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JUGEND/317: Prävention von Delinquenz - Je früher, desto besser? (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 2/2014 - Nr. 106

Prävention von Delinquenz: Je früher, desto besser?

Von Sabrina Hoops und Bernd Holthusen



Wenn Kinder oder Jugendliche im Zusammenhang mit einer Straftat auffällig werden, kann dies ein Hinweis auf eine Gefährdung ihrer Entwicklung sein. Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe ist es, sie davor zu schützen. Die Konzepte zur Prävention von Delinquenz sind in den letzten Jahrzehnten ausgereifter geworden - es gibt aber noch Weiterentwicklungsbedarf.


Dass Kinder und Jugendliche im Prozess ihres Aufwachsens Grenzen überschreiten und dabei auch durch gesetzwidriges Handeln, zum Beispiel Ladendiebstahl oder Sachbeschädigung, auffallen können, ist bekannt. Diese Formen der "geringfügigen Delinquenz" gelten als episodenhaftes und weit verbreitetes Phänomen. Wenn zeitnah und altersgerecht - vor allem in der Familie - eine Reaktion erfolgt, ist bei diesen Kindern und Jugendlichen keine grundlegende Gefährdung ihrer altersgerechten Entwicklung zu erwarten. Dann müssen auch keine weiteren institutionellen Reaktionen erfolgen. Wenn sich jedoch die Straftaten häufen oder auch nach dem Eintritt in das Strafmündigkeitsalter mit 14 Jahren fortbestehen beziehungsweise besonders gravierend sind, erfährt dies - dann unter der Überschrift "Jugendkriminalität" - häufig eine große öffentliche und politische Aufmerksamkeit. Das Handeln der Eltern, aber auch der zuständigen Institutionen wie Polizei, Justiz und Kinder- und Jugendhilfe sowie deren kriminalpräventive Ansätze, werden kritisch hinterfragt. Vor allem schwerwiegende Gewalttaten Jugendlicher sind es dann, die die Schlagzeilen beherrschen, verbunden mit der Frage: Was tun?

In den letzten 20 Jahren wurden die Strategien im Umgang mit Delinquenz im Kindes- und Jugendalter ausgebaut. Vor allem die früh einsetzenden Präventionsstrategien wurden verstärkt und es wurde immer mehr auch auf pädagogische Angebote gesetzt. Die Kinder- und Jugendhilfe hat hier als zentraler Akteur, aber auch als wichtiger Kooperationspartner in der Präventionsarbeit, an Bedeutung gewonnen. Diese Entwicklung wird von der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention des Deutschen Jugendinstituts (DJI), die seit 1997 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördert wird, begleitet: Das in München ansässige Team informiert und berät Praxis, Politik, Medien und Forschung über Konzepte und Handlungsstrategien in diesem Bereich.

Die Delinquenzprävention in der Kinder- und Jugendhilfe hat sich vor allem in zeitlich befristeten Projekten und in Regelangeboten der Kinder- und Jugendhilfe etabliert. Dabei entstanden vielfältige Ansätze und Konzepte auf Basis des Achten Sozialgesetzbuches (SGB VIII). Grundlegende Aufgabe des SGB VIII ist es, gute Bedingungen für die Entwicklung aller Kinder und Jugendlichen zu schaffen und Gefährdungen abzuwenden. Damit richtet sich die Kinder- und Jugendhilfe sowohl an junge Menschen, die mit delinquentem Handeln aufgefallen sind, als auch an Jugendliche, die gefährdet sind, eine kriminelle Entwicklung zu nehmen. Ziel ist es, Delinquenz bei jungen Menschen zu verhindern und dadurch den jungen Menschen zugleich vor möglichen Gefährdungen zu schützen, die sowohl aus dem delinquenten Verhalten selbst als auch aus den (institutionellen) Reaktionen darauf entstehen können.


Die Kinder- und Jugendhilfe ist bei der Prävention von Delinquenz gut aufgestellt

Die Möglichkeiten der Kinder- und Jugendhilfe reichen in unterschiedlichen Settings (von der Jugendarbeit über die Hilfen zur Erziehung bis hin zu den Jugendhilfen im Strafverfahren) von der individuellen Förderung bis zu spezifischen Formen der Unterstützung und Intervention. Deren Ausgestaltung ist eng verbunden mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen: In den 1990er-Jahren etwa stiegen die Zahlen in der Polizeilichen Kriminalstatistik zu strafunmündigen Kindern stark an. Gleichzeitig fand ein regelrechter Boom bei der sozialen Gruppenarbeit für strafunmündige Kinder statt. Ebenso führte die Diskussion über jugendliche Gewalt zu einer raschen Verbreitung und Diversifizierung von Anti-Aggressivitäts-Trainings (AAT), die ursprünglich für den Strafvollzug entwickelt worden waren. Zunehmend wurden besondere Zielgruppen identifiziert und adressiert, zum Beispiel Aussiedlerjugendliche oder gewalttätige Mädchen.

Nach der Jahrtausendwende kamen neue Probleme auf die Agenda, zum Beispiel "Amokläufe/Schoolshootings", auf die Antworten gesucht wurden. Zugleich entwickelte sich die frühe Prävention zu einem eigenen Themenfeld, das sich immer jüngeren Zielgruppen und deren Eltern zuwendet. Momentan stehen Themen wie "neue Medien" und "Cybermobbing", also Mobbing im Internet etwa in sozialen Netzwerken wie Facebook, sowie jugendliche "Intensivtäter" im Fokus. Sie werden immer wieder - ebenso wie das Thema "Freiheitsentziehende Maßnahmen" - kontrovers diskutiert.

Insgesamt ist die Kinder- und Jugendhilfe heute im Kontext der Prävention von Delinquenz gut aufgestellt, insbesondere hinsichtlich der Ausdifferenzierung ihrer Strategien (Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention 2007). Wichtig ist nun jedoch, die Angebotsstruktur, die häufig projektförmig und damit zeitlich befristet finanziert ist, dauerhaft sicherzustellen und auch in der Fläche auszubauen, sodass je nach örtlichem Bedarf die notwendigen Ansätze als Regelangebote für alle Kinder und Jugendlichen zur Verfügung stehen.

Trotz dieser insgesamt positiven Bilanz der letzten Jahrzehnte steht die Prävention von Delinquenz im Kindes- und Jugendalter vor einer Reihe von fachpolitischen, themenspezifischen und strukturellen Entwicklungsaufgaben (siehe unter anderem die Beiträge im Themenheft 1/2012 der Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe - ZJJ). Unter einer fachpolitischen Perspektive ist die Verwendung des Präventionsbegriffs bedenklich. Er hat in immer mehr Konzepten, Programmen und Titeln Einzug gehalten und wird oft wenig reflektiert, geradezu inflationär verwendet. Mit dem Label "Prävention" wird inzwischen fast alles versehen, was die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen fördert, und damit vielleicht auch - aber nicht vorrangig - delinquenzpräventive Effekte hat oder haben könnte. Ein Beispiel dafür sind etwa die Unterstützung von minderjährigen Schwangeren oder Sprachkurse für Kinder mit Migrationshintergrund in Kindertageseinrichtungen.

Übersehen wird dabei häufig, dass durch die Verwendung des Etiketts "Kriminalitätsprävention" immer auch eine negative Zuschreibung mitschwingt: Den Zielgruppen von gewaltpräventiven Angeboten etwa wird zumindest mittelbar ein potenziell gewalttätiges Verhalten unterstellt. Damit ist unvermeidlich das Risiko einer Stigmatisierung verknüpft, das wiederum genau jenes Verhalten bei Kindern und Jugendlichen auslösen kann, das vermieden werden soll. Die Gewaltprävention hätte dann nicht den gewünschten, sondern einen gegenteiligen Effekt.

Hinzu kommt: Seit einigen Jahren gibt es eine Tendenz zur Vorverlagerung der Präventionsstrategien. Immer jüngere Altersgruppen und im Grunde unproblematischere Verhaltensweisen geraten in den Fokus der "Prävention". Die dahinterliegende Grundannahme lautet: "Je früher, desto besser". Auch in dieser Entwicklung liegt das Risiko der Ausweitung einer (Kriminalitäts-) Prävention, die sich dadurch kennzeichnet, dass sie immer unspezifischer wird und damit auch weniger zielführende Effekte zeigt.


Neue Viktimisierungs- und Kriminalisierungsrisiken für Jugendliche

Themenspezifische Herausforderungen finden sich vor allem beim Ausbau von zielgruppenbezogenen Ansätzen: Der Zugang zu spezifischen Personengruppen (zum Beispiel zu Menschen mit Migrationshintergrund) ist oft schwierig. Das kann dazu führen, dass diese Gruppen ein höheres Risiko haben, kriminell zu werden. Erheblicher Bedarf kann auch im Hinblick auf (potenzielle) Opfer festgestellt werden. Dies betrifft zumeist - aber nicht ausschließlich - männliche Opfer von Gewalt. Zwar ist der "Täter-Opfer-Statuswechsel" der besagt, dass junge Menschen zum Beispiel bei körperlicher Gewalt häufig nicht nur Täter, sondern gleichzeitig auch Opfer sind, in kriminologischen Studien beschrieben. Dies wird aber im Alltag der Jugendhilfe noch zu wenig berücksichtigt.

Ebenso sollten Risiken weiter untersucht werden, die sich im Zusammenhang mit der verstärkten Mediatisierung jugendlicher Lebenswelten neu entwickeln: Durch neue Medien wie zum Beispiel soziale Netzwerke entstehen neue Gefahren für junge Menschen, zum Täter oder zum Opfer zu werden (zum Beispiel durch Cybermobbing; Willems 2013). Potenzial besteht zudem bei der Weiterentwicklung von Angeboten, die sich an suchtgefährdete delinquente junge Menschen richten, sowie von Präventionsansätzen, die die Rolle des Geschlechts berücksichtigen. Zwar gibt es Angebote nur für Jungen oder nur für Mädchen, eine Reflexion über Geschlechterstereotype findet aber häufig nicht statt und wird auch nicht in das pädagogische Konzept eingebunden. Neue Angebote werden auch für sexuell grenzverletzende Jugendliche gebraucht.

Auch auf struktureller Ebene zeichnen sich Herausforderungen ab: Als Regeldienst und an der Schnittstelle zur Polizei und Justiz spielt die Jugendhilfe im Strafverfahren und in der Jugendgerichtshilfe eine zentrale Rolle. Wenn im Jugendstrafverfahren unpassende Maßnahmen oder Auflagen verhängt werden, besteht ein hohes Risiko, dass diese nicht erfüllt oder abgebrochen werden. Das kann zur Folge haben, dass es zur weiteren Eskalation kommt, bis hin zum Freiheitsentzug (beispielsweise in Form von Ungehorsamsarrest), der eigentlich unbedingt vermieden werden sollte. Daraus lassen sich drei Folgerungen ableiten: Erstens müssen die notwendigen Ressourcen dafür vorhanden sein, um mit den Jugendlichen abgestimmt einen passenden Sanktionsvorschlag zu finden. Zweitens muss dieses Angebot wohnortnah und zeitnah verfügbar sein. Und drittens muss das Zusammenwirken von Kinder- und Jugendhilfe, Schule, Polizei, Justiz und weiteren Akteuren (zum Beispiel aus dem Gesundheitswesen) mit ihren unterschiedlichen gesellschaftlichen Aufträgen verbessert werden.

Die Frage nach der Wirkung von Delinquenzprävention wirft eine Reihe noch ungeklärter Fragen auf: Das Thema Evaluation ist eine seit Jahren immer wieder formulierte Forderung. Sowohl aus fachlichen als auch aus Kostengründen wächst der Legitimationsdruck, positive Effekte von Prävention nachzuweisen. Dies stellt die Evaluationspraxis jedoch insbesondere in der wenig formalisierten pädagogischen Praxis der Kinder- und Jugendhilfe vor bisher kaum gelöste Probleme: Wie können beobachtete Effekte verlässlich als Folge einer pädagogischen Intervention interpretiert werden? Inwieweit können funktionierende Modelle in andere Bereiche übertragen werden? Hier bedarf es einer (Weiter-)Entwicklung von Evaluationsinstrumentarien sowie der notwendigen Ressourcen für Evaluation, um so Wissen für die fachliche Weiterentwicklung zu generieren.

Es gilt für die Kinder- und Jugendhilfe, sich diesen Herausforderungen zu stellen und die Prävention von Delinquenz im Kindes- und Jugendalter konsequent fachlich weiterzuentwickeln. Damit wird auch ein Beitrag dazu geleistet, junge Menschen vor Gefährdungen ihrer Entwicklung zu schützen.


DIE AUTORIN, DER AUTOR

Dr. Sabrina Hoops ist seit 1998 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung "Jugend und Jugendhilfe" am Deutschen Jugendinstitut. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind abweichendes Verhalten, erzieherische Hilfen und Prävention.
Kontakt: hoops@dji.de

Bernd Holthusen ist seit 1997 in der Abteilung "Jugend und Jugendhilfe" am Deutschen Jugendinstitut angestellt. Seine Arbeitsschwerpunkte sind abweichendes Verhalten, Kooperation, mehrfachauffällige Jugendliche und Evaluation. Seit 2013 leitet er die Fachgruppe "Angebote und Adressaten der Kinder- und Jugendhilfe".
Kontakt: holthusen@dji.de


LITERATUR

- Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention (Hrsg.; 2007):
Strategien der Gewaltprävention im Kindes- und Jugendalter. Eine Zwischenbilanz in sechs Handlungsfeldern. München

- Willems, Diana (2013):
Neue Kriminalisierungsrisiken. Zur Bedeutung des Internets für die Kriminalitätsprävention. In: forum kriminalprävention, Heft 3, S. 3-8


INTERNET

www.dji.de/jugendkriminalitaet


DJI Impulse 2/2014 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2014 -
Nr. 106, S. 19-21
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
Nockherstraße 2, 81541 München
Telefon: 089/623 06-140, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: info@dji.de
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DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juli 2014