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FRAUEN/716: Kindeszwangsheirat in der Türkei - eine Studie von Sare Demirer (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin

Kindeszwangsheirat in der Türkei - eine Studie von Sare Demirer

Von Milena Rampoldi, 2. März 2018


In folgenden ein Interview mit Sare Demirer, der Autorin der Studienarbeit mit dem Titel "Legitimizing Early Forced Marriages: the Case of Turkey". Mit ihr habe ich über die Zielsetzung ihrer Forschungsarbeit und die Bedeutung des Kampfes gegen die Kindeszwangsheirat in der Türkei gesprochen. Die Kindesheirat ist das größte Hindernis der weiblichen Entwicklung im Kindes- und frühen Jugendalter. Es müssen Strategien umgesetzt werden, um sich dem Phänomen zu widersetzen, und dies nicht nur in der Türkei, sondern weltweit.

Warum diese Recherche zum Thema der Kindesehe?

In dieser Studienarbeit habe ich das Ziel verfolgt, die kulturellen und sozialen Aspekte zu untersuchen, die mit den Kinderbräuten zusammenhängen, die zu einer Ehe im Kindesalter gezwungen werden. Ein weiteres Ziel dieser Studie besteht darin, aufzuzeigen, wie es in den türkischen Gesetzen (Zivil- und Strafgesetzbuch und Kindesschutzgesetz) an einer allgemeinen Definition des Begriffs "Kind" fehlt. Trotz solcher nationaler Gesetze und internationaler Vereinbarungen, die die Ehe im Kindesalter verbieten und die Kindesheirat als das Haupthindernis im Entwicklungsprozess junger Mädchen ansehen, wird die Praxis fortgesetzt. Ich hinterfrage auch das vorhandene Gesetz bezüglich des Mindestalters für die Eheschließung, das nicht den Bestimmungen des Völkerrechtes entspricht. Meine Hypothese besagt, dass die Hauptursachen der Legitimierung und Verewigung der frühzeitigen bzw. Zwangsheirat junger Mädchen auf die gesellschaftliche Struktur der Türkei, die Familie und die Religion zurückzuführen sind.

Nach welcher Definition der Kindesheirat richten Sie sich?

Kindesheirat oder Frühehe wird von UNFPA 2006 definiert als jegliche Eheschließung unter 18 Jahren, die erfolgt, bevor das Mädchen oder der Junge körperlich, physiologisch und psychologisch in der Lage sind, die Verantwortlichkeiten der Ehe und des Gebärens von Kindern zu übernehmen. Von Kindesheirat spricht man, wenn ein Ehepartner oder beide Ehepartner unter achtzehn sind. Dem Artikel 16(2) der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gilt die Kindesheirat als Verstoß gegen die Menschenrechte.

Welche Hauptursachen führen zur Verbreitung dieses Phänomens?

Die Hauptfaktoren, die die Frühehe von Mädchen in der Türkei fördern, sind u.a. Armut, einher mit gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Normen; mit dem Wert der Jungfräulichkeit und mit den Ängsten rund um sexuelle Aktivitäten außerhalb der Ehe; und mit der Einstellung der Familien in den ländlichen Gebieten der Osttürkei und gewissen städtischen Umgebungen, nach der die Eheschließung einen männlichen Schutz für die Töchter gewährleistet. Zu dieser wirtschaftlichen Überlebensstrategie gehört nicht nur die Hoffnung der Familie, dass ihre Töchter wirtschaftlich von der neuen Familie profitieren werden, sondern auch die Freude über das Brautgeld, das sie erhalten hat. Kulturelle und religiöse Traditionen sind auch verantwortlich für diese schädliche Praxis der Frühehe. Religionsführer tendieren dazu, das Phänomen zu verewigen, indem sie inoffizielle Ehezeremonien ausführen. Häusliche Gewalt und fehlende Kenntnisse über Familienplanung, reproduktive Gesundheit und Erziehungsmöglichkeiten sind einige der gesellschaftlichen Druckmittel, die die Kindesheirat fördern.

Wie ist die Situation in der Türkei?

Obwohl es kein Gesetz gibt, das die Kinderheirat in der Türkei kriminalisiert, spielt die türkische Rechtsprechung eine Rolle bei der Definition der Rechte von Frauen und Kindern und ihres Schutzes. Die Angelegenheit der Frühehe wird indirekt in den Gesetzen über Vergewaltigung und sexuellen Missbrauch angegangen. Das türkische Zivilgesetzbuch (2001) hob die Vormachtstellung der Männer in der Ehe auf und legte die vollständige Gleichheit von Männern und Frauen in der Familie fest. Das Gesetz über den Schutz der Familie und die Vorbeugung der Gewalt gegen Frauen trat im März 2012 in Kraft. Aber das Thema der Vorbeugung der Frühehe blieb ungelöst.

Welche sind die besten Strategien, um sich der Kindeszwangsheirat zu widersetzen?

Die grundlegende Strategie sollte in der Aufhebung der Diskriminierung von Frauen und in der Gleichstellung der Geschlechter bestehen. Die Diskriminierung von Frauen wirkt sich negativ auf die Frau aus, während die Gleichstellung der Geschlechter Frauen als unabhängig und gleichwertig akzeptiert. Aufmerksamkeit sollte auch dem Verstoß gegen die Menschenrechte von Frauen im Rahmen der traditionellen Rechtssysteme geschenkt werden. Zwangsfrühehen, Mehrehen und die Forderung eines Brautpreises sollten als Verstöße gegen die Menschenrechte und die staatlichen Gesetze angesehen werden. Eine ununterbrochene Erziehung unterstützt auch die Mädchen, um einer Frühehe vorzubeugen. Die NRO müssen mit den Religionsführern in den Dörfern auf Graswurzelebene zusammenarbeiten. Die Gesundheitsinstitutionen sollten die Frühehen melden und junge Mädchen über die Risiken einer Kindesschwangerschaft in Kenntnis setzen. Da es inoffizielle Eheschließungen gibt, die nicht vom örtlichen Standesamt erfasst werden, sollten die Dateien in Zusammenarbeit mit Frauenorganisationen, NRO und staatlichen Institutionen, Dorfchefs sowie örtlichen Beamten gesammelt werden. Die Diskrepanz zwischen dem Kinderschutzgesetz, dem türkischen Zivil- und Strafgesetzbuch in der Definition des Kindes sollte aufgehoben werden, um überall das Alter von 18 Jahren als gesetzliches Mindestalter für die Eheschließung in allen damit verbundenen Gesetzen festzulegen (UNFPA 2012). Ich bin persönlich der Ansicht, dass die Bemühungen von unten nach oben das Problem der viktimisierten jungen Mädchen, die verheiratet werden, bevor sie sich und ihren Körper kennenlernen, aus der Welt schaffen werden. Alle auch so unbedeutenden Bemühungen werden das Leid und die Belastung dieser jungen Mädchen in den Armen von Männern anstatt spielend auf den Straßen wie die Kinder ihres Alters lindern.

Welches persönliche Ziel verfolgen Sie mit dieser Veröffentlichung?

Ich möchte einfach erleben, dass junge Mädchen ihre eigenen Leben leben, anstatt das Leben zu erleiden, das ihnen von ihren Eltern oder von der Gesellschaft vorgeschrieben wird.


Über die Autorin

Dr. phil. Milena Rampoldi ist freie Schriftstellerin, Buchübersetzerin und Menschenrechtlerin. 1973 in Bozen geboren, hat sie nach ihrem Studium in Theologie, Pädagogik und Orientalistik ihren Doktortitel mit einer Arbeit über arabische Didaktik des Korans in Wien erhalten. Neben ihrer Tätigkeit als Sprachlehrerin und Übersetzerin beschäftigt sie sich seit Jahren mit der islamischen Geschichte und Religion aus einem politischen und humanitären Standpunkt, mit Feminismus und Menschenrechten und mit der Geschichte des Mittleren Ostens und Afrikas. Sie wurde verschiedentlich publiziert, mehrheitlich in der deutschen Sprache. Sie ist auch die treibende Kraft hinter dem Verein für interkulturellen und interreligiösen Dialog Promosaik.
www.promosaik.com


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Johanna Heuveling
E-Mail: johanna.heuveling@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. März 2018

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