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FRAUEN/758: Aufbruch (Wir Frauen)


WIR FRAUEN - Das feministische Blatt 4/2018

Aufbruch

von Melanie Stitz


Ausgerechnet aus den USA sind dieser Tage beeindruckende Aufbrüche zu vermelden: Als erste Frauen mit indigener Abstammung wurden Sharice Davids und Deb Haaland in den Kongress gewählt. Davids ist alleinerziehende Armeeveteranin, Anwältin, ehemalige Kampfsportlerin und lebt offen lesbisch. Rashida Tlaib und Ilhan Omar, ebenfalls angetreten für die Demokraten, sind die ersten muslimischen Frauen im Repräsentantenhaus. Tlaib ist Tochter palästinensischer EinwandererInnen, Omar floh aus Somalia. Mit 29 Jahren wurde Alexandria Ocasio-Cortez, Tochter von EinwandererInnen aus der Bronx, ausgestattet mit einem vergleichsweise geringen Wahlkampfbudget, als bislang jüngste Frau ins Repräsentantenhaus gewählt. Sie fordert eine allgemeine Krankenversicherung, die Abschaffung der Einwanderungsbehörde und einen Mindestlohn von 15 Dollar. Ihr Leitspruch: "Ich kann nicht das große Geld mit mehr Geld herausfordern, sondern muss es mit einem komplett anderen Spiel schlagen."

Ein anderes Spiel spielen auch Hunderttausende Schüler*innen in den USA, die sich mutig, klug und entschlossen mit der Waffenlobby anlegen. Eine Generation - geboren in den Jahren um das Massaker an der Columbine High School - erklärt zum Skandal: Erschossen zu werden ist in den USA eine der größten Gefahren für das Leben von Teenager*innen.

Im März 2018 stellte Dana Loesch, Sprecherin der National Rifle Association, ein Video online: Sie hält eine Sanduhr in der Hand. Die Zeit rinne davon. Amerikas Freiheit sei in Gefahr, denn Medien, Liberale und Hollywood-Stars wollen US-Bürger*innen ihre Waffen wegnehmen. Die Schülerin Sarah Chadwick antwortet mit einer Persiflage: "Auch wir haben eine Sanduhr" und ja: "Eure Zeit läuft ab!"

2017 wurden in den USA 15.620 Menschen erschossen. Es gab 345 "mass shootings", bis zu sechs an einem Tag. 434 Menschen kamen ums Leben, 1.801 wurden verletzt. Das Recht, eine Waffe zu besitzen, ist Ausdruck einer Kultur der Angst vor dem Nächsten, männlich kodierter Gewalt und nationaler Identität. Gewalt ist ein Wirtschaftsfaktor, ganze Branchen verdienen daran, angefangen bei Ego-Shooter-Spielen über den Waffenverkauf bis zum Geschäft mit den Straftätern in privatisierten Gefängnissen.

Die Aktivist*innen gegen Waffengewalt teilen öffentlich ihre Angst und Trauer um ermordete Freund*innen und Geschwister. Sie stellen Zusammenhänge her mit kapitalistischen, auf Gewalt basierenden Verhältnissen. Die meisten Wortführerinnen sind Teenager*innen, viele PoC, etliche offen lesbisch und assoziiert mit den Kämpfen der LGBTQ-Bewegung, für das Recht auf Abtreibung (Pro Choice) und Black Lives Matter. Sie wollen sensibilisieren und Jugendliche zum Wählen bewegen.

Emma González zum Beispiel überlebte das Schulmassaker von Parkland 2018. Ihre Rede vor 800.000 Menschen und Schweigeminuten für die Dauer des Massakers gingen um die Welt. Von einem Republikaner wurde sie als "lesbischer Skinhead" verhöhnt - "Lesbians are good", so ihre Antwort. Natalie Barden verlor 2012 ihren Bruder bei einem Amoklauf an der Sandy Hook-Schule - da war sie 10 und schrieb an Obama, er möge ein Gesetz erlassen, das nur Gesetzeshüter*innen eine Waffe erlaubt; Sportschütz*innen sollten ihre Waffe auf dem Schießplatz verwahren. Der Brief ging durch die Medien. Seitdem kämpft sie mit ihrer Familie gegen Waffengewalt. Jazmine Wildcat, 15 Jahre, ist Mitglied des Nord-Arapaho-Stammes und Botschafterin der United National Indian Tribal Youth. Sie setzt sich, mit schwerem Stand, innerhalb ihrer Community für ein Umdenken ein. Kenidra Woods fordert schon lange, selbstschädigendes Verhalten und psychische Gesundheit von Jugendlichen zum Thema zu machen - die Täter zu psychisch kranken Einzelfällen zu erklären, sei falsch und zu einfach. Nza-Ari Kephra - ihre Freundin Hadiya wurde bei einem Massaker im Park erschossen - gründete das Projekt "Orange Tree". Bei Demos und Fasten-Aktionen (in Gedenken an die Toten, die nicht mehr mit uns speisen können) tragen die Aktivist*innen Orange - die Farbe der Jäger -, aus Protest dagegen, dass der öffentliche Raum "Jagdgebiet" ist. Die Tweets von Sarah Chadwick, 16 Jahre, sind als "heftig" gefürchtet: Sie bezeichnete Trump als "verdammtes Stück Scheiße", sein Beileid wolle sie nicht. Und Kenidra Woods warnt ihre Gegner*innen: "Ihr legt Euch mit der falschen Generation an!"

Brecht schrieb einmal: "Umwälzungen finden in Sackgassen statt." Weil sich die Einsicht durchsetzt, dass es so nicht weitergehen kann, wird auch der Ruf nach Alternativen lauter. Erneut kamen Hunderte Menschen, vor allem Frauen zusammen, um auf der 3. Internationalen Konferenz in Folge, diesmal in Lund, über marxistisch-feministische Perspektiven zu diskutieren. "Transforming our lives. Transforming the world", so das Motto. Vielerorts planen feministische Bündnisse zum 8. März 2019 einen Frauenstreik, inspiriert von den Aktionen z.B. in Spanien und auch von 1994, als fast eine Million Frauen aus Ost- und Westdeutschland ein Zeichen setzten. Nicht nur in Essen und Düsseldorf (Wir Frauen ist im Soli-Bündnis dabei) errangen die Streikenden für mehr Personal im Krankenhaus Erfolge. In Bayern, Hamburg, Bremen... werden Unterschriften für Volksbegehren gesammelt - wichtige Schritte auf dem Weg zu besseren Arbeitsbedingungen, kleine Schritte hin zu einer solidarischen, bedürfnisgerechten Gesundheitsversorgung für alle...

"Hoffnung" - so lautete der Titel unserer ersten Ausgabe in 2018. Mit dieser Ausgabe zu "Aufbrüchen" schließt sich der Kreis, den wir nach 100 Jahren Novemberrevolution und 50 Jahren nach 1968 um das Thema Revolutionen gezogen haben.

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Quelle:
Wir Frauen, Jahrgang 37, Winter 4/2018, Seite 6-7
Der Schattenblick veröfffentlicht die gekürzte Online-Version des Artikels.
Herausgeberin: Wir Frauen -
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Dezember 2018

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