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INTERNATIONAL/191: Indien - Jeder zweite über 60 Jahre Opfer innerfamiliärer Gewalt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 7. April 2015

Indien: Jeder zweite über 60 Jahre Opfer innerfamiliärer Gewalt

von Neeta Lal



Bild: © Neeta Lal/IPS

In Indien leben derzeit mehr als 100 Millionen ältere Menschen
Bild: © Neeta Lal/IPS

Neu-Delhi, 7. April (IPS) - In Indien, das sich stets seiner engen Familienbande rühmt, zeigen sich angesichts einer zunehmenden Zahl älterer Menschen hässliche Risse im sozialen Gefüge. Unabhängig von Ort und gesellschaftlicher Schicht ist die Hälfte aller Senioren im Alter von über 60 Jahren innerfamiliärer Gewalt ausgesetzt.

Zu diesem Ergebnis kommt der neue Bericht 'State of the Elderly in India 2014' der Hilfsorganisation 'HelpAge India'. Demnach erlebt jeder fünfte nahezu täglich Formen körperlicher und seelischer Übergriffe. Gemeinsam ist den Opfern die wirtschaftliche Abhängigkeit von ihren Angehörigen.

Soziologen führen den Respektverlust gegenüber älteren Bürgern, die einst in der indischen Gesellschaft einen hohen Stellenwert einnahmen, auf den sozialen Wandel in der drittgrößten Gesellschaft Asiens zurück. Derzeit leben in Indien 100 Millionen ältere Menschen.

Veena Purohit, Gastprofessorin für Soziologie an der Jawaharlal-Nehru-Universität in Neu-Delhi, führt das Leid der älteren Menschen auf eine Vielzahl von Faktoren zurück. Zum einen seien da die sich rasch verändernden Lebensstile und Werte, zum anderen die anstrengenden Jobs, die Landflucht, eine Abkehr von der Groß- zur Kernfamilie und die Setzung neuer Prioritäten.


Älter, kränker und ärmer

In dem nach China bevölkerungsreichsten Land der Welt leben 1,25 Milliarden Menschen. In den letzten 50 Jahren hat sich die Zahl der über 60-jährigen Inder fast verdreifacht, wie offiziellen Zahlen zu entnehmen ist. Diese Entwicklung wird sich weiter fortsetzen. Experten zufolge wird der Anteil der über 60-jährigen Senioren innerhalb der indischen Bevölkerung von 7,5 Prozent im Jahre 2010 auf 11,1 Prozent 2025 ansteigen.

Bis 2050 wird Indien nach Hochrechnungen der UN-Bevölkerungsabteilung (UNPD) 48 Millionen Senioren über 80 Jahre und 324 Millionen Bürger über 60 beheimaten. Das sind mehr Menschen, als 2012 in den USA gezählt wurden.

HelpAge zufolge ist die Geschwindigkeit, mit der sich das Wachstum der Bevölkerungsgruppe der über 80-Jährigen vollzieht, mit 700 Prozent am höchsten. Dieser besondere Boom wird vor allem auf die höhere Lebenserwartung zurückgeführt. Lag sie in den 1960er Jahren in Indien noch bei 40 Jahren, sind es derzeit 68,3 Jahre.

"Der ständige Anstieg der Lebenserwartung älterer Bürger hat die Altersstruktur der indischen Bevölkerung gravierend verändert, was wiederum eine weiter alternde Bevölkerung bedeutet", meint Aabha Choudhury, Vorsitzende von 'Anurgraha', einer Non-Profit-Organisation für ältere Bürger. Dass die Nachfrage nach besonderen Betreuungsleistungen und -einrichtungen für Ältere nicht gedeckt sei, verschlimmere die ohnehin prekäre Situation.

"Die positive Entwicklung, wie sie der Staat in seinen Strategien im Umgang mit älteren Menschen versprochen hat, lässt auf sich warten. Es fehlt an adäquaten geriatrischen Betreuungsinfrastrukturen sowie dem Bewusstsein der betroffenen Altersgruppe und der Dienstleister", berichtet sie.

Ironischerweise sind trotz höherer Lebenserwartung und rapidem Wirtschaftswachstum die meisten älteren Inder arm. Keine elf Prozent verfügen über eine Rente oder andere Einkommen, wie eine nationale Untersuchung belegt. Ersparnisse sind ebenfalls gering.

Die düstere Situation stellt die Mitglieder der dritten und vierten Generation vor gravierende Herausforderungen, was Erkrankungsrate und Sterblichkeit angeht, warnt ein Bericht von 2012 mit dem Titel 'Health of the Elderly in India: Challenges of Access and Affordability'.

Laut UNPD werden 13 Prozent der älteren Inder an einer Form von Behinderung leiden, wodurch mindestens eine Aktivität des täglichen Lebens beeinträchtigt wird. So ist mehr als ein Viertel dieser Bevölkerungsgruppe untergewichtig, und fast ein Drittel leidet unter Bluthochdruck. Fast 60 Prozent leben in Armenvierteln ohne Zugang zu verbesserten Abwassersystemen.

Aufgrund ihrer spärlichen Einkommen und geringen Ersparnisse sind ältere Menschen dazu gezwungen, bis ins hohe Alter einer bezahlten Arbeit nachzugehen. Das gilt insbesondere für die Bewohner der ländlichen Gebiete, wie Haushaltsumfragen gezeigt haben. Nicht nur, dass ein Großteil der Älteren erwerbstätig ist, oft unterstützen sie ihre erwachsenen Kinder, die mit ihnen unter einem Dach leben und oftmals die elterlichen Farmen bewirtschaften.


Vom Staat vernachlässigt

Die indische Regierung investiert insbesondere in junge Menschen, damit sie ihren Beitrag zur Wirtschaft des Landes leisten. Doch ist die Unterstützung für die schwächsten Glieder der gesellschaftlichen Kette, die älteren Menschen, erschreckend gering. So zahlt der staatliche Nationale Indira-Gandhi-Pensionsfonds den Menschen über 60, die unterhalb der Armutsgrenze leben, eine Rente von gerade einmal fünf US-Dollar im Monat. Kritiker sprechen von einem beleidigend niedrigen Betrag.


Bild: © Neeta Lal/IPS

Trotz der rapiden Wirtschaftsentwicklung bleibt die Mehrheit der älteren Inder arm. Keine elf Prozent von ihnen haben eine Rente, und viele arbeiten noch bis ins hohe Alter hinein
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Finanzexperten kritisieren ferner eine unzureichende Strategie zur sozialen Sicherheit. "Inder müssen möglichst lange arbeiten, um sich selbst zu versorgen", erläutert der Vertreter der staatlich geführten Lebensversicherungsanstalt. "Versicherungen für Arbeitnehmer und Rentenfonds können lediglich von neun Prozent der auf dem Lande lebenden Männer und 41,9 Prozent der männlichen Städter, die im formellen Sektor beschäftigt sind, in Anspruch genommen werden. Mit Blick auf die Frauen sind die Zahlen noch niedriger."

Die indischen Versicherungen erreichen zudem nur einen Bruchteil der Bevölkerung. Nationale Familiengesundheitsstudien zeigen, dass gerade einmal zehn Prozent der Haushalte in Indien über ein Familienmitglied verfügen, das von einer Gesundheitsversicherung profitiert.

"Älteren muss unverzüglich eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung zuteil werden. Auch brauchen sie Rehabilitationsmöglichkeiten, kommunale oder familiäre Pflege und eine lebenslange Förderung", fordert Vinod Kumar, Mitglied der Kerngruppe zum Schutz und zur Wohlfahrt Älterer, die von der Nationalen Menschenrechtskommission im Jahr 2009 eingerichtet wurde. Außerdem müsse der Aufbau der Nationalen Kommission für ältere Bürger beschleunigt werden. Der Gesetzentwurf für die Gründung einer solchen Kommission, der die Verantwortlichkeiten des Gremiums aufführt, dümpelt im indischen Parlament vor sich hin.


Medizinisch unterversorgt

Aufgabe der Kommission wird es sein, Verstöße gegen die Rechte und Menschenrechte betagter Bürger zu ermitteln und den zuständigen Behörden entsprechende Handlungsempfehlungen vorzulegen. Die geplante Kommission soll ferner Inspektionen in Altenheimen, Haftanstalten und Untersuchungsgefängnissen vornehmen, um sicherzustellen, dass dort die Rechte älterer Menschen gewahrt werden.

Sugan Bhatia, Vizevorsitzender der Gesamtindischen Seniorenvereinigung, kritisiert, dass die indische Regierung den älteren Menschen im Land keine medizinische Versorgung zubilligt. "Selbst in Fällen, in denen wir uns selbst versichern, werden nur die Kosten für die ambulante Notversorgung gedeckt. Die Kosten für Medikamente und Ärztehonorare, die sich in den letzten drei Jahren fast verdreifacht haben, sind darin nicht enthalten."

Als Unterzeichner des Internationalen Aktionsplans von Madrid über das Altern und anderer UN-Erklärungen hat die indische Regierung 2007 das Gesetz über die Versorgung und Wohlfahrt von Eltern und älteren Bürgern erlassen. Es verpflichtet die Kinder und Nachkommen älterer Menschen dazu, ihre Eltern und älteren Angehörigen zu versorgen.

Auch wenn das generationsübergreifende Zusammenleben für viele ältere Menschen zur Tortur geworden ist, ziehen es viele vor, bei ihren Angehörigen zu bleiben. Das gilt auch für die 68-jährige Savita Devi, die trotz der Übergriffe von Seiten ihrer Kinder aus emotionalen Gründen bleiben möchte. "Als Witwe eines Armeeangehörigen erhalte ich eine ansehnliche Pension, die mir ein unabhängiges Leben gestatten würde", berichtet sie gegenüber IPS. "Doch die Liebe zu meinen beiden Enkeln, die mich vergöttern, hält mich davon ab, auszuziehen. Das ist ein Dilemma." (Ende/IPS/kb/2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/04/no-rest-for-the-elderly-in-india/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 7. April 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2015

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