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FRAUEN/370: Bevölkerung - Männerüberschuss durch Geschlechtsselektion, Frauen zahlen die Zeche (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 24. Februar 2012

Bevölkerung: Männerüberschuss durch Geschlechtsselektion - Frauen zahlen die Zeche

von Charundi Panagoda


Washington, 23. Februar (IPS) - In Asien gab es 2005 infolge angewandter Methoden zur Geschlechtswahl von Kindern 163 Millionen mehr Männer als Frauen. Die Folgen dieser Auslese gehen mit einigen veritablen Problemen einher, die der Westen mitverschuldet hat.

Aus Angst davor, das rasante Bevölkerungswachstum in Asien könnte eine Migrationswelle ohnegleichen in Gang setzen, förderten die USA in den 1970er Jahren etliche Geburtenkontrollinitiativen. So begannen die US-Entwicklungsbehörde USAID, die Weltbank und andere Organisationen mit der Finanzierung von Programmen, die das Bevölkerungswachstum eindämmen sollten.

Wie Mara Hvistendahl, Autorin des Buches 'Unnatural Selection: Choosing Boys Over Girls, and the Consequences of a World Full of Men', berichtet, wurden enorme Anstrengungen unternommen, um Abtreibungen zu legalisieren - nicht als Selbstbestimmungsrecht der Frau, sondern als Methode der Bevölkerungskontrolle. Wissenschaftlern sei damals aufgegangen, dass nach der Geburt eines männlichen Stammhalters der Wunsch der Eltern nach weiteren Kindern nachlasse. Würden Paare also in die Lage versetzt, als erstes Kind einen Jungen zur Welt zu bringen, würde sich das Bevölkerungswachstum bald selbst erledigt haben, lautete ihr Credo.


Siegeszug der Reproduktionstechnologien

Etwa zur gleichen Zeit machten die Reproduktionstechnologie und vor allem die Methoden zur Geschlechtsbestimmung bemerkenswerte Fortschritte. 1975 führten Mediziner am 'All India Institute of Medical Sciences' mit Geldern des Rockefeller-Instituts und der Ford-Stiftung entsprechende Experimente durch. Sie boten armen Frauen kostenlose Fruchtwasseruntersuchungen an. Danach hätten 1.000 Frauen ihre weiblichen Föten abgetrieben, so Hvistendahl im Gespräch mit IPS. Und die Ärzte konnten Abtreibungen als wirksame Methode der Bevölkerungskontrolle verkaufen.

Geschlechtsselektive Schwangerschaftsabbrüche traten zunächst China und Indien den Siegeszug an. Sie wurden sogar vom Präsidenten des US-Bevölkerungsrats, Bernard Berelson, vom deutschen Wissenschaftler Paul Ehrlich und einigen Frauen wie der ehemaligen US-Abgeordneten Clare Boothe Luce begrüßt.

Nach Ansicht von Lena Edlund, Wirtschaftswissenschaftlerin an der New Yorker 'Columbia University', wäre es falsch, allein den Westen für die in Asien durchgeführten Ausleseverfahren zugunsten männlicher Embryonen verantwortlich zu machen. Wie sie betont, hat die Fertilitätstechnologie die Geschlechtsselektion lediglich vereinfacht, nicht verursacht. So seien kulturelle Normen und die allgemeine Ablehnung von Mädchen die Gründe für den künstlich herbeigeführten Männerüberschuss.

Die Geschlechtsselektion beschränkt sich schon längst nicht mehr allein auf China und Indien. Die zunehmende Kluft, was die Bevölkerungszahl von Männern und Frauen angeht, lässt sich inzwischen auch in Südkorea, Taiwan, Vietnam, Albanien, Armenien und anderen Kaukasusländern beobachten. Eine Gallup-Umfrage von 2011 zeigt, dass auch US-amerikanische Paare generell Söhne bevorzugen. Hvistendahl zufolge ist die Geschlechtsselektion keine Frage der wirtschaftlichen Not oder der in China praktizierten Ein-Kind-Politik mehr, sondern eine persönliche Entscheidung.

Die Auswirkungen der geschlechtsbezogenen Ausleseverfahren machen sich bereits bemerkbar. In China beispielsweise haben es die in den 1980er Jahren geborenen Männer schwer, eine passende Partnerin zu finden. Ab 2013 wird jeder zehnte männliche Chinese im heiratsfähigen Alter keine Frau finden. In Indiens Nordwesten dürften ab 2020 15 bis 20 Prozent der Männer mit einem solchen Problem konfrontiert sein.

"Einige US-Wirtschaftswissenschaftler gehen davon aus, dass es weniger Frauen geben wird und ihr Wert sich dadurch erhöht", meint Hvistendahl. "Doch tatsächlich werden Frauen und besonders arme Frauen als Ware betrachtet werden. Das ist ein entscheidender Unterschied."


Ware Frau

Edlud warnt davor, sich allein auf den Aspekt des Frauenmangels zu konzentrieren. Dass es nicht genug Frauen für Männer gebe, sei eine rein männliche Sicht. Die weibliche Sicht werde ausgeblendet, obwohl Frauen die eigentlichen Opfer seien. Frauen würden als bewegliche Ware betrachtet, die von armen Paaren geboren und an die Reichen verkauft würden.

Der Bericht über Menschenhandel, den das US-Außenministerium 2009 herausgegeben hatte, sieht in dem wachsenden Männerüberschuss in Asien eine der Ursachen für den zunehmenden Sexhandel. Der Trend gehe in Asien zu mehr Zwangsheiraten, Zwangsprostitution und Mischehen, wobei Frauen aus armen Regionen mit Männern in reichen Regionen verheiratet würden.

Arme Familien in Ländern wie Vietnam könnten vor diesem Hintergrund Mädchen irgendwann einmal als die bessere Investition betrachten. Dies wiederum brächte andere Schwierigkeiten mit sich. So würden die armen Männer im Lande dann keine Partnerinnen mehr finden. Edlund befürchtet, dass ein solcher Trend Frauen in einer permanenten "Unterschicht" gefangen hält. "Dann haben wir eine Situation, in der reiche Staaten Söhne und arme Menschen Frauen produzieren. Und das ist ein großes Problem."

Regierungen haben versucht, das Problem durch ein Verbot von Ultraschalluntersuchungen für die Geschlechtsselektion zu verbieten. Da pränatale Ultraschalluntersuchungen jedoch ein wichtiger Bestandteil der Schwangerschaftsvorsorge sind, rät Edlund von solchen Verboten ab. Ihrer Meinung nach ist es Zeit, sich mit den verschiedenen Formen der Diskriminierung von Frauen und Mädchen auseinanderzusetzen und für eine Korrektur althergebrachter Sichtweisen zu sorgen. (Ende/IPS/kb/2012)


Links:
http://marahvistendahl.com/index.php/book/
http://www.gallup.com/poll/148187/Americans-Prefer-Boys-Girls-1941.aspx?utm_source=alert&utm_medium=email&utm_campaign=syndication&utm_content=morelink&utm_term=USA
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=106840

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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2012