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JUGEND/323: Libanon - Wie Jugendliche in Tripoli mit der Gewalt leben (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 12. Januar 2015

Libanon:
Videospiele im Kugelhagel - Wie Jugendliche in Tripoli mit der Gewalt leben

von Oriol Andrés Gallart


Bild: © Oriol Andrés Gallart/IPS

Plakat mit Bild eines jungen Mannes, der bei Auseinandersetzungen in Tripoli getötet wurde
Bild: © Oriol Andrés Gallart/IPS

Tripoli, Libanon, 12. Januar (IPS) - "Menschen gewöhnen sich an Krieg. Auch bei den letzten Kämpfen kamen Kinder, um am Computer zu spielen. Das muss man sich mal vorstellen: Ein siebenjähriger Junge, der nur wegen eines Videospiels durch den Kugelhagel rennt", sagt Mohammad Darwish, Eigentümer eines Internetcafés in einer Hauptstraße von Bab Al-Tabbaneh, einem Viertel der nordlibanesischen Stadt Tripoli.

Für seine jungen Kunden sei der Konflikt zur Normalität geworden. Sie rechneten gar nicht mehr mit einem dauerhaften Frieden, sagt Darwish. Die vergangenen sechs Jahre hätten sie gelehrt, dass es auf kurz oder lang wieder knallen werde. Daran erinnern auch die vielen stummen Zeugen - die zerschossenen Gebäude - in dem Stadtteil.

Zuletzt hatten sich im Oktober 2014 Armee und lokale sunnitische Milizionäre bekämpft. Das öffentliche Leben in Tripoli kam drei Tage lang zum Erliegen, Teile der historischen Altstadt wurden zerstört und mindestens acht Zivilisten, elf Soldaten und 22 Kämpfer getötet. Tabbaneh steht seither unter Militärkontrolle. An jeder Straßenecke sind Soldaten und Panzer abgestellt.

An Häusern und Ladenfassaden wehen jedoch Fahnen mit dem Emblem der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). "Ich unterstütze den IS und die mit dem Terrornetzwerk Al Qaeda verbündete Gruppe 'Jabhat Al-Nusra' (JN)", so der 19-jährige Hassan. Die Miliz werde dafür sorgen, dass er endlich Arbeit finde, friedlich nach den Grundsätzen des Islams leben könne und die Möglichkeit habe, sich frei zu bewegen.

Tabbaneh ist wahrscheinlich das gefährlichste Pflaster, auf dem man in Tripoli aufwachsen kann. Versäumnisse mehrerer Regierungen haben dazu geführt, dass in der vorwiegend von Sunniten bewohnten zweitgrößten Stadt des Libanons, etwa 80 Kilometer nördlich von Beirut gelegen, ein alarmierend hoher Anteil von Menschen in Armut lebt, keine Arbeit hat und sozial ausgegrenzt wird.


Zwei Viertel bekämpfen sich

Wie aus einer 2012 veröffentlichten Studie der Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien (ESCWA) hervorgeht, sind 76 Prozent der Bevölkerung Tabbanehs arm. Ein weiteres Problem ist, dass in erzkonservativen Gesellschaft religiöse Gewalt geschürt wird. Infolgedessen kommt es regelmäßig zu Zusammenstößen, vor allem zwischen den Bewohnern der Stadtteile Tabbaneh und Jabal Mohsen, die nur eine Straße voneinander getrennt sind.

Während in Tabbaneh in erster Linie Sunniten leben, sind die meisten Menschen in Jabal Mohsen, wie die Familie des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad, Alawiten. Den größten Rebellengruppen in Syrien gehören dagegen Sunniten an.

Die Wurzeln für die religiös motivierte Gewalt reichen bis in das Jahr 1976 zurück, als syrische Truppen den Libanon besetzten und bis 2005 im Land blieben. Die Feindseligkeiten flammten 2008 wieder auf und verschärften sich nach Beginn des Bürgerkriegs in Syrien 2011. Während der vergangenen drei Jahre kam es in Tripoli zu mehr als 20 Gewaltausbrüchen, bei denen sich zumeist Milizen aus Tabbaneh und Jabal Mohsen befehdeten.

"Wir kämpfen, um unser Volk zu verteidigen und Frieden zu schaffen", sagt der 19-jährige Khaled, der in einer Bäckerei arbeitet und einer lokalen Miliz angehört. Der gleichaltrige Ahmad gibt jedoch der wirtschaftlichen Misere die Schuld an der Gewalt. "Die Menschen kämpfen vor allem deshalb gegeneinander, weil sie arm und arbeitslos sind", meint der junge Mann, der mit finanzieller Unterstützung der regionalen Hilfsorganisation 'Ruwwad Al Tanmeya' Ingenieurswissenschaften studiert.

Bild: © Oriol Andrés Gallart/IPS

Der 19-jährige Ahmad kann mit Unterstützung einer NGO studieren
Bild: © Oriol Andrés Gallart/IPS

Die Sozialarbeiterin Hoda Al-Rifai teilt Ahmads Ansicht. "Viele Familien haben kein Einkommen. Und immer wenn ein Konflikt ausbricht, werden Kämpfer bezahlt, die ihrerseits Kindern Geld geben, damit sie bestimmte Aufgaben erfüllen. Drei US-Dollar am Tag zu erhalten, ist für sie besser, als zur Schule zu gehen. Ihre Eltern denken genauso."

Junge Menschen in Tabbaneh hätten aufgrund von Vorurteilen Schwierigkeiten, einen Job zu finden, erklärt Rifai. "Die Folge ist ein Mangel an Selbstvertrauen." Den Medien wirft sie vor, das Viertel ausschließlich mit Gewalt, negativen Entwicklungen und als Ort in Verbindung zu bringen, in dem es an brillanten jungen Männern fehlt, in die zu investieren es sich lohnen würde.

In Tabbaneh selbst gibt es Darwish zufolge keine IS- oder JN-Mitglieder. Vielerorts seien die Extremistenflaggen nur ein Zeichen der allgemeinen Unzufriedenheit. Der Regierung wird vorgeworfen, die Sunniten und vor allem die Bewohner von Tabbaneh zu vernachlässigen. "Das ist kein religiöser, sondern ein politischer Konflikt", versichert Darwishs 49-jährige Tante. Wenn sich Politiker etwas mitzuteilen hätten, zahlten sie dafür, Kämpfe loszutreten. "In dieser Stadt ist ein Junge für 20 Dollar bereit, einen Krieg anzufangen", meint ihr Neffe.


Sozialarbeit fürs Selbstwertgefühl

Etliche Studien haben gezeigt, dass allerdings nur ein kleiner Prozentsatz der schätzungsweise bis zu 80.000 Einwohner von Tabbaneh aktiv an den bewaffneten Auseinandersetzungen beteiligt ist.

Wie Sarah Al-Charif, die Ruwwad-Leiterin im Libanon, berichtet, bietet ihre Organisation jungen Menschen die Möglichkeit, an Projekten mitzuarbeiten. Das stärke das Selbstwertgefühl der Betroffenen. "Sie werden sich ihrer gemeinsamen Interessen, Werte und Nöte bewusst", erklärt sie. "Vor allem die Mädchen werden dadurch weltoffener."

Rifai zufolge ist es wichtig, dass die Menschen verstehen, warum es zu den Kämpfen kommt. Das sei eine der wichtigsten Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden. (Ende/IPS/ck/2015)


Link:
http://www.ipsnews.net/2015/01/video-games-poverty-and-conflict-in-bab-al-tabbaneh/

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IPS-Tagesdienst vom 12. Januar 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Januar 2015


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