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FRAUEN/320: Tunesien - Frauen pochen auf ihre Rechte, schleichende Islamisierung befürchtet (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 9. August 2011

Tunesien: Frauen pochen auf ihre Rechte - Schleichende Islamisierung befürchtet

Von Giuliana Sgrena


Tunis, 9. August (IPS) - Tunesiens politische Aktivistinnen werden derzeit nicht müde, die Frauen im Land an ihre neu erworbenen demokratischen Rechte zu erinnern. "Tragt Euch in die Wahllisten ein!", fordern sie. Der Wahltermin für die verfassungsgebende Versammlung wurde auf den 16. Oktober verschoben und die Schließung der Wahllisten auf den 14. August verlegt. Die Parteien müssen ebenso viele Männer wie Frauen als Kandidaten aufstellen.

Die vor der Revolution verbotene islamistische Partei 'Ennahda' (Wiedergeburt) gewinnt in Tunesien immer mehr Anhänger. Manche Beobachter befürchten, ihr Einfluss könne zu einer schleichenden Islamisierung des nordafrikanischen Landes führen. Die Verteidiger einer säkularen Politik treten bereits mit der Parole an: "Tunesien ist nicht Algerien!" Das nach ihrer Ansicht liberalere Tunesien dürfe dem weithin islamisch ausgerichteten Nachbarland Algerien nicht folgen, fordern sie.

Doch als sich kürzlich Journalisten bei Kopftuchträgerinnen nach ihrer politischen Meinung erkundigten, gaben vier von fünf der befragten Frauen an, sie würden Ennahda nicht wählen. Auch die Aktivistin Khadija von der Modernen Demokratischen Front, einer Koalition mehrerer demokratischer Parteien, meinte im Gespräch mit IPS, sie könne sich nicht vorstellen, dass ihre Landsleute unter islamischem Recht leben wollten.


Islamisierung befürchtet

Andere liberale Beobachter sind weniger zuversichtlich. So sieht der Chefredakteur des als Stimme der Revolution gefeierten Senders Radio Kalima, Sihem Ben Sedrine vom Nationalrat für Bürgerrechte (CNLT), Anzeichen einer zunehmenden islamistischen Gewalt. Er verwies in dem Zusammenhang auf den Überfall, den Salafisten im Juli auf eine Polizeistation im nordtunesischen Menzel Bourghiba verübt hatten, während in der Nähe stationierte bewaffnete Streitkräfte tatenlos zusahen.

Schon im Mai hatte es ähnliche Signale gegeben. Damals war die Filmregisseurin Nadia el Fani bedroht worden. Angesichts weiterer Gewaltandrohungen gegen Kunstschaffende hat sich die Gruppe 'Lam Echami' formiert, die zur Unterstützung der von Islamisten bedrohten Künstler die Initiative 'Hände weg von kreativen Menschen!' startete.

Weil weitere Übergriffe während des laufenden Fastenmonats Ramadan zu befürchten seien, habe man sogar mit der Ennahda ein Ende der Gewalt vereinbart, berichtete der Journalist Sedrine.

Vorläufig halten Tunesiens Frauen an ihren in der 'Jasmin-Revolution' durchgesetzten politischen Forderungen fest. So müssen die Parteien ihre Kandidatenlisten für die Wahl der verfassungsgebenden Versammlung paritätisch mit Männern und Frauen besetzen. Nur mit einer starken Präsenz können Frauen in diesem Gremium ihre Rechte durchsetzen.

Politisch engagierte Frauen bestehen auch darauf, dass Forderungen der Revolutionsbewegung wie die Trennung von Religion und Politik in Tunesien weiterhin respektiert werden. Ennhda hatte dies ebenso abgelehnt wie die Entscheidung der Übergangsregierung, dass Parteien nicht von außerhalb finanziert werden dürfen.


Frauen in den Medien ignoriert

Jetzt nimmt Tunesiens politische Frauenpower die Medien und andere weiterhin vom gestürzten Staatspräsidenten Zine el Abidine Ben Ali beeinflusste Institutionen ins Visier. Trotz ihrer politischen Aktivitäten kommen Frauen in den Medien kaum vor, nicht einmal, wenn sie für eine Partei kandidieren. So etwa bleibt Maya Jribi, die Generalsekretärin der Progressiven Demokratischen Partei, in den Medien außen vor. In der Berichterstattung bleibt ein Mann, der ehemalige Parteichef Nejib Chebbi, weiterhin das Gesicht der Partei.

Selbst in der monatlich erscheinenden Frauenzeitschrift 'Femmes & Réalitées' ist kaum etwas über die politische Arbeit von Frauen zu lesen. Eine Ausnahme machte die Juli-Ausgabe des Magazins. Sie befasste sich in einem ausführlichen Sonderbericht mit Tunesiens politisch engagierten Frauen.

"Auch nach dem Ende von Ben Alis 23-jähriger Diktatur zeigen seine alten Gefolgsleute, die immer noch Schlüsselpositionen besetzen, keinen Respekt vor der neu gewonnenen Pressefreiheit", klagte Najiba Hamrouni von der Nationalen Journalistengewerkschaft gegenüber IPS. Wie viele ihrer Kollegen befürchtet die Journalistin, die Behörden versuchten, die Kontrolle über die Medien zurück zu gewinnen. (Ende/IPS/mp/2011)


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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 9. August 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. August 2011