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FRAGEN/061: Kinderarbeit in Brasilien - Alle 14 Tage stirbt ein Kind bei einem Arbeitsunfall (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Brasilien

Kinderarbeit: Alle 14 Tage stirbt ein Kind bei einem Arbeitsunfall


(São Paulo, 09. Oktober 2020, Brasil de Fato).- In den letzten 12 Jahren starben 279 Kinder an den Folgen eines Arbeitsunfalls. Dazu wurden 46.507 arbeitsbedingte Gesundheitsschäden sowie 27.924 Unfälle gemeldet, die als schwerwiegend eingestuft wurden. Die Betroffenen waren fünf bis 17 Jahre alt. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums SINAN kommen pro Jahr 23 Kinder bei der Arbeit ums Leben.

Nun hat das Arbeitsministerium Anfang Oktober in sozialen Netzwerken und Radiosendern eine neue Kampagne gestartet, die das Problem der Kinderarbeit und insbesondere die Gefahr von Arbeitsunfällen thematisiert. Im Mittelpunkt stehen Menschen, die in ihrer Kindheit Arbeitsunfälle erlitten haben und auch als Erwachsene noch unter den schwerwiegenden physischen und psychischen Folgen leiden. Die Auswirkungen der Unfälle auf das künftige Leben der betroffenen Kinder sind immens. Viele von ihnen befänden sich ohnehin in einer prekären Lebenssituation, erzählt Staatsanwältin Ana Maria Vila Real im Interview mit Brasil de Fato. Vila Real ist die landesweite Koordinatorin der vom Arbeitsministerium lancierten Initiative Coordinfancia [1] gegen die Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen. In Artikel 227 der Bundesverfassung und im Kinder- und Jugendgesetz sei der umfassende Schutz von Minderjährigen verankert. Die Ausübung von Lohnarbeit sei illegal und behindere die volle Entwicklung der Kinder. "Lohnarbeit beeinträchtigt die schulischen Leistungen. Kinder, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen, haben weniger Möglichkeiten, sich im schulischen Kontext zu qualifizieren oder brechen vorzeitig die Schule ab. Entsprechend haben sie als Erwachsene keinen Zugang zu besser bezahlten Jobs und damit keine Möglichkeit, der familiären Armutsfalle zu entkommen. Dies ist es, was wir den intergenerationellen Armutszyklus nennen". Die Pandemie habe die bereits bestehende sozioökonomische Krise weiter verschärft.

"Die Kinderarbeit wird explosionsartig ansteigen. Wir steuern geradewegs auf eine Situation zu, wie wir sie seit 1992 nicht mehr hatten, in etwa dasselbe Beschäftigungsniveau wie damals und mit einem sehr hohen Anteil von Kinderarbeit. Dies ist eine Warnung an die Gesellschaft, vor allem aber an den Staat. Es ist höchste Zeit, dass die Politik sich dieses Problems annimmt. Wir befinden uns in einem entscheidenden Moment. Entweder wir unternehmen jetzt etwas, um die schwächsten Glieder der Gesellschaft zu schützen und ihre Rechte zu verteidigen, oder wir lassen zu, dass sich Kinderarbeit mehr und mehr zur Normalität entwickelt", warnt Vila Real. Im Interview mit Brasil de Fato sprach sie über die Verschärfung der Situation durch COVID-19 und die Verfehlung der Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030.

Was ist das Hauptziel der Kampagne, und wie lautete die Botschaft für den Kindertag am 12. Oktober?

Es geht uns darum zu zeigen, dass das Leben aller Kinder gleichviel wert ist und dass alle Kinder besonderen Schutz benötigen. Kinder und Jugendliche brauchen Raum und Schutz, um sich entwickeln zu können. In Fortsetzung der Aktion vom 12. Juni, dem Welttag zur Bekämpfung der Kinderarbeit konzentriert sich diese Kampagne auf die Folgen der Kinderarbeit und thematisiert Geschichten von Erwachsenen, die als Kinder bzw. Jugendliche durch die Arbeit verletzt oder krank wurden. Die meisten Kinder und Jugendlichen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen müssen, sind afrikanischer Abstammung. Der allergrößte Teil stammt aus einkommensschwachen Familien. Brasilien ist ein rassistisches, klassenorientiertes Land.

Wir wollen der Gesellschaft vor Augen führen, wie schädlich Kinderarbeit ist, und wie groß die Gefahr, schwere und teils sogar tödliche Unfälle mit irreversiblen Folgen zu erleiden. Wir haben zum Beispiel die Geschichte von Cíntia, die im Alter von 14 Jahren in einer Schleifmaschine einen Arm verlor, oder die von Gedeão, der mit acht Jahren zu arbeiten begann und im Alter von zehn Jahren ein Auge verlor. Oder die Geschichte von Ramon. Er begann mit 17 Jahren zu arbeiten, hatte gleich zu Anfang einen Arbeitsunfall und ist seither querschnittsgelähmt. Die Beispiele zeigen, dass es um mehr geht als um eine gestohlene Kindheit. Es geht um irreversible Folgen sowohl in physischer als auch in psychologischer Hinsicht.

Wie sieht die Zukunftsperspektive für ein Kind aus, das seinen Lebensunterhalt verdienen muss? Was gibt es neben den Unfällen noch für Auswirkungen?

Arbeiten zu müssen bedeutet für jedes Kind und jeden Jugendlichen spürbare Beeinträchtigungen. Auch wenn man laut Gesetz schon ab 16 Jahren, im Rahmen einer Berufsausbildung sogar ab 14 arbeiten darf, macht es einen Unterschied im Leben der Jugendlichen, ob Lohnarbeit ausgeübt wird oder nicht. Arbeit schadet den schulischen Leistungen, Arbeitszeit mindert die Zeit für Freizeit und Erholung. Und wie ich schon sagte: Dass der Lebensweg von Kindern, die in prekäre soziale Verhältnisse hineingeboren werden, quasi vorgezeichnet ist, hat zu einem wesentlichen Teil mit der Ausübung von Lohnarbeit zu tun.

Welches sind die strukturellen Faktoren, die Kinder so früh in die Lohnarbeit treiben?

Armut und soziales Elend sind vermutlich die wichtigsten Ursachen, die jedoch eng gekoppelt sind an andere Faktoren wie strukturellen Rassismus. Die Notwendigkeit, zur Schule zu gehen, konkurriert gewissermaßen mit der Notwendigkeit, für den eigenen Lebensunterhalt zu sorgen. Nach der Schule sind daher viele Kinder und Jugendliche auf Arbeitssuche. Dann gibt es noch das Problem der informellen Beschäftigung. Kinderarbeit ist einfach billiger oder sogar kostenlos, wenn es um Beschäftigung innerhalb der Familie geht.

Welche Arbeiten werden am häufigsten von Kindern ausgeführt? Man hat als erstes die Bilder von Kindern vor Augen, die in den Städten an den Verkehrskreuzungen stehen. Kinderarbeit ist jedoch kein ausschließlich urbanes Problem, oder?

Tatsächlich findet Kinderarbeit am häufigsten auf der Straße statt. So unglaublich es scheinen mag, geht es um Tätigkeiten, die am wenigsten als Arbeit wahrgenommen werden, obwohl sie am sichtbarsten sind. Wir haben das Problem der Kinderarbeit allerdings auch in der Landwirtschaft, und zwar in einer sehr ernstzunehmenden Form, weil die meisten Kinder und Jugendlichen, die auf dem Land arbeiten, jünger als 14 Jahre sind und sich damit in einer Altersgruppe befinden, in der Lohnarbeit ganz klar verboten ist. Die Kinder arbeiten mit toxischen Agrochemikalien, sind teilweise giftigen Insekten und anderen Tieren ausgesetzt ... Die Feldarbeit birgt immense Gefahren, die wir nicht minimieren können. Viele Kinder arbeiten außerdem im Haushalt. Diese Beschäftigung wird erstens als normal empfunden und findet zweitens komplett im Verborgenen statt. Das gilt sowohl für die Beschäftigung im eigenen familiären Umfeld als auch für die Arbeit in fremden Haushalten. Für das Jahr 2021 rechnen wir mit einem explosionsartigen Anstieg der Kinderarbeit.

Die Vernachlässigung des Schulalltags in Zeiten der Pandemie ist definitiv ein großes Problem. Wird sich das Problem der Kinderarbeit in Brasilien bedingt durch COVID-19 verschlimmern?

Daran besteht kein Zweifel. Nicht nur der sozioökonomische Gesichtspunkt, das heißt, die wachsende Prekarisierung macht uns Sorgen. Was noch mehr beunruhigt: Mehrere Studien weisen darauf hin, dass viele Jugendliche, insbesondere in der Altersgruppe der 14- bis 17-Jährigen, nicht in die Schule zurückkehren werden. Das ist in der Tat erschreckend. Und es wird die soziale Kluft, die wir in Brasilien haben, nur noch vergrößern. Ausgerechnet für 2021, das Jahr, das international zum Jahr für die Abschaffung der Kinderarbeit ausgerufen wurde, wird ein explosionsartiger Anstieg der Kinderarbeit erwartet. Dies ist ein Alarmsignal für die Gesellschaft, für den Staat und für die öffentliche Politik. Es müssen schleunigst Maßnahmen ergriffen werden. Stattdessen zieht der brasilianische Staat sich jedoch zurück. Bis 2025 sollten alle Formen der Kinderarbeit abgeschafft sein. Wir sind weit davon entfernt, dieses Ziel zu erreichen.

Warum das?

Wir bewegen uns quasi rückwärts. Nehmen wir die Agenda 2030. Im mehrjährigen Haushaltsplan 2020-2023 wurde die Agenda 2030 überhaupt nicht berücksichtigt. Weder der Haushalt noch die öffentliche Politik sind darauf ausgelegt, die Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 zu erreichen. Um die staatliche Sozialhilfe steht es zum Beispiel ziemlich schlecht. Seit 2017 besteht dort ein wachsendes Haushaltsdefizit. Waren es 2017 noch 21%, beträgt die Deckungslücke heute mehr als 35%. Bis 2021 müssen fast 60% eingespart werden. Das heißt, von den benötigten 2,5 Milliarden R$ (445 Millionen US-Dollar) wird nur eine Milliarde R$ (178 Millionen US-Dollar) gewährt. Soweit der Vorschlag, der dem Nationalkongress unterbreitet wurde. Wir bewegen uns auf einen gesellschaftlichen Abgrund zu. Offensichtlich gelingt uns nicht, mit der Pandemie fertig zu werden.

Waren die Kontrollen zur Eindämmung der Kinderarbeit auch von den Kürzungen betroffen?

Durch das Abstandhalten und bedingt durch die Tatsache, dass viele Prüfer*innen zu Risikogruppen gehören, wurden die Kontrollen reduziert und schwerpunktmäßig die Arbeitsbedingungen von Jugendlichen in Ausbildung überwacht. Zusammen mit dem Arbeitsministerium haben wir beispielsweise dafür gesorgt, dass die Jugendlichen nicht in Kontakt mit Gefahrenstoffen kommen. Außerdem kam es pandemiebedingt zu zahlreichen ungesetzlichen Kündigungen von Lehrverträgen. Mehr als 6.000 Ausbildungsverträge wurden zu Beginn der Pandemie gekündigt. Viele Unternehmen wurden mit Geldstrafen belegt und mussten die Lehrlinge wieder einstellen. Der Schwerpunkt der Arbeitsaufsicht lag also eher bei der Lehrlingsausbildung. Natürlich haben wir noch andere Aufgaben zu erfüllen, zum Beispiel bei der illegalen Beschäftigung von Kindern und Jugendlichen eingreifen, die Kinder wieder in die Schule zurückbringen und Familien dabei unterstützen, prekäre Situationen zu überwinden. Das Problem ist, dass Behörden und Unternehmer in Brasilien sich nicht wirklich gegen Kinderarbeit positionieren. Mit 11 Jahren ist man nach brasilianischem Recht noch Kind. Es kann nicht angehen, dass ein 11-Jähriger seit vier Jahren nicht mehr in die Schule kommt. Wir hatten da einen Fall in Rio Grande do Norte. Der Junge hatte eine gewisse Bekanntheit erlangt, sozusagen als eine Art Jungunternehmer. Um ihn herum bildete sich ein Solidaritätsnetz, Leute halfen, damit er kein Wasser mehr an Ampeln und auf der Straße verkaufen musste, sondern in der Nähe seiner Mutter sein konnte. Aber das ist doch keine wirkliche Unterstützung. Dieser Junge ist Analphabet. Er muss in die Schule. Kinderarbeit wird in Brasilien jedoch nicht wirklich als ein ernstes Problem begriffen, sondern viel zu häufig als eine Lösung für die wirtschaftlichen Probleme sozial schwacher Familien betrachtet, und sehr häufig sind das Familien mit afrikanischen Vorfahren. Ich betone es noch einmal: Rassismus ist ein Faktor, auf den die starken sozialen Ungleichheiten in unserem Land zurückzuführen sind.


Anmerkung:
[1] https://www.chegadetrabalhoinfantil.org.br/tira-duvidas/o-que-voce-precisa-saber-sobre/o-que-e-coordinfancia/


URL des Artikels:
https://www.npla.de/thema/arbeit-gesundheit/kinderarbeit-alle-14-tage-stirbt-ein-kind-bei-einem-arbeitsunfall/


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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. November 2020

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