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FRAUEN/581: Studie zu Langzeitfolgen von Kriegsvergewaltigungen (medica mondiale)


medica mondiale - 19. Mai 2015

"Wir wurden verletzt, doch wir sind mutig und stark."

medica mondiale präsentiert Ergebnisse einer Studie zu Langzeitfolgen sexualisierter Gewalt


Köln, 19. Mai 2015. Überlebende sexualisierter Gewalt benötigen dringend kontinuierliche Unterstützung, Beratung und Therapie. Das belegt eine Studie der Frauenrechtsorganisation medica mondiale. Gemeinsam mit ihrer bosnischen Partnerorganisation Medica Zenica hat sie von Juni 2013 bis Februar 2014 ehemalige Klientinnen in Bosnien und Herzegowina (BuH) befragt, wie es ihnen 20 Jahre nach den Kriegsvergewaltigungen geht. Psychische Belastungen, gynäkologische Beschwerden und eine insgesamt alarmierende Gesundheitssituation prägen ihren Alltag. "Es belastet die Frauen bis heute und dennoch meistern sie ihr Leben", erklärt Monika Hauser, Gründerin von medica mondiale, zur Veröffentlichung der Studienergebnisse in Deutschland "Zu diesem Thema gibt es kaum systematische Forschung. Mit 'Wir wurden verletzt, doch wir sind mutig und stark. Eine Studie zu Langzeitfolgen von Kriegsvergewaltigungen und zu Bewältigungsstrategien von Überlebenden in BuH' schließen wir einen Teil dieser Lücke."

Aus den Ergebnissen leiten die beiden Frauenrechtsorganisationen folgende Forderungen ab: In BuH müsse das Bewusstsein geschärft werden für die Situation Überlebender sexualisierter Kriegsgewalt. Dazu gehöre ein gesellschaftlicher Diskurs über das Stigma, das Überlebende ausgrenzt und nicht die Täter. Eine Befragte fasst das so zusammen: "Täter haben mehr Rechte als Überlebende." Es sei unverzichtbar, so Sabiha Husi?, Direktorin von Medica Zenica, das erlebte Unrecht auf juristischer und gesellschaftlicher Ebene anzuerkennen und die Täter zu bestrafen.

medica mondiale und Medica Zenica empfehlen darüber hinaus die Langzeitfinanzierung psychosozialer, gesundheitlicher, rechtlicher und ökonomischer Angebote für Überlebende und ihre Familien. In allen Unterstützungsangeboten, in staatlichen wie in denen von Nichtregierungsorganisation, müsse ein trauma-sensibler Ansatz etabliert werden. In ganz BuH sollten Netzwerke entstehen, die die Unterstützung von Überlebenden in allen Landesteilen sicherstellen und koordinieren. Außerdem müssten Regierung und Nichtregierungsorganisationen stärker kooperieren.

Die Veröffentlichung der Studienergebnisse Ende 2014 in BuH führte bereits zu konkreten Verbesserungen: Medica Zenica richtete eine neue, kostenlose Telefon-Hotline für Überlebende in ganz BuH ein, einschließlich der Serbischen Republik (Republika Srpska). "Es sind neue Netzwerke entstanden, die dazu beitragen, endlich die Diskussion über Gewalt gegen Frauen zu führen und so Frieden in unsere Gesellschaft bringen können", berichtet Husi?.


Die Forschungsergebnisse im Einzelnen

51 Frauen im Alter zwischen 33 und 81 Jahren ließen sich zu vier Forschungsfeldern befragen: Erstens ging es darum, wie die erlebte Gewalt den Alltag der Frauen beeinflusst. Zweitens wurde erfragt, wie die bosnische Gesellschaft mit Überlebenden umgeht. Dritter Schwerpunkt waren die Bewältigungsmechanismen und viertens sollten die Frauen bewerten, wie hilfreich die Hilfsangebote des Frauentherapiezentrums Medica Zenica für sie waren.


Alarmierende Gesundheitssituation

Über 93 Prozent der Frauen haben nach wie vor gynäkologische Probleme, 76 Prozent schildern Schlafstörungen und 57 Prozent leiden unter Posttraumatischen Belastungsstörungen. Mehr als 70 Prozent der Befragten gaben an, die Vergewaltigungen beherrschten noch immer ihr Leben, vor allem in Form von immer wiederkehrenden, belastenden Erinnerungen, Nervosität und Problemen in engen Beziehungen. Mehr als ein Viertel der Frauen berichtet, die Weitergabe der unbewältigten Traumata habe das Leben ihrer Kinder vollständig beeinflusst. Diese Resultate belegen die destruktiven Langzeiteffekte von Kriegsvergewaltigungen.


Keine soziale Anerkennung

Seit 2006 können Überlebende sexualisierter Kriegsgewalt in BuH den "Status des zivilen Kriegsopfers" beantragen. Dieser umfasst eine monatliche Rente von zirka 275 Euro sowie Weiterbildungen, Unterstützung bei Arbeitslosigkeit oder der Wohnungssuche. Bislang haben nur knapp tausend der 20.000 bis 50.000 damals vergewaltigten Frauen und Mädchen den Status beantragt. Als Gründe dafür nennen sie in der Studie die schlechte Informationspolitik der bosnischen Regierung, den hohen Verwaltungsaufwand und das entwürdigende Verfahren, bei dem die Frauen wiederholt die Vergewaltigungen schildern müssen. Immerhin 76 Prozent der Frauen in der Forschungsgruppe haben, auch dank der Unterstützung von Medica Zenica, den Status erlangt. Hingegen nutzen nur acht Prozent von ihnen die Programme zu Arbeit, Bildung und Wohnen, obwohl sie dazu berechtigt wären.


Sprechen hilft

Die am häufigsten genannte Bewältigungsstrategie ist Ablenkung. 60 Prozent der Befragten nutzen regelmäßig Psychopharmaka, um ihre Nervosität zu lindern und ihr tägliches Leben meistern zu können. Wichtigste Faktoren zur Stabilisierung seien der Austausch mit Gleichgesinnten und deren emotionale Unterstützung sowie Hobbies und Spiritualität, erklärten die Frauen. Auf die Frage "Heilt die Zeit?" antworteten 40 Prozent mit Ja, 28 Prozent mit Nein und 28 Prozent sagten aus, es sei gleich schwierig. Die restlichen vier Prozent bezogen nicht klar Stellung.


Erfahrungen teilen

Als extrem hilfreich bis hilfreich beschreiben die Teilnehmerinnen der Studie die Unterstützungsangebote von Medica Zenica. Mehr als 80 Prozent berichteten, dass sie dort psychologische Hilfe, medizinische Unterstützung, Nahrung und Kleidung erhalten haben. Das Frauenhaus von Medica Zenica gewährte ungefähr 50 Prozent der befragten Frauen Zuflucht. Zwischen 25 und 40 Prozent von ihnen erfuhren durch die Mitarbeiterinnen spirituelle Unterstützung, finanzielle Hilfe und Hilfe bei der Kinderbetreuung. 24 Prozent schlossen Berufsbildungskurse ab und 14 Prozent absolvierten Computer- oder Englischkurse. 16 Prozent gaben an, dass Mitarbeiterinnen von Medica Zenica sie bei Gerichtsprozessen unterstützt hätten. Besonders betonen die Überlebenden die Möglichkeit zu sprechen und mit anderen, die Ähnliches erlebt hatten, die Erfahrung zu teilen. Sie berichteten, wie wichtig es für sie war, dass das Frauenhaus ihnen einen sicheren Platz bot, an dem sie bleiben konnten mitten im Krieg. Viele der Teilnehmerinnen nutzen bis heute die psychosozialen und medizinischen Angebote von Medica Zenica.


Traumaforschung zu Krieg und Vergewaltigung

Während des Krieges in BuH von 1992 bis 1995 wurden zwischen 20.000 und 50.000 Frauen und Mädchen systematisch vergewaltigt und sexualisierter Gewalt in Konzentrationslagern ausgesetzt. Die internationale Traumaforschung zeigt, dass Krieg und Vergewaltigung als die am zerstörerischsten traumatischen Erfahrungen gelten. Bei Kriegsvergewaltigung, also der Kombination aus beiden, ist demnach zu erwarten, dass sie zu massivem Leid bei den Überlebenden führt und sowohl deren psychische und physische Gesundheit als auch ihre Beziehungen zu anderen Menschen nachhaltig beeinflusst.

Es gibt kaum Forschung zum Thema Kriegsvergewaltigung, ihren Langzeitfolgen und den Bewältigungsstrategien von Überlebenden. Deshalb führten medica mondiale und Medica Zenica von Juni 2013 bis Februar 2014 eine Studie mit 51 Frauen durch. Sie hatten in der Zeit während und nach dem Krieg Unterstützungsangebote von Medica Zenica in Anspruch genommen. Problematisch bei der Erforschung sexualisierter (Kriegs-) Gewalt ist, dass Schamgefühle und die extreme Belastung der Überlebenden zu "Fehlerquellen" im Forschungsprozess führen können. Hierzu zählen der Wunsch, schmerzhaften Erinnerungen zu unterdrücken sowie Scham-induzierte Antworten. Um das zu vermeiden, führten Mitarbeiterinnen von Medica Zenica die Befragungen mit ihren ehemaligen Klientinnen durch und trugen Sorge dafür, dass die Interviews in einer vertrauensvollen, geschützten Atmosphäre stattfanden.

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Quelle:
medica mondiale e.V.
Pressemitteilung vom 19. Mai 2015
Hülchrather Str. 4, 50670 Köln
Telefon: +49-(0)221 / 93 18 98-0, Fax: +49-(0)221 / 93 18 98-1
E-Mail: info@medicamondiale.org
Internet: www.medicamondiale.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2015

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