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INTERNATIONAL/148: Nicaragua - Der Aufstand der Alten, Senioren fordern Mindestrenten (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 28. Juni 2013

Nicaragua: Der Aufstand der Alten - Senioren fordern Mindestrenten


Bild: © Néstor Arce/IPS

Nicaraguanische Senioren blockieren Sozialversicherungsanstalt
Bild: © Néstor Arce/IPS

Managua, 28. Juni (IPS) - In Nicaragua sind Senioren zur Speerspitze sozialer Proteste geworden. Die Regierung, die die Forderungen der 'Alten' nach einer Mindestrente zunächst mit Gewalt beantwortet hatte, sieht sich nun mit einer Solidaritätsbewegung konfrontiert, die den Straßenprotesten neuen Auftrieb gegeben hat.

Nachdem es in dem zentralamerikanischen Land zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder zu massiven Demonstrationen gekommen war, zeigte sich die linksgerichtete Regierung von Staatspräsident Daniel Ortega am 25. Juni verhandlungsbereit. So sollen nun Gespräche über staatliche Beihilfen für Senioren, die keine Rente beziehen, geführt werden.

Der Vorsitzende des unabhängigen Altenverbands UNAM, Porfirio García, kündigte jedoch an, dass die "friedlichen und parteipolitisch unabhängigen Proteste" weitergehen. "Wir werden solange auf die Straße ziehen, bis wir das von uns geforderte Gesetz durchgeboxt haben", fügte Alma Mendoza hinzu, eine weitere UNAM-Anführerin.

Der Aufstand der 'viejitos', wie die Alten liebevoll genannt werden, nahm seinen Anfang am 17. Juni, als UNAM seine 15.000 Mitglieder dazu aufrief, sich vor den landesweiten Büros der Nicaraguanischen Sozialversicherungsanstalt (INSS) zu versammeln und die Wiedereinführung der Renten zu fordern, die in den 1990er Jahren auf Druck der multilateralen Finanzorganisationen eingefroren worden waren.

Wie García gegenüber IPS berichtete, war zunächst geplant, sämtliche INSS-Filialen bis zur Verabschiedung eines solchen Gesetzes zu besetzen, das den UNAM-Mitgliedern, die in ihrem Berufsleben nicht die obligatorischen 750 Wochen Rentenbeiträge eingezahlt haben, zu einer Mindestrente verhelfen soll.


Kämpfen bis zum bitteren Ende

Doch inzwischen hat sich der Protest auf die Straßen der Hauptstadt Managua verlagert. "Von hier können sie uns nicht mehr vertreiben. Entweder sie geben uns die Rente, oder wir sterben an Ort und Stelle", meinte der 72-jährige García, ein ehemaliger Tischler und fügte hinzu, dass seit dem Beginn der UNAM-Proteste 1.500 rentenlose Senioren gestorben seien.

Tausende Alte hatten am 17. Juni die Niederlassungen der INSS in den Städten Managua, Masaya, Granada, León, Chinandega, Chontales, Matagalpa und Rivas besetzt, wurden jedoch von den Angestellten und den privaten Sicherheitskräften gewaltsam vertrieben. Daraufhin beschlossen die Rentner, ihre Proteste auf die INSS-Zentrale in der nicaraguanischen Hauptstadt Managua zu beschränken. Am 18. Juni blockierten sie die Aus- und Eingänge des Gebäudes, was wiederum zu Zusammenstößen mit den Staatsbediensteten, den Security-Leuten und der anrückenden Polizei führte.

Die Polizeipräsenz sowie die Aggressivität der Staatsbediensteten und Wächter gegenüber den Alten führten in dem sechs Millionen Einwohner zählenden Land dazu, dass sich weite Teile der Bevölkerung mit den Opfern solidarisierten. Scharen junger Leute organisierten sich in den sozialen Netzwerken, um die 'viejitos' und ihr Anliegen aktiv zu unterstützen.

Universitätsstudenten, Ärzte, Künstler, Menschen- und Frauenrechtsaktivisten, Geschäftsleute, Oppositionsführer, Kirchenvertreter und andere Privatpersonen schlossen sich den UNAM-Protesten an. Sie versorgten die Senioren mit Medikamenten, Nahrungsmitteln und Wasser, bis die Polizei die Senioren mit einem Sperrgürtel isolierte.

"Sie lieferten die Demonstranten Hunger, Durst und Krankheiten aus", empörte sich Vilma Núñez, Vorsitzende des Nicaraguanischen Menschenrechtszentrums (CENIDH). Tag für Tag kam es zu Zusammenstößen zwischen UNAM-Unterstützern und den Sicherheitskräften. Mindestens zwölf junge Leute wurden festgenommen und geschlagen und etwa 30 Senioren mussten aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustands ins Krankenhaus gebracht werden. Auf Seiten der Polizei wurden sechs Personen verletzt.

In den frühen Stunden des 22. Juni überfielen dann an die 300 Mitglieder der Jugendorganisation der Sandinistenregierung, Staatsbedienstete und ehemalige Sicherheitskräfte (Polizei und Militär) den Schlafplatz von 2000 Senioren und einer mehrheitlich aus Universitätsaktivisten und Medizinstudenten bestehenden Gruppe junger Leute.

CENIDH-Vertreter, die das Geschehen beobachtet haben, berichteten von der Zerstörung der von den Studenten aus Plastikplanen errichteten Zelte zur Versorgung der Alten sowie der dort gelagerten Nahrungsmittel und Medikamente. Die Senioren und junge Leute seien angegriffen worden, den Frauen habe man mit Vergewaltigung gedroht. Außerdem seien sämtliche Wertgegenstände - Rücksäcke und sogar Fahrzeuge - gestohlen worden.


"Staatsterrorismus"

Von lokalen und internationalen Medien, Hilfsorganisationen und Kirchenverbänden wurden die Übergriffe als brutal verurteilt. Der Erzbischof von Managua, Leopoldo Brenes und andere Prälaten der katholischen Kirche bezeichneten die Räumung sogar als "Staatsterrorismus".

Der INSS-Direktor Roberto José López Gómez, ein ehemaliger Armeehauptmann im Ruhestand, erklärte in einer Fernsehansprache, dass die Sozialversicherungsanstalt nicht in der Lage sei, monatlich zwischen 50 bis 133 US-Dollar für die insgesamt 54.000 Senioren aufzubringen, die nicht ausreichend in das Rentenversicherungssystem eingezahlt haben. Insgesamt würden sich die Kosten auf 95 Millionen Dollar pro Jahr belaufen.

Doch am 23. Juni kündigte der nicaraguanische Staatspräsident die Fortsetzung der Zahlung von monatlich 43 Dollar an 8.000 Rentner an, die während ihres Berufslebens 250 bis 749 Wochen in die Rentenkassen Rentenbeiträge einbezahlt hatten. Doch UNAM zufolge wurde die Zahlung ausgesetzt. Nicaragua ist nach Haiti das zweitärmste Land Lateinamerikas. 40 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. (Ende/IPS/kb/2013)


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http://www.ipsnoticias.net/2013/06/en-nicaragua-la-protesta-social-la-encabezan-los-viejitos/

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IPS-Tagesdienst vom 28. Juni 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juli 2013