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INTERNATIONAL/046: Dominikanische Republik - Dominiko-Haitianer ohne Rechte (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 116, 2/11

Als ob du nicht existieren würdest
Die dominiko-haitianische Menschenrechtsaktivistin Sonia Pierre im Interview


Die Wirtschaft der Dominikanischen Republik beruht auf Tourismus, Agrarexporten und den Produktionsstätten für den Weltmarkt ("zonas francas"). Die billige und rechtlose Arbeitskraft der Dominiko-HaitianerInnen und von Menschen haitianischer Herkunft ist eine wichtige Stütze des Wirtschaftsmodells. Als Leiterin der Bewegung dominiko-haitianischer Frauen (MUDHA) sprach die preisgekrönte und gleichzeitig immer wieder bedrohte Menschenrechtsaktivistin Sonia Pierre(1) im März mit Helga Neumayer über die Herausforderungen ihrer Arbeit.


FRAUENSOLIDARITÄT: In welchen Sektoren arbeiten die dominiko-haitianischen Frauen in der Dominikanischen Republik?

SONIA PIERRE: Nun, üblicherweise arbeiten sie im informellen Sektor und in der Landwirtschaft. Sehr viele Frauen sind Straßenverkäuferinnen. Sie werden immer wieder Opfer von Erpressungen durch Beamte der Einwanderungsbehörde. Daneben arbeiten auch viele in den "zonas francas". Und dann ist da auch noch der touristische Sektor an den Stränden, wo sie alles Mögliche machen. Und sie sind ein Großteil der Hausarbeiterinnen.

FRAUENSOLIDARITÄT: Wie groß ist der Anteil der dominiko-haitianischen Bevölkerung in der Dominikanischen Republik?

SONIA PIERRE: Es gibt keine exakten Zahlen, die Zahlen stehen und fallen mit der jeweiligen politischen Lage. Gibt es eine Krise, so wird zur Ablenkung von einem "haitianischen Problem" gesprochen. In dieser Atmosphäre ist es für die jeweiligen dominikanischen Regierungen auch leichter, den Menschen ihre Rechte vorzuenthalten.

Wir machen ca. 10% der Bevölkerung aus(2), und es handelt sich um den ärmsten Teil der Gesellschaft. Die "Bateyes", die Plantagendörfer, in denen wir teilweise schon seit mehreren Generationen leben, sind kein Teil des nationalen Entwicklungsplanes, sie entbehren jeglicher Infrastruktur. Diese Gemeinden überleben dank der Aufmerksamkeit internationaler NGOs oder kirchlicher Einrichtungen.

FRAUENSOLIDARITÄT: Wie sieht die rechtliche Situation aus?

SONIA PIERRE: In unserem Fall kämpfen wir überhaupt mal für das Recht, ein Recht zu haben. Das größte Problem ist, dass uns in der Dominikanischen Republik die Aufenthaltspapiere und die StaatsbürgerInnenschaft vorenthalten werden. Ohne Papiere kannst du weder zur Schule gehen noch Eigentum erwerben oder heiraten. Ohne Papiere kannst du jederzeit deportiert werden. Du hast keinen Zugang zum Gesundheitssystem. Es ist, als ob man nicht existieren würde.

In unserem Fall trifft sich also extreme Armut mit einem extremen gesellschaftlichen Ausschluss. Das ist der Nährboden für Epidemien wie z. B. Aids. Und obwohl auf nationaler Ebene die Aids-Rate sinkt, steigt sie in den Bateyes. Denn viele Frauen sehen nur in der Prostitution eine Möglichkeit, ihre Familien zu erhalten. Die Bateyes haben sich im letzten Jahrzehnt zu einer Art Niemandsland entwickelt, es entstanden viele Bars, und man sieht dort diese riesigen Autos, deren Besitzer schnellen Sex mit Minderjährigen suchen. Die Situation wird von Mal zu Mal schlimmer.

FRAUENSOLIDARITÄT: Wo sieht MUDHA eine Chance, Menschenrechte für Frauen einzufordern?

SONIA PIERRE: Es ist sehr schwer, unsere Anliegen auf die nationale politische Agenda zu bekommen, denn es wird uns gesagt, dass unsere Probleme nicht die Probleme der Mehrheit sind. Also müssen wir internationale Allianzen suchen. Die großen internationalen Menschenrechtstribunale sind aber für uns nicht so einfach zugänglich, dennoch haben wir auch dort Fälle vorgebracht. Leider haben diese Organisationen kaum Durchsetzungsvermögen.(3) Auch bei den Handelsabkommen gäbe es Möglichkeiten, auf die Menschenrechte und auf die Einhaltung der Arbeitsrechte zu achten, denn bei uns herrschen sklavenähnliche Zustände. Meist überwiegen aber andere Interessen. Und so kommt es zu keinen korrigierenden Maßnahmen.

Ich denke schon, dass nach mehr als 15 Jahren eventuell eine weitere große Weltfrauenkonferenz helfen könnte, um herauszufinden, wo wir überhaupt stehen und inwieweit die Regierungen ihre Verpflichtungen eingehalten haben.

FRAUENSOLIDARITÄT: Danke für das Gespräch!


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Anmerkungen:

(1) Neben internationalen Menschenrechtspreisen von Amnesty International bekam Sonia Pierre 2010 von Michelle Obama und Hillary Clinton den "Women of Courage Award" überreicht. Anlässlich des 100. Internationalen Frauentages befand sich Sonia Pierre auf Einladung von WIDE (Women in Development Europe) Österreich, der Frauensolidarität, Amnesty International u.v.a. zu Besuch in Wien.

(2) Die Dominikanische Republik hat ca. 9,5 Mio. EinwohnerInnen.

(3) Gemeinsam mit anderen MenschenrechtsaktivistInnen brachte Sonia Pierre die dominikanische Regierung schon mehrmals vor den Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof im Zusammenhang mit willkürlichen Massendeportationen nach Haiti und der unrechtmäßigen Vorenthaltung von Dokumenten an Kinder.


Übersetzung aus dem Spanischen: Helga Neumayer


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 116, 2/2011, S. 27
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Sensengasse 3, 1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
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Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro;
Jahresabo: Österreich und Deutschland 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. September 2011