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FRAUEN/509: Türkei - Frauen kämpfen um ihre sexuellen und reproduktiven Rechte (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 16. Juli 2013

Türkei: Aufstand gegen das Patriarchat - Frauen kämpfen um ihre sexuellen und reproduktiven Rechte

von Ariam Frezghi


Bild: © Arz Geybulla/IPS

Frau vor einer Polizeikolonne bei Protesten in Istanbul
Bild: © Arz Geybulla/IPS

Istanbul, 16. Juli (IPS) - Die Demonstranten, die im Gezi-Park in Istanbul zusammenkommen, verbindet nicht nur der Wunsch nach politischen Reformen. Obwohl die Frauen der türkischen 'Occupy'- Bewegung für unterschiedliche Werte und Ideale eintreten, kämpfen sie doch gemeinsam für das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben.

Sie wehren sich unter anderem gegen ein vom Gesundheitsministerium geplantes Gesetz, das die 'Pille danach' verschreibungspflichtig machen soll. Das ist ungewöhnlich für ein Land, in dem die meisten Medikamente frei in Apotheken erhältlich sind.

Die Regierung der konservativen Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) hält Frauen dazu an, mindestens drei Kinder zur Welt zu bringen, um das Bevölkerungswachstum aufrecht zu erhalten. Wie Frauenrechtsgruppen kritisieren, versucht die Regierung den Türkinnen durch das neue Gesetz traditionelle Wertvorstellungen aufzuzwingen. Wer sich widersetze, werde stigmatisiert.

"Meinen Hausarzt mag ich nicht nach Verhütungsmitteln fragen, weil das für mich eine intime Angelegenheit ist", sagt die 26-jährige Merve Kosar aus Istanbul, die sich bisher auf die Apotheken verlässt. In der Türkei werden fast alle Medikamente mit Ausnahme von Betäubungsmitteln, frei verkauft. Vor allem junge Frauen wollen sich nicht für ein Rezept an den Hausarzt wenden, weil sie befürchten müssen, dass dieser die Eltern informiert.


'Pille danach' ist meistgenutztes Verhütungsmittel

Fast 34 Prozent der verheirateten oder getrennt lebenden Frauen in dem Land gaben 2008 in einer staatlichen Umfrage zu Gesundheit und Demografie bekannt, die Pille danach als hauptsächliches Verhütungsmittel zu nutzen.

Es ist jedoch wahrscheinlich, dass das Parlament das Gesetz, das die Pille danach rezeptpflichtig macht, noch in diesem Jahr im Rahmen eines größeren Reformpakets verabschiedet. In einem kürzlich veröffentlichten Artikel in der Tageszeitung 'Hürriyet' wird aus einer Mitteilung des Gesundheitsministeriums zitiert, wonach "Wachstumshormone, Antibiotika, Antidepressiva und Antihistaminika nur auf Rezept verkauft werden sollen, um Missbrauch zu verhindern".

Wie Zerrin Guker, eine Apothekerin in dem Istanbuler Geschäftsviertel Karakoy, berichtet, verkauft sie monatlich 15 bis 20 Schachteln mit der Pille danach. Manche Kundinnen kämen mehrmals die Woche. Doch eine häufige Einnahme der Pille berge Risiken wie das Auftreten hormoneller Störungen, warnt sie.

Die 27-jährige Demonstrantin Elif, die ihren vollständigen Namen nicht nennen will, berichtet von Blutgerinnseln und Übelkeit nach der Einnahme des Medikaments. Dennoch ist sie der Meinung, dass Frauen die Wahl der Verhütungsmittel überlassen werden müsse. Der Regierung gehe es mit dem Gesetz vor allem darum, unverheiratete Frauen von vorehelichem Sex abzuhalten.

Der lange Kampf der Frauenrechtlerinnen kommt aber langsam voran. Immer mehr Türkinnen fordern ihre sexuellen und reproduktiven Rechte ein. Viele Frauen sprechen inzwischen sogar öffentlich über ihre Probleme mit Männern und prangern sexuelle Belästigung an.

Auf einem Treffen im Yogurtçu-Park im Istanbuler Bezirk Kadikoy hatten sich mehr als 100 Frauen versammelt, um sich über gemeinsame Probleme und Strategien auszutauschen. Eine der Teilnehmerinnen verlas eine Liste mit Beschwerden, wonach die Regierungspartei versuche, Einfluss auf die Kleidung von Frauen zu nehmen, Abtreibungen zu verbieten und Frauen im Haus zu halten.

Vor einem Jahr hatte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan strenge Beschränkungen im Bereich der reproduktiven Gesundheit gefordert. Ein von ihm entworfenes Gesetz will den Zeitraum, in dem eine Frau ein unerwünschtes Kind abtreiben kann, von zehn auf acht Wochen verkürzen. "Den Fötus im Mutterleib oder nach der Geburt zu töten ist dasselbe", sagte er in einer Rede vor Politikerinnen in der Hauptstadt Ankara. Daraufhin zogen 3.000 bis 4.000 zumeist weibliche Demonstranten in Kadikoy auf die Straße und schwenkten Transparente mit Aufschriften wie "Es ist mein Körper, wer bist du?"


Häufige Schwangerschaftsabbrüche

Abtreibungen wurden 1983 in der Türkei legalisiert. Damals ergab eine von der Regierung durchgeführte Umfrage, dass 37 Prozent der jemals verheirateten Türkinnen mindestens einen Abbruch hinter sich hatten. 2008 lag der Anteil bei 14,8 Abtreibungen pro 1.000 Frauen.

Beobachter rechnen damit, dass die geplanten Einschränkungen beim Verkauf der Pille danach einen seit Langem schwelenden Konflikt hochkochen werden. Immer mehr Menschen seien gegen die traditionelle Vorstellung von der Frau als Hausfrau und Mutter, sagt die Journalistin Ayse Dunkan. Die überholten Ansichten hätten dazu geführt, dass die Türkei nach China die weltweit zweithöchste Bevölkerungswachstumsrate verzeichne. (Ende/IPS/ck/2013)


Links:

http://www.hurriyetdailynews.com/notice-stirs-debate-on-morning-after-pill-sales-in-turkey.aspx?pageID=517&nID=47793&NewsCatID=341
http://www.ipsnews.net/2013/07/turkish-women-push-back-against-patriarchy/

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IPS-Tagesdienst vom 16. Juli 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juli 2013