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JUGEND/321: Strategien des Kinderschutzes (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 2/2014 - Nr. 106

Strategien des Kinderschutzes

Von Regine Derr und Beate Galm



Kinder müssen vor Gewalt in der Erziehung geschützt werden. Welche Strategien in Europa als erfolgversprechend gelten und welche Unterschiede zwischen verschiedenen europäischen Ländern bestehen, hat das Deutsche Jugendinstitut untersucht.


Welche Strategien sind erfolgversprechend, um Kindesmisshandlung und -vernachlässigung vorzubeugen und betroffene Kinder und ihre Familien bestmöglich zu unterstützen? Dieser Frage ging das Deutsche Jugendinstitut (DJI) zusammen mit Partnern aus vier europäischen Ländern im Projekt "Prevent and Combat Child Abuse: What Works?" nach (siehe Kasten). Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verglichen dabei die Kinderschutzsysteme der Niederlande, Portugals, Schwedens, Ungarns und Deutschlands. In diesem Artikel werden exemplarische Ergebnisse der Gesamtstudie vorgestellt.

In allen fünf untersuchten Ländern ist die Anwendung von Gewalt in der Erziehung gesetzlich verboten. Schweden war das erste dieser Länder, das ein solches Gesetz bereits 1979 erließ. Deutlich später folgten Deutschland im Jahr 2000, Ungarn 2005, die Niederlande und Portugal im Jahr 2007. Es bestehen jedoch große Unterschiede bei der Umsetzung dieses Verbots. In Ungarn gab es bislang keinerlei Öffentlichkeitskampagne oder Fortbildungsinitiative, um Erwachsene, Kinder und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bereich des Kinderschutzes zu informieren und dafür zu sorgen, dass dieses Gesetz auch tatsächlich befolgt wird. Schweden dagegen hat seit den 1970er-Jahren verschiedene Maßnahmen ergriffen, die dazu geführt haben, dass die Akzeptanz von Gewalt in der Erziehung sinkt. Diese Tendenz zeigt sich auch in Deutschland - Forschungsergebnisse lassen darauf schließen, dass Gesetze eine gewaltfreie Erziehung fördern (Bussmann/Erthal/Schroth 2008).

In Schweden ist die Ächtung von Gewalt in der Erziehung tief in der öffentlichen Meinung verwurzelt. In den Elterninterviews zeigte sich, dass die gesellschaftliche Ablehnung von Erziehungsgewalt dazu führt, dass Eltern, die ihre Kinder misshandelt haben, große Scham empfinden. Sie versuchen, das Geschehene vor ihrem Umfeld zu verbergen, was zu sozialer Isolation führen kann (Neander/Angman 2012). In Ungarn hingegen ist die Anwendung körperlicher und insbesondere seelischer Gewalt in der Erziehung gesellschaftlich weitgehend akzeptiert. Der Verwirklichung von Kinderrechten wird wenig Bedeutung zugemessen, da andere Probleme als wichtiger betrachtet werden. Hinzu kommt die Überzeugung, dass Kinder zuerst ihre Pflichten kennen und erfüllen sollten, bevor sie ihre Rechte verdienen. Der Mangel an Hilfeangeboten und die fehlende Tradition, Hilfe zu suchen und anzunehmen, verhindern oft, dass betroffene Kinder und ihre Familien eine adäquate Unterstützung erhalten (Herczog/Komuves/Berta 2012). In den Niederlanden gilt es als Tabu, einen Verdacht auf Kindesmisshandlung oder -vernachlässigung zu äußern oder gar zu melden. Dieses Denken basiert auf einer Norm, nach der das Handeln anderer nicht öffentlich verurteilt werden soll. Informationen an die Behörden betreffen vor allem körperliche Misshandlung, während seelische Misshandlung in den Niederlanden wenig beachtet wird (Lammerts 2012).


Die meisten Eltern wollen gewaltfrei erziehen

Portugiesische Eltern zeigten in einer Befragung eine mehrheitliche Ablehnung von Gewalt in der Erziehung als Mittel der Disziplinierung (Überblick in Perista/Silva 2011). Die in der DJI-Studie interviewten Eltern relativierten oder legitimierten Gewalt und Vernachlässigung hingegen häufig (Perista/Silva 2012). In Deutschland sprechen repräsentative Studien dafür, dass die Mehrheit der Eltern - mit abnehmender Tendenz - zumindest leichtere Formen der körperlichen Bestrafung anwendet. Die meisten Eltern wollen die Kinder aber gewaltfrei erziehen (Überblick in Galm/Derr 2011). Die befragten Eltern kritisierten, dass manchen Bevölkerungsgruppen, etwa Sinti und Roma oder sozial benachteiligte Familien, zugeschrieben werde, besondere Schwierigkeiten bei der Erziehung ihrer Kinder zu haben. Einige Eltern berichteten von Diskriminierungs- und Stigmatisierungserfahrungen in Schulen und Behörden wegen ihres familiären, sozialen oder kulturellen Hintergrunds.

Trotz der unterschiedlichen Ausrichtung und Gestaltung der Kinderschutzsysteme wurden in den Interviews mit Eltern und Fachkräften länderübergreifend einige Aspekte deutlich, die den Hilfeprozess fördern oder behindern können. Die befragten Eltern skizzierten insgesamt ein anspruchsvolles Kompetenzprofil für Fachkräfte: Sie sollen vertrauenswürdig, wertschätzend, empathisch, unterstützend, offen und ehrlich sein, zudem belastbar, konfliktfähig und beharrlich. Die Interviews legen nahe, dass Eltern eine tragfähige Hilfebeziehung als Basis für einen erfolgreichen Hilfeprozess sehen. Ist das nicht der Fall, fällt es Eltern schwer, Hilfe zu akzeptieren, mit den Fachkräften konstruktiv zusammenzuarbeiten und dadurch Probleme erfolgreich zu bewältigen. Dabei spielt auch die persönliche Beziehung zwischen Fachkräften und Eltern eine Rolle (Galm/Derr 2014).

Deutliche Unterschiede zeigen sich in den untersuchten Ländern bei der Transparenz und bei der Beteiligung von Familien im Hilfeprozess. In Schweden etwa haben sowohl das Parlament als auch der Zusammenschluss der Regionen und lokalen Behörden der Beteiligung der betroffenen Eltern und Kinder Priorität eingeräumt (Neander/Angman 2012). Was jedoch die Umsetzung angeht, berichten Eltern aus allen Ländern von Defiziten. Eine Mutter aus Ungarn formuliert: "Ich fragte die Sozialarbeiterin, was sie vorhätte, aber ich habe nie eine Antwort bekommen. Sie wollte, dass wir die Papiere unterschreiben, ohne sie zu lesen und zu verstehen" (Herczog 2011, S. 20). Eltern aller untersuchten Länder betrachten eine Hilfe als erfolgreich, wenn sie sie als Hilfe zur Selbsthilfe erlebten. Dies gilt für alle Lebensbereiche wie den Umgang mit Institutionen, die Haushaltsführung, die Pflege und Erziehung von Kindern oder die Entwicklung beruflicher Perspektiven und gesellschaftlicher Teilhabe.


Die Strategie des Kinderschutzes ist klar - die Umsetzung aber komplex

In der Studie wurden bestimmte länderübergreifende Strategien identifiziert, die dazu beitragen, Kinder und Jugendliche vor Misshandlung und Vernachlässigung zu schützen. Fundiertes Handeln setzt eine gute Aus- und Weiterbildung sowie Fortbildungen etwa zur Gefährdungseinschätzung voraus, aber auch Supervision. Darüber hinaus helfen durchdachte Kommunikations- und Vernetzungsstrukturen sowie Leitlinien, da sie zur Handlungssicherheit beitragen. Zudem sind gute Rahmenbedingungen wichtig, etwa angemessene Arbeitsbedingungen der Fachkräfte sowie eine gute Bezahlung. Hilfen für Familien mit einem deutlich erhöhten Risiko für eine Kindeswohlgefährdung sollten ressourcen- und bedarfsgerecht, umfassend, intensiv und längerfristig angelegt sein. Familien mit komplexen Problemen in verschiedenen Bereichen profitieren von einem integrierten Hilfeansatz, bei dem Fachkräfte verschiedener Disziplinen und Bereiche miteinander kooperieren.

In der Umsetzung dieser Strategien sehen die Forscherinnen und Forscher aus den jeweiligen Ländern teilweise enorme Defizite. Die Kritik bezieht sich dabei weniger auf die Hilfesysteme selbst als vielmehr auf ihre konkrete Ausgestaltung. Über die beschriebenen Tendenzen hinaus ist ein seriöser Vergleich des Erfolgs nationaler Strategien im Kinderschutz im Rahmen der Studie nicht möglich. Dafür erweisen sich die Systeme als zu komplex und zu unterschiedlich. Einig sind sich die Länder auch darin, dass noch erheblicher Forschungsbedarf besteht, etwa hinsichtlich der Wirksamkeit von Interventionen.


Kasten
 
DAS PROJEKT

Im Projekt "Prevent and Combat Child Abuse: What Works? An Overview of Regional Approaches, Exchange and Research" untersuchte das Deutsche Jugendinstitut (DJI) zusammen mit Partnern aus vier europäischen Ländern die Kinderschutzsysteme der Niederlande, Portugals, Schwedens, Ungarns und Deutschlands. Sie analysierten grundlegende Kriterien wie die rechtlichen Grundlagen, die politischen Programme und die präventiven Maßnahmen. Darüber hinaus gingen sie der Frage nach, wie die verschiedenen Staaten bei vermuteter Kindesmisshandlung und -vernachlässigung vorgehen und welche Hilfeangebote betroffene Kinder, Jugendliche und deren Eltern nutzen können. Zudem erforschten sie, wie die Kooperation verschiedener Akteure im Kinderschutz aussieht und wie die Fachkräfte im Bereich des Kinderschutzes aus- und fortgebildet werden. Der zweite Teil der Studie beinhaltet die Perspektive von Eltern und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus dem Bereich des Kinderschutzes. Dahinter steht der Anspruch, besser zu verstehen, wie der Kinderschutz in der Praxis funktioniert. Die Forscherinnen und Forscher befragten dafür Eltern, die ein Hilfeangebot zur Prävention von Misshandlung oder Vernachlässigung in Anspruch genommen hatten, und Fachkräfte, die mit betroffenen Kindern und ihren Eltern arbeiten.
www.dji.de/index.php?id=1409


DIE AUTORINNEN

Regine Derr, Dipl.-Soziologin, ist wissenschaftliche Referentin im "Informationszentrum Kindesmisshandlung/Kindesvernachlässigung" der Abteilung "Familie und Familienpolitik" und erforscht Wirkungen des Bundeskinderschutzgesetzes im gleichnamigen Projekt der Abteilung "Jugend und Jugendhilfe" am Deutschen Jugendinstitut.
Kontakt: derr@dji.de

Prof. Dr. Beate Galm ist Professorin an der Internationalen Berufsakademie in Heidelberg. Sie lehrt im Studiengang Sozialpädagogik und Management, ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Zuvor war sie langjährige wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Jugendinstitut zum Schwerpunkt Kinderschutz.
Kontakt: b.galm@fuu.de


LITERATUR

Bussmann, Kai-D./Erthal, Claudia/Schroth, Andreas (2008):
Wirkung von Körperstrafenverboten. Erste Ergebnisse der europäischen Vergleichsstudie zu den "Auswirkungen eines gesetzlichen Verbots von Gewalt in der Erziehung". Recht der Jugend und des Bildungswesens, Heft 4, S. 404-422

Galm, Beate/Derr, Regine (2011):
Combating child abuse and neglect. Child protection in Germany. National Report. München: Deutsches Jugendinstitut

Galm, Beate/Derr, Regine (2014):
Kinderschutz aus der Perspektive von Eltern und Fachkräften. Ergebnisse des EU-Forschungsprojekts "Prevent and combat child abuse: what works? An overview of regional approaches, exchange and research". München: Deutsches Jugendinstitut

Herczog, Maria (2011):
Country report on child abuse and neglect in Hungary. Budapest. Family Child Youth Association

Herczog, Maria/Komuves, Agnes/Berta, Ferenc (2012):
Daphne: preventing and combating child abuse and neglect. Hungarian national report on work stream 2. Unveröffentlichter Aufsatz

Lammerts, Rob (2012):
Preventing and combating child abuse and neglect. National report workstream 2: The Netherlands. Experiences of parents and professionals: what works? Utrecht: Verwey-Jonker Institute

Neander, Kerstin/Angman, Ingmar (2012):
Swedish national report workstream 2. Unveröffentlichter Aufsatz

Perista, Pedro/Silva, Mário Jorge (2011):
Combating child abuse in Portugal. Lissabon: Centre for Studies on Social Interventions

Perista, Pedro/Silva, Mário Jorge (2012):
Prevention and combat of child abuse and neglect. Workstream 2. Report for Portugal. Unveröffentlichter Aufsatz


DJI Impulse 2/2014 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 2/2014
- Nr. 106, S. 13-15
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
Nockherstraße 2, 81541 München
Telefon: 089/623 06-140, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: info@dji.de
Internet: www.dji.de
 
DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. August 2014