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JUGEND/280: Präventionsprojekt für sozial benachteiligte Jugendliche in Nordrhein-Westfalen (pro familia)


pro familia magazin 2/2009
Deutsche Gesellschaft für Familienplanung,
Sexualpädagogik + Sexualberatung e.V.

"Was geht?"
Präventionsprojekt für sozial benachteiligte Jugendliche in NRW

Von Annelene Gäckle, Rita Kühn


Aktuelle Prognosen gehen davon aus, dass die Wirtschaftsleistung in Deutschland weiter zurückgehen wird. Die Folgen werden für den Arbeitsmarkt, die Haushalte und die Sozialversicherungen dramatisch sein. Dabei ist bereits heute in den über 30 Beratungsstellen der pro familia in Nordrhein-Westfalen überdeutlich, dass Kinder zu einem Risiko für Armut und Ausgrenzung geworden sind. Immer häufiger kommen im Beratungsalltag Fragen zur sozialen Sicherung, Zukunftsängste und Sorgen über das tägliche Auskommen von Familien, insbesondere Alleinerziehenden und ihren Kindern zur Sprache.


Die Fachkräfte der pro familia suchen mit den Betroffenen Lösungen für die dringendsten Fragen und entwickeln mit ihnen Strategien, damit Existenzsorgen in den Hintergrund treten können. Nicht selten gehört dazu die Unterstützung, Ansprüche auf Sozialleistungen zu stellen. Gute Kenntnisse der Hartz-Gesetze, insbesondere des SGB II und der dazu gehörigen umfangreichen Rechtsprechung werden in der Beratungspraxis immer wichtiger.


Strategien der pro familia NRW

Der Landesverband pro familia NRW verfolgt vor diesem Hintergrund verschiedene Handlungsstrategien. Zum einen geht es um die Sicherstellung eines qualifizierten Angebotes im Bereich der Sozialberatung. Dazu wurde unter anderem mit einem Fachanwalt für Sozialrecht vereinbart, dass er die BeraterInnen bei der Klärung der vielschichtigen Fragestellungen im sozialrechtlichen Bereich unterstützt. Darüber hinaus wird auf die Vernetzung mit anderen Institutionen und Einrichtungen gesetzt. Dies geschieht beispielsweise über die bereits langjährige Mitarbeit im Arbeitskreis "Frauen in Not" in NRW.

Darüber hinaus werden unterschiedliche Projekte und Initiativen, die sich auf den Schwerpunkt Soziale Not, Armut und Ausgrenzung beziehen, durch den Landesverband umgesetzt. Die Angebote sind auf unterschiedliche Zielgruppen und Lebenssituationen zugeschnitten.


Perspektiven entwickeln

Mit dem Projekt "Was geht?" - Sozial benachteiligte Jugendliche zwischen Familienbiographie und selbst bestimmter Lebensplanung" wird der Fokus auf den Bereich der Prävention gerichtet. Wie kann es gelingen mir Jugendlichen, die aus unterschiedlichen Gründen - wie sozialer Herkunft, schwierigen Lebensumständen oder Lernschwierigkeiten - schlechtere Startbedingungen haben, Perspektiven zu entwickeln, damit sie zukünftig nicht in eine soziale Notlage geraten?

Die pro familia Beratungsstelle Köln-Zentrum installierte das Projekt "Was geht?" im März 2007. Es erweitert das bestehende Spektrum um ein Präventionsangebot zu Schwangerschaften minderjähriger Frauen. Zielgruppe sind Jugendliche mit sozialer Benachteiligung und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten bzw. besonderem Förderbedarf im Altersspektrum von 13 bis 18 Jahren. Der besondere Schwerpunkt wird hierbei, analog der personellen Ausstattung, auf Mädchengruppen gelegt.


Der Projekthintergrund

Die Ergebnisse einer Studie der pro familia im Jahr 2006 (1) zeigten, dass die Prävention von Schwangerschaften minderjähriger Frauen neben der 'technischen' eine starke soziale Komponente hat (2) und das Phänomen der Zunahme minderjähriger Schwangerer vor allem ein Effekt zunehmender sozialer Benachteiligung ist. Hierbei fand sich der Großteil der schwangeren minderjährigen Frauen in der Altersgruppe von 15 bis 17 Jahren. Die Schulbildung hatte einen massiven Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit, minderjährig schwanger zu werden (Hauptschülerinnen waren fünf Mal häufiger betroffen als Gymnasiastinnen) und die mit einer geringen Bildung verbundene Perspektivlosigkeit erhöhten demnach das Risiko, ungewollt schwanger zu werden. Bei einer großen Mehrheit der befragten Minderjährigen schlug die Empfängnisverhütung fehl oder wurde gar nicht erst praktiziert.

Junge Frauen aus einem sozial benachteiligten Milieu leben oftmals die bestehende Familienbiographie nach und identifizieren sich aufgrund mangelnder Ausbildungs- oder Jobperspektiven mit den ihnen bekannten Vorgaben wie zum Beispiel mit dem Vater als Ernährer der Familie, und der Mutter als Hausfrau mit Kindern (3).

Um in diesem Problemfeld ein fundiertes und nachhaltiges Präventionsangebot anbieten zu können, wurde unser Projekt ins Leben gerufen.


Die Projektdurchführung

Hauptziel des Projekts "Was geht?" ist eine nachhaltige, aufsuchende sexualpädagogische Arbeit mit dem Schwerpunkt Familien- und Lebensplanung - und die intensive Beleuchtung und Reflexion der Hintergründe von Teenagerschwangerschaften mit den Jugendlichen.

Speziell der Bedeutung der psychosozialen Gründe für eine Schwangerschaft wird in der Arbeit mit Jugendlichen nachgegangen. Die Jugendlichen werden dazu in ihrer konkreten Lebenssituation angesprochen, ihre Vorstellungen von Partnerschaft, Liebe, Elternschaft und Sexualität aufgegriffen, ihre Ängste und Befürchtungen und ihre Wünsche und Erwartungen werden thematisiert. Ebenso ist die Vereinbarkeit von Schule, Ausbildung und Elternschaft ein wichtiger Diskussionspunkt - in dem auch die damit verbundenen Geschlechtsrollen hinterfragt werden.

Für eine präventiv nachhaltige Sexualpädagogik mit Jugendlichen, wird dafür insbesondere auf den Faktor Zeit geachtet. Mit den Teenagern werden, durch die Beleuchtung verschiedener 'Zeitpunkte' im Leben, wichtige Eckpunkte der Familien- und Lebensplanung herausgearbeitet.

Sie werden in dem Gefühl bestärkt, bewusst auf ihr Leben und ihre Familienwünsche Einfluss nehmen zu können, Lebensperspektiven und Familienplanungsmodelle hinterfragen und entwickeln zu können - zum Beispiel 'Für und Wider' eines Kindes, Wünsche an die Partnerschaft und die sozialen Voraussetzungen. Die Themen Fruchtbarkeit, Kinderwunsch und Familiengründung werden anschaulich 'mit Wissen und Leben gefüllt'. Für eine lebensnahe Prävention zur Vermeidung von ungewollten Schwangerschaften erfolgt zudem eine Auseinandersetzung mit möglichen Anwendungsfehlern bei der Nutzung von Verhütungsmitteln und deren Finanzierungsmöglichkeiten wie zum Beispiel die Beteiligung des Partners, Packungsgrößen, Ausschöpfen der Altersgrenze der Kostenübernahme bis 21 Jahre.

Je nach Stand der Gruppe sind die Verbesserung des Sozial- und Kommunikationsverhaltens und die Erhöhung der Trittfestigkeit in Bezug auf sexuelle Rechte und der Selbst- und Fremdwahrnehmung weitere Inhalte.


Entwicklung von Projekttagen

Mit einem breiten Fundus an methodisch-didaktischen Kenntnissen wurden auf Basis dieser Zielsetzungen Grobkonzepte für Projekttage und für Veranstaltungsreihen, die zyklisch in den Unterricht eingebettet werden können, entwickelt.

Die Inhalte sind passgenau auf die Gruppe sozial benachteiligter Jugendlicher zugeschnitten. Der Gesamtumfang der sexualpädagogischen Arbeit ist sehr viel intensiver (bezogen auf den zeitlichen Rahmen und die dadurch größere Möglichkeit, inhaltlich vielfältiger und detaillierter mir einer Gruppe zu arbeiten) angelegt. Konkret werden Veranstaltungen von mindestens vier Zeitstunden, bis hin zu regelmäßigen mehrteiligen Veranstaltungen (zum Beispiel fünf mal zwei Doppelstunden wöchentlich), vereinbart. Mit den kooperierenden Einrichtungen erfolgen Vorbereitungs- und Auswertungsgespräche, um die Einbettung des Projektthemas in den Unterricht zu gewährleisten und über behandelte Inhalte und Spezifika der Gruppe zu informieren.


Schwerpunkt: Beziehungsgestaltung

Ein Mehr an Zeit und Inhalten wie es dieses Projekt liefert, bedingt nicht automatisch, dass die Jugendlichen die in der Theorie angebotenen Möglichkeiten der Familienplanung auch in die gelebte Praxis übernehmen - oder das Gehörte in ihre Gefühlswelt übertragen können.

Daher wird einerseits auf den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Sexualpädagogin und Jugendlicher/Jugendlichem Wert gelegt, denn je mehr sich die Beratung von der "professionellen Ebene" zu persönlich bedeutsamen Themen (Prozessberatung) bewegt (4), desto mehr können auch 'kniffelige Situationen' angesprochen werden.

Andererseits werden die Jugendlichen als Expertinnen für ihr eigenes Leben und ihre Erfahrungen in der Beziehungsgestaltung auf gleicher Augenhöhe betrachtet. Im Laufe der Veranstaltungen ist in den Gruppen eine Öffnung hin zu persönlichen Darstellungen und Fragestellungen zu bemerken und auch der Bedarf an individueller sexualpädagogischer Beratung - zum Beispiel in den Pausen - steigt.


Methodisches Vorgehen

Die Methodenwahl wird durch die jeweiligen kognitiven Fähigkeiten der 13 bis 18-jährigen, die Gruppengröße, die räumliche Situation und den zeitlichen Rahmen determiniert. Sie sind der gängigen sexualpädagogischen Literatur entnommen (5) oder, insbesondere im Bereich Familienplanung, für dieses Projekt entwickelt und an die jeweilige Altersgruppe angepasst. Die gruppendynamischen Prozesse der jeweiligen Gruppe können so aufgefangen, integriert und moderiert werden.

Es finden ausschließlich Methoden Verwendung, die das Thema Familien- und Lebensplanung thematisieren, konkret und erlebbar die Verhütungsmittel und -möglichkeiten präsentieren. Methoden, die unter Achtung der Intimsphäre noch vorhandene Fragen zu Sexualität, Partnerschaft und Familien- und Lebensplanung aufdecken, offen gestaltet sind und offene Fragen beinhalten, damit verschiedene Lebenswege und Ansichten lebendig dargestellt und in einem geschützten Klima diskutiert werden können.

Natürlich ist beim Einsatz der verschiedenen Methoden die Teilnahme immer freiwillig, um keine Schwellenängste aufzubauen, die später das Besuchen einer Beratungsstelle oder einer Expertin/eines Experten erschweren könnten.


Stand des Projekts

In enger Zusammenarbeit mit den Pädagoginnen und Pädagogen der Schulen mit besonderem Förderbedarf und der Berufsförderprojekte konnten sich in dem Projekt "Was geht?" bereits viele Jugendliche intensiv mit den Themen Familien- und Lebensplanung auseinandersetzen.

Die Vereinbarkeit von Schule, Ausbildung und Elternschaft ist in den Diskussionen elementar. Die Jugendlichen können gut die Auswirkungen einer ungewollten Schwangerschaft auf das private Umfeld, die schulische Ausbildung und die individuelle Lebenszeit erfassen und daraufhin einen individuellen "optimalen Ablauf ihrer Familienplanung" entwickeln.

Das Angebot wird von den Jugendlichen gerne angenommen, wie diese O-Töne zeigen:

"Soooo viel Sex - olé"- "Jetzt will ich mit meinem Freund über unsere Zukunft reden" - "Ich habe noch nie so viel über Sexualität geredet". Im Jahr 2007 und 2008 wurden im Rahmen des Projekts "Was geht?" mit 35 verschiedenen Jugendgruppen, und damit rund 400 TeilnehmerInnen, Einzelveranstaltungen und Veranstaltungsreihen durchgeführt. In Kooperation mit verschiedenen Schulen erfolgt die längerfristige Einbindung von Projektreihen in die reguläre Schulzeit. Es gelingt damit, ein gutes Verhältnis von einmaligen Veranstaltungen von durchschnittlich 4,5 Stunden Dauer und Veranstaltungsreihen von zwei bis fünf Terminen von zwei bis vier Stunden zu erreichen.

An dem Projekt nahmen mittlerweile sechs Hauptschulen, vier Förderschulen, eine Gesamtschule, zwei Gymnasien und sieben außerschulische bildungsbegleitende Institutionen Kölns teil.

Dank der Finanzierung über verschiedene Stiftungen in Köln und der pro familia Landesgeschäftsstelle NRW kann das Projekt auch im Jahr 2009 weitergeführt werden.

Diplom Sozialpädogogin Annelene Gäckle, MA (Sexualpädagogik und Familienplanung) betreut das Projekt "Was geht?" der pro familia-Beratungsstelle in Köln-Zentrum.
Rita Kühn ist Diplom-Pädagogin, Tanz-Sozialtherapeutin, Diplom Sozialwirtin und Geschäftsführerin des pro familia-Landesverbands Nordrhein-Westfalen (NRW) e.V..


Anmerkungen:

(1) pro familia Bundesverband (2006): Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch bei minderjährigen Frauen. Teilstudie 1: Soziale Situation, Umstände der Konzeption, Schwangerschaftsausgang. Ergebnisse einer Erhebung an 1801 schwangeren Frauen unter 18 Jahren. Frankfurt a.M.

(2) Vgl. pro familia (2006). s.o., S. 24

(3) Vgl. Häussler-Sczepan et. al (2008), In: BZgA. Teenager-Schwangerschaften in Berlin und Brandenburg, S. 47

(4) Vgl. Häussler-Sczepan et al. (2005), S. 20 (5) z.B. "Die Fundgrube zur Sexualerziehung". Lothar Staeck (Hrsg.), Berlin 2002 oder "Pubertät. Zwischen Happy und Depri". Judy Hunter/Sheila Phillips, Verlag an der Ruhr, 2000 etc.


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Quelle:
pro familia magazin Nr. 02/2009, S. 20-22
Herausgeber und Redaktion:
pro familia Deutsche Gesellschaft für Familienplanung,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. März 2010