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FRAUEN/589: Nord-Süd-Frauenbegegnungsreisen im Spannungsfeld ökonomischer Globalisierung (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 130, 4/14

Von Frau zu Frau
Nord-Süd-Frauenbegegnungsreisen im Spannungsfeld ökonomischer Globalisierung und internationaler Solidarität

Von Gertrude Eigelsreither-Jashari


Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage der Aktualität von Begegnungsreisen im digitalen Zeitalter.


Im Zeitalter der digitalen Informationsgesellschaft kommt der persönlichen Begegnung zwischen Menschen wieder ein besonderer Stellenwert zu. In Österreich wurden die so genannten "Sensibilisierungsreisen", die in den 1980er-Jahren von der Katholischen Frauenbewegung erstmals organisiert wurden, in Form von Begegnungsprogrammen unterschiedlichster Organisationen weiterentwickelt.

Südwind Niederösterreich führt seit den 1990er-Jahren frauenspezifische und gender-sensible Begegnungsprogramme durch, u. a. mit Indien, Vietnam, Ecuador, den Kap Verden und Äthiopien, weitere sind in Vorbereitung. Zuletzt wurde ein Austauschprogramm zum beidseitigen Empowerment von Frauen mit dem Kosovarischen Frauenprogramm 2013/14 umgesetzt.


Abstand gewinnen

Das Konzept der regionalen, basisorientierten Bildungsarbeit wurde in den 1990er-Jahren von der Österreichischen Bergbäuerinnen-Organisation entwickelt und heute für die Begegnungsreisen von Südwind Niederösterreich in Form von Vor- und Nachbereitungsseminaren angewandt.

Ausgehend von der eigenen Lebenssituation wird als erster Schritt mittels Distanzierung Abstand vom Alltag gewonnen und ein Reflexionsprozess in Gang gesetzt. Die dabei gewonnene Erweiterung der Wahrnehmung ermöglicht es, Ursachen und Zusammenhänge in persönlicher, sozialer, politischer, kultureller und ökologischer Hinsicht zu erkennen. Eine ganzheitliche Sicht der Realität wird mittels Erfahrungsaustausch und in Auseinandersetzung mit in ähnlicher Situation Lebenden als auch mit Expertinnen und Fachleuten sowie unter Zuhilfenahme von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Analysemethoden erarbeitet.

Eigene Distanzierung und Bewusstwerdung ermöglichen es, auch andere Perspektiven, Ziele und neue, erweiterte Lösungs-, Handlungs- und Veränderungsmöglichkeiten zu sehen und zu entwickeln.


Sich zusammenschließen, solidarisieren, gemeinsam verändern

Der Erkenntnis, dass Veränderungen schwer allein herbeizuführen und umzusetzen sind, folgen Schritte zur Förderung von Organisationen, Zusammenarbeit und Solidarisierung. Dieser Schritt führt zur Ausgangssituation, zur eigenen gelebten Realität zurück. Die gewonnenen Einsichten, Erkenntnisse und Erfahrungen helfen, die eigene Situation zu verändern und das wirtschaftliche, politische und soziokulturelle Umfeld bewusst mitzugestalten. Dieser dahinterstehende idealtypische Bildungsansatz kann und wird nicht immer vollständig umgesetzt. Trotzdem zeigen die Aussagen von Teilnehmerinnen, dass wesentliche Elemente davon glücken.


Stimmen österreichischer Teilnehmerinnen an Begegnungsreisen

"Ein gestärktes Rückgrat, Motivation, Herzlichkeit und Gastfreundschaft, mit Mut und Kraft weiterzugehen und aufzuklären, Informationen weiterzugeben und politisch zu handeln. Im Herzen trage ich seit Ecuador die Liebe zu den Menschen und einen Reichtum an Fülle durch Begegnung. Mein Horizont ist weit geworden, und ich wünsche mir von ganzem Herzen, öfter eine solche Reise zu erleben und dort weiterzugeben, wo ich lebe und bin."

"Die Frauen hier und dort umgeben mich wie ein feines Spinnennetz, das Stürmen trotzen kann, weil es einfach mitschwingt, fragil und voll Widerstandskraft."

"Ich habe hier viele mutige Menschen getroffen, gerade unter den Frauen. Ecuador ist so ein reiches und vielfältiges Land, aber auch so ausgebeutet und ausgeblutet. Vieles ist ursprünglicher, wesentlicher, nicht so von der Scheinwelt des Konsums überdeckt wie bei uns. Aber auch die brutalen Machtstrukturen des Kapitalismus sind viel offensichtlicher."

"Die Reise meines Lebens!"

"Mit den Arbeiter_innen in den Fair-Trade-Kooperativen persönlich reden zu können hat mich sehr bestärkt, Fair-Trade-Produkte zu kaufen. Im Alltag verflüchtigt sich diese Idee oft wieder - so eine 'Auffrischung' wirkt dann sehr lange nach."

"Wie soll ich je wieder anders reisen?"


Brauchen wir angesichts von Web 2.0 und Social Media noch aufwendige und kostenintensive Begegnungsreisen?

Über Internet und Wikipedia können wir uns alle möglichen Informationen holen. Wir können erfahren, dass in den letzten Jahren trotz multipler Krisen in alle möglichen Weltregionen die Anzahl der Milliardäre kontinuierlich steigt, dass die zunehmende globale Kluft zwischen Arm und Reich bereits vom Weltwirtschaftsforum als größte Gefahr gesehen wird und dass 1,3 Mrd. Menschen unter Hunger und Armut leiden. Diese Informationen zu haben - und dieses Wissen zum Verändern von Haltungen und zum tatsächlich geänderten Handeln weiterzuführen ist ein langer Weg. Persönliche Begegnungen sind eine Option und bewirken nachweislich in manchen Fällen tief greifende Veränderungen.

Persönliche Begegnungen prägen, beeinflussen, stärken oder verändern Haltungen, können sogar fest verankerte Normen ins Wanken bringen oder Vorurteile und Stereotypen abbauen, und das auf beiden Seiten. Die Betonung liegt dabei auf der Möglichkeitsform. Wenn Begegnungen in "falschen" Settings passieren, kann auch das Gegenteil der Fall sein, und alte Vorurteile werden bestärkt, wie das etwa das häufig gebrachte Beispiel eines europäischen Monteurs in Afrika zeigt, der aus seinem Einsatz mit der bestätigten Meinung zurückkommt, dass "sie dort faul" - oder milder ausgedrückt: "weniger einsatzfreudig" seien oder die "Zeit nicht einhielten".

Anders bei den gut vorbereiteten Begegnungsreisen: So etwa wollten Bäuerinnen in Ecuador nicht glauben, dass auch Weiße arbeiten. Erst als die österreichischen Frauen ihre Hände herzeigten und Bilder von Schafen und Kühen von ihren Höfen, war der Bann gebrochen. Beispiel für ein gegenseitiges Empowerment etwa war die Ermutigung ecuadorianischer Bäuerinnen, sich auch allein (ohne Familie) auf die Reise nach Österreich zu machen.


Frauenbegegnungsprogramm Kosovo-Österreich

Diese Reise wurde bereits in der letzten Ausgabe der Frauensolidarität von der Mitreisenden Irina Baumgartner-Willett ausführlich beschrieben. Sie fand im Rahmen des mehrjährigen, von der Austrian Development Agency (ADA) im Kosovo geförderten Projekts "Supporting, protecting and promoting the rights and interests of women and girls" statt und wurde von Südwind Niederösterreich in Zusammenarbeit mit dem Kosovarischen Frauenverband (KWN) 2013/14 als Begegnungsprogramm mit Frauen durchgeführt.

Ziel war es, einen Erfahrungsaustausch unter Frauen über politische und ökonomische Empowerment-Strategien zu ermöglichen. Für die Umsetzung wurde auf den von Traude Beer-Heigl gemeinsam mit Frauen im ländlichen Raum in Österreich entwickelten Bildungsansatz zurückgegriffen, der ausgehend vom persönlichen Alltag, den eigenen Ressourcen, über den Austausch in der Gruppe hin zu gemeinsamen Veränderungsmöglichkeiten führt.

Neben den entsprechenden Vor- und Nachbereitungen - Seminaren, Workshops, Skype-Konferenzen, Infoveranstaltungen, Berichten, Artikeln - war der Kernpunkt des Projekts der persönliche Erfahrungsaustausch zwischen Frauen aus dem Kosovo und Österreich: zuerst bei einer Reise von Kosovarinnen im Dezember 2013 nach Niederösterreich und anschließend beim Gegenbesuch einer Delegation von Frauen aus Niederösterreich in den Kosovo, um sich jeweils vor Ort über Initiativen, Institutionen, Projekte und Programme zum Empowerment von Frauen austauschen zu können.


LESETIPP:
Eigelsreiter-Jashari, Gertrude (2004):
Frauenwelten-Frauensolidarität. Reflexionen über Nord-Süd-Begegnungsreisen, Brandes & Apsel, Frankfurt am Main. Diese Publikation enthält auch einen empirischen Teil über die Ergebnisse der Begegnungsreise mit Frauen im ländlichen Raum von Österreich und Ecuador.


WEBTIPPS:

Südwind Niederösterreich:
www.suedwind-noewest.at
Kosovarischer Frauenverband:
www.womensnetwork.org


ZUR AUTORIN:
Gertrude Eigelsreiter-Jashari, Mag.a Dr.in, ist Soziologin, Geschäftsführerin von Südwind NÖ und Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien und Innsbruck. Sie lebt in Niederösterreich.

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 130, 4/2014, S. 12-13
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
Sensengasse 3, 1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org
 
Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 6,- Euro plus Porto
Jahresabo: Österreich 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juni 2015

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