, ohne besonderes Politik-Training als Quereinsteigerin eine gute Familienministerin zu werden. Man müsste auch in der Öffentlichkeit stärker deutlich machen, dass es nicht um lineare Karrieren geht, sondern dass es möglich ist, in einem Bereich zu beginnen und sich dann in einem neuen Bereich zu bewähren. Das muss ins gesellschaftliche Bewusstsein eindringen.

NG/FH: Soll also die Politik gezielt Initiativen ergreifen, die dann Zwänge erzeugen oder als Vorbild wirken, so dass Unternehmer, Gewerkschaften und andere Betroffene tätig werden? Oder geht es eher um eine Art runden Tisch, an dem die Politik eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe moderiert, und viele Sektoren integriert werden? Eine Art konzertierte Aktion, die neue Wege der Lebensplanungen möglich macht? Damit zum Beispiel eine Frau, die mit 28 Jahren ein Kind bekommt, mit 30 wieder einsteigen und in ihrem Beruf - oder einem anderen - mit gleichen Karrierechancen wie andere weitermachen kann?

Bertram: Konzertierte Aktionen sind ein beliebtes Modell in Deutschland, und ich denke, der Staat sollte in diesem Bereich vorangehen. Er ist bei den früheren Karrieremustern, die sich ja im Militär entwickelt haben, schließlich auch vorangegangen. Da er im Zeitmanagement, auch im Ausbildungsbereich, ein Quasi-Monopol hat, könnte er in bestimmten Bereichen, die gesellschaftlich besonders wichtig sind, neue Wege beschreiten. Beispielsweise ist die Frage zu stellen: Lässt sich der Ärztemangel in den ländlichen Regionen nicht vielleicht dadurch mindern, dass Krankenschwestern und Krankenpfleger die Möglichkeit bekommen, durch ein verkürztes Studium Medizin zu studieren und dann in den entsprechenden Regionen zu arbeiten?

Bei der Frage des Vorbilds wird häufig gesagt, der Staat sei so konservativ, der könne das nicht. Ich habe mich viel mit Familien- und Kindheitspolitik auseinandergesetzt und festgestellt, dass die Politik der Gesellschaft in diesen Bereichen häufig vorausgeeilt ist, und das gilt nicht nur für diese Politikbereiche. Wer sich die Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes in den 90er Jahren anschaut, stellt fest, dass diese Themen in dieser Form noch nicht im Bewusstsein der Gesellschaft angekommen waren. Auch bei der bundesweiten Initiative zur gewaltfreien Erziehung vor 15 Jahren durch die damalige Familienministerin Christine Bergmann haben die Leute gelacht, als sie sagte: "Ich mache das ohne Sanktionen." Trotzdem ist das inzwischen zu einer gesellschaftlichen Norm geworden. Das ist ein Kernelement von Politik, zu sagen: Das wollen wir, da wollen wir hin, und dann gucken wir, wie wir das hinkriegen.

Ich habe bisher unterstellt, dass die Lebensläufe so sind, dass sich das auch alle Menschen leisten können. Heute lassen sich Familien aber nur noch mit zwei Einkommen ökonomisch managen. Mit nur einem Einkommen oder gar Arbeitslosigkeit ist das Familienmanagement ökonomisch sehr schwierig. Um bestimmte Gruppen nicht abzuhängen, hat der Staat eine zweite große Aufgabe: Kann die ökonomische Situation so gestaltet werden, dass eine Familie nicht mehr davon abhängig ist, ob zwei Menschen zusammenleben und die Familie finanzieren, sondern kann das ökonomische Konzept für Familien auf die Kinder umgestellt werden? Es bedarf einer Sicherheit, dass auch die Mutter, die vielleicht nicht so viel verdient, weiß, dass dann, wenn sie noch einmal eine Ausbildung macht und in dieser Zeit weniger Geld zur Verfügung hat, ihr Kind auf keinen Fall davon betroffen ist.

NG/FH: Sie meinen, wir brauchen ein Kinder-Grundeinkommen?

Bertram: Ich denke, dass es ohne ein Kinder-Grundeinkommen nicht geht. Wir machen gerade eine Untersuchung zur kindlichen Deprivation in Europa. Bei den Eltern in niedrigen Einkommensgruppen lässt sich eine starke Kompensationsneigung zugunsten ihrer Kinder erkennen, das heißt, ihnen geht es schlechter als ihren Kindern. Wer ein kleines Kind hat und in einem Beruf tätig ist, bei dem er nicht viel verdient, wird eine Fortbildung, während der dann noch weniger Geld zur Verfügung steht, nicht aufnehmen. Also muss der Staat den Erwachsenen, die sich für die Fürsorge entscheiden, eine Sicherheit geben: Das Kind ist existenzgesichert!

NG/FH: Sie plädieren für ein unbedingtes Kinder-Grundeinkommen statt Ehegattensplitting?

Bertram: Ganz klar: Die familienökonomischen Leistungen sollten kindzentriert organisiert sein und über das Steuerrecht sollte die Gerechtigkeit zwischen den einzelnen Gruppen hergestellt werden. Die Frage, ob jemand verheiratet ist, alleinerziehend oder sonstiges, darf dabei keine Rolle spielen.

NG/FH: Dann müsste vielleicht das ganze Steuerrecht geändert werden, so dass junge Familien in dieser Lebensphase steuerlich besser behandelt werden als in einer späteren. Wir halten es momentan eher umgekehrt, gerade bei den Einkommen gilt fast überall das Senioritätsprinzip. Also muss bei den Unternehmen, den Gewerkschaften und im Steuerrecht darauf hingewirkt werden, dass in dieser jungen Phase des Lebens mehr Geld vorhanden ist als in den späteren?

Bertram: Gar keine Frage. Meine Generation ist sehr privilegiert, weil wir gut Karriere machen konnten, weil es nicht so viele Mitbewerber gab und wir auch ein ständig steigendes Einkommen hatten. Wir müssten eigentlich stärker besteuert werden - zugunsten der nachwachsenden Generation.

NG/FH: Nun funktioniert Politik ja so, dass nur auf Druck, nicht auf Werteappelle und noch seltener auf Argumente reagiert wird. Ist denn diese Generation in der Lage, selber auch ein bisschen Druck zu mobilisieren, damit sich die Dinge verändern? Oder wird sie sich ganz auf Anwälte von außen verlassen, auf Wissenschaftler oder auf den einen oder anderen Politiker, der das Thema übernimmt?

Bertram: Ich bin ziemlich sicher, dass gerade in dieser Lebensphase die Beschäftigung und der Alltag mehr als 100 % der Zeit in Anspruch nehmen, so dass man nicht unbedingt auch noch dazu kommt, Druck zu mobilisieren. Deswegen muss ein solches Konzept einerseits in die Gleichstellungsdebatte eingebunden werden, denn da gibt es einen starken politischen Druck. Der klassische Weg über gesetzliche Regulierungen allein, wie Quoten, erzielt nicht den gewünschten Effekt, das kann man an Schweden sehen. Auch dort haben sich die Lebensläufe nicht geändert, es gibt also ein ähnliches Problem.

Zum Zweiten geht es um Berufe, die in unserer Gesellschaft im Augenblick sehr nachgefragt werden. Diese müssen auf Dauer attraktiver gestaltet werden, nämlich durch höhere Einkommen, aber auch durch Entwicklungsperspektiven. An dieser Stelle passen das Eigeninteresse des Staates an qualifizierten Mitarbeiter/innen und das Interesse der Gesellschaft gut zusammen.

NG/FH: Und es könnte ja auch sein, dass das Eigeninteresse der Politik, der Parteien, dadurch befriedigt wird, dass sie eine Politik vorschlagen, in der sich die Mitglieder dieser Gruppe wiedererkennen und feststellen, dass das etwas ist, was ihnen unmittelbar nützt, und sich durch die Unterstützung dieser Politik dafür revanchieren.

Bertram: Richtig. Das einkommensabhängige Elterngeld, das Renate Schmidt ersonnen hat, ist dafür ein Beispiel: Die hohe Akzeptanz und die Zustimmung, die die Familienpolitik damals bekommen hat, erfolgte auch, weil es offensichtlich sehr positiv gewirkt hat. Und die Inanspruchnahme bis heute zeigt, dass es akzeptiert wird. Ich bin also ziemlich sicher, dass die Politik, wenn sie das Lebenslaufmodell fortentwickelt, auch mit entsprechenden Akzeptanzwerten rechnen kann, weil damit deutlich wird: Wir lassen euch nicht zurück, ihr müsst nicht nach dem Prinzip Entweder-oder agieren, sondern könnt immer wieder einsteigen.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2015, S. 23 - 30
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. September 2015

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