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JUGEND/313: Indien - Jungen erhalten Lektion in Respekt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 11. Dezember 2013

Indien: Jungen erhalten Lektion in Respekt

von Shai Venkatraman


Bild: © Shai Venkatraman/IPS

Asiens größter Slum Dharavi in der indischen Stadt Mumbai
Bild: © Shai Venkatraman/IPS

Mumbai, 11. Dezember (IPS) - In einer ärmlichen Hütte in Dharavi, dem größten Slum Asiens, wird ein kleines Theaterstück aufgeführt. Es zeigt, wie Jungen beim Einkauf auf dem Markt sexuell belästigt werden - von Mädchen.

Auf den indischen Straßen geschieht in der Regel genau das Gegenteil, doch die Botschaft des Rollenspiels ist bei den Teilnehmern des Theaterprojekts in der Elendssiedlung in der Stadt Mumbai angekommen. Der 16-jährige Salman Shaikh, der in dem Stück mitspielt, hat inzwischen verstanden, dass sexuelle Belästigung kein harmloser Spaß ist.

Seit der brutalen Vergewaltigung einer Studentin vor einem Jahr in einem Bus in Neu-Delhi bemühen sich unabhängige Organisationen in Indien, junge Männer zu mehr Respekt für Frauen zu erziehen.


Neue Gesetze sind nicht genug

Experten sind sich einig, dass Gesetze allein nicht ausreichen in einem Land, in dem Männer traditionell eine dominierende Rolle spielen und Frauen nach wie vor diskriminiert werden. "Gesetze zeigen nur dann Wirkung, wenn sich auch die sozialen Normen ändern", meint Rema Nandar, Gründerin der Organisation 'Jagriti Youth', die Bildungsprogramme für Jugendliche in Bihar, Uttar Pradesh und Rajasthan durchführt. Diese Bundesstaaten gehören zu den größten Indiens und sind dicht bevölkert.

Das Rollenspiel in dem Slum in Mumbai ist ein Versuch, solche Veränderungen in die Wege zu leiten. Die jungen Akteure sind Teilnehmer des Programms 'Jugendliche gewinnen an Boden', das im vergangenen Jahr von der Gesellschaft für Ernährung, Bildung und Gesundheit (SNEHA) eingeführt wurde.

"Als wir das Programm starteten, konzentrierten wir uns zunächst auf die Mädchen", berichtet die SNEHA-Programmdirektorin Garima Deveshwar Bahl. "Wir sprachen über Hygiene während der Menstruation und über Ernährung. Die Mädchen wollten aber auch über sexuelle Anmache und ihre Brüder reden, die sich nicht an der Hausarbeit beteiligen. Da wurde uns klar, dass wir auch Jungen in das Programm aufnehmen mussten."


Junge Bevölkerung

In dem Staat mit einer Bevölkerung von mehr als einer Milliarde Menschen beträgt laut einer Erhebung von 2011 das zahlenmäßige Verhältnis zwischen den Geschlechtern 943 Frauen zu 1.000 Männern. Nach dem im vergangenen Jahr veröffentlichten Bericht des Weltkinderhilfswerks UNICEF mit dem Titel 'Progress for Children: A Report Card for Adolescents' besteht die indische Bevölkerung aus 243 Millionen Jugendlichen. Der Report weist auf die Notwendigkeit hin, in diese Bevölkerungsgruppe zu investieren.

Bisher sind die meisten Bildungsprogramme für Teenager auf Themen wie Frühehen und Teenagerschwangerschaften fokussiert. Zielgruppe sind vor allem junge Frauen. Experten drängen nun aber darauf, verstärkt Jungen einzubinden. Die Vergewaltiger der Studentin in Neu-Delhi, die an den Folgen ihrer Verletzungen starb, und einer Fotojournalistin in Mumbai im vergangenen August waren im Alter zwischen 16 und 25 Jahren und Slumbewohner gewesen.

SNEHA führt ihre Projekte vor allem in Armensiedlungen wie Dharavi durch. Die Gesellschaft arbeitet mit Beratern aus diesen Slums zusammen, um Vertrauen zu schaffen. Am Anfang gehen Jungen und Mädchen in getrennte Gruppen, damit sie sich erst einmal öffnen können.

"An Jungen ist es schwerer heranzukommen, weil sie nicht gern über ihr Leben sprechen", sagt Sanjeevani Vaithi von SNEHA. Sie lebt in Dharavi und hat ein einjähriges Faszilatoren-Training absolviert. "Mädchen sind größeren Einschränkungen unterworfen und daher über jede Gelegenheit froh, in einem sicheren Umfeld miteinander in Kontakt zu treten. Jungen haben im Vergleich viel größere Freiheiten. Doch man braucht viel Zeit, bis sie einem zuhören."


Junge Männer beginnen umzudenken

Die Kurse haben bereits zu sichtbaren Ergebnissen geführt. "Ich belästige keine Mädchen mehr", meint der 16-jährige Haseem Khan, der sich seit Anfang des Jahres an dem Programm beteiligt. "Und wenn ich jemanden sehe, der so etwas tut, stelle ich ihn zur Rede." Auch innerhalb der Familien bewegt sich etwas. "Früher wollte ich nie meiner Mutter im Haushalt helfen", bekennt der 18-jährige Saddam Hussain. "Jetzt sehe ich, wie viel sie zu tun hat und packe mit an."

Der Bericht, den SNEHA ein halbes Jahr nach dem Programmstart veröffentlicht hat, gibt Anlass zur Hoffnung. Mehr als 70 Prozent der befragten Jungen und Mädchen waren sich einig, dass beide Geschlechter dieselben Freiheiten genießen sollten. Das bedeutet einen Anstieg um mehr als 20 Prozent. Wenn es um sexuelle Belästigung geht, sind allerdings weniger große Fortschritte zu erkennen. Die Experten fordern deshalb, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter auch an den Schulen gezielt zu Sprache kommt.

Der öffentliche Aufschrei, den die brutale Vergewaltigung der Studentin ausgelöst hatte, und die fortgesetzte mediale Auseinandersetzung mit dem Thema der geschlechtsspezifischen Gewalt hat die Regierung Anfang 2013 zur Verschärfung der Strafen für Vergewaltiger gezwungen. Täter müssen nun mit lebenslanger Haft oder gar der Todesstrafe rechnen. Auch Verbrechen wie Säureattacken, Stalking und Voyeurismus werden strenger geahndet. (Ende/IPS/ck/2013)


Links:

http://www.jagritiyouth.org/
http://www.SNEHAmumbai.org/
http://www.unicef.org/publications/index_62280.html
http://www.ipsnews.net/2013/12/indian-boys-get-lessons-respect/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 11. Dezember 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Dezember 2013