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KIND/041: Nutzung von Bildungs- und Freizeitangeboten - Eine Frage der Gerechtigkeit (DJI-Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2011 - Nr. 92/93

Eine Frage der Gerechtigkeit

Von Karin Gottschall und Jens Pothmann


Die soziale Herkunft entscheidet über die Nutzung von Bildungs- und Freizeitangeboten. Für Kinder bildungsferner Schichten stellen Kosten eine hohe Hürde dar. Um Teilhabe für alle zu ermöglichen, bedarf es niedrigschwelliger und kostengünstiger, aber qualitativ hochwertiger Angebote.


Der Sozialstaat hat die Aufgabe, zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit oder doch zumindest zum Abbau von sozialer Ungleichheit beizutragen. Dabei geht es nicht nur um eine Umverteilung durch finanzielle Transfers, vielmehr haben seit den 1960er-Jahren auch Infrastrukturleistungen und soziale Dienste an Bedeutung gewonnen. Diese zielen nicht nur nachsorgend darauf ab, Menschen in Notlagen zu helfen oder bereits manifeste Ungleichheiten zu bekämpfen, sondern sie sollen eher vorbeugend wirken und der Förderung von Ressourcen dienen (Gottschall 2004; 2008). Diese dienstleistungsintensive Ausrichtung des deutschen Sozialstaates hat sich insbesondere für die Felder Bildung und Erziehung bis in die jüngste Zeit - auch unter einer restriktiven finanziellen Situation der öffentlichen Haushalte - fortgesetzt.

Im Folgenden wird unter anderem auf der Basis der neuen Daten des AID:A-Surveys des Deutschen Jugendinstituts (DJI) der zentralen Frage nachgegangen, warum bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht-monetäre sozialstaatliche Angebote und Leistungen unterschiedlich stark nutzen. Der Fokus liegt dabei auf Infrastruktureinrichtungen oder Diensten, die der Sicherung von Lebenslagen, der Förderung von Ressourcen oder auch der Prävention dienen. Dazu gehören beispielsweise Jugendzentren, Vereine und Verbände, Kinderbetreuungseinrichtungen oder auch Horte und Ganztagsschulen sowie Bibliotheken, Museen und Volkshochschulen.


Veränderungen in Sozialstruktur und Freizeitverhalten

Nach den Ergebnissen der repräsentativen Studie gibt es Hinweise darauf, dass diese sozialstaatlichen Leistungen keinesfalls per se soziale Disparitäten kompensieren, sondern auch zu deren Verstärkung beitragen können (van Santen 2010). Wenn dies auf die Ausgestaltung von Angeboten zurückgeführt werden könnte, wäre es mit Blick auf Fragen nach der sozialen Gerechtigkeit in unserem Wohlfahrtsstaat kritisch zu diskutieren. Die AID:A-Daten haben somit wissenschaftlich wie politisch eine hohe Bedeutung für die Bereiche der Kinder- und Jugendarbeit, der Kindertagesbetreuung und Ganztagsschule sowie der außerschulischen Bildungsangebote. Auf den ersten Blick deuten die empirischen Befunde von AID:A auf ein sogenanntes Mittelschichtbias bei der Nutzung sozialstaatlicher Angebote hin. Das bedeutet, bestimmte Angebote werden häufiger von Kindern und Jugendlichen aus höheren Bildungs- und Einkommensschichten in Anspruch genommen (Prein 2010). Bei den Freizeitangeboten trifft dies vor allem auf kostenpflichtige Bildungs- und Kulturangebote zu, aber auch auf Vereine und Verbände. Außerdem nutzen besser situierte und gebildete Bevölkerungsgruppen Horte und Ganztagsschulen deutlich öfter, deren Plätze in Deutschland nach wie vor knapp bemessen sind. Dies dürfte im Übrigen auch mit der höheren Erwerbstätigkeit von besser qualifizierten Müttern korrespondieren. Jugendzentren werden dagegen häufiger, aber keinesfalls ausschließlich, von jungen Menschen aus niedrigeren Bildungs- und Einkommensschichten genutzt.

Auffällig ist, dass sich bei der Nutzung des Kindergartens keine Unterschiede nach der sozialen Herkunft zeigen. Zum einen ist mit der Einführung des Rechtsanspruchs auf eine Halbtagsbetreuung für Kinder ab drei Jahren und dem flächendeckenden Ausbau des Angebots die Nutzung auch in eher bildungsfernen Schichten zu einer Selbstverständlichkeit geworden, auch wenn die soziale Herkunft nach wie vor zumindest mit über die Dauer des Kindergartenbesuchs entscheidet (Fuchs/Peucker 2006). Für Deutschland signalisiert diese breite vorschulische Bildung, wie sie in den meisten europäischen Staaten schon lange Standard ist, eine nachholende Modernisierung. Die eher selektive Nutzung der Ganztagsangebote für Schulkinder deutet hingegen an, dass soziale Dienstleistungen mit Bildungsfunktion bei knappem Angebot kaum eine ungleichheitsverringernde Wirkung entfalten können (van Santen 2010; Steg-Konsortium 2010).

Die Daten von AID:A zur nicht formalisierten außerschulischen Bildung schließlich verweisen möglicherweise auf sensible Veränderungen in Sozialstruktur und Freizeitverhalten in der Bundesrepublik. Die Ergebnisse legen die Annahme nahe, dass die Kosten für Freizeit-, Bildungs- und Kulturangebote eine sozial relevante Hürde darstellen. Gleichzeitig werden, wie das Beispiel der Bibliotheken zeigt, kostenlose Bildungsmöglichkeiten stärker in Anspruch genommen, und zwar insbesondere von jenen, die zwar über höhere Bildung, nicht aber hohes Einkommen verfügen. Dies bestätigt einerseits das Bildungsbias beim Zugang zu solchen Angeboten, verweist jedoch andererseits möglicherweise auch auf einen sozialstrukturellen Wandel, der in der öffentlichen Diskussion mitunter in Verbindung mit Abstiegsängsten und Prekarisierung in der Mittelschicht auftaucht.


Gerechtigkeitslücke als sozialpolitische Herausforderung

Die Ergebnisse von AID:A machen eine Gerechtigkeitslücke deutlich: Nicht-monetäre sozialstaatliche Infrastrukturangebote, in Form von Betreuungs- und Bildungsleistungen oder auch als Förderung von kulturellen und sozialen Ressourcen, werden nicht von allen potenziellen Zielgruppen gleichermaßen in Anspruch genommen. Offensichtlich werden diejenigen in höheren Bildungs- und Einkommensschichten besser erreicht als diejenigen in prekären Lebenslagen, gleichwohl hier ein höherer Bedarf zu vermuten wäre. Und mehr noch: Die Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass die Ausgestaltung der Angebote selbst dafür verantwortlich ist, dass sie von bildungsfernen Schichten abgelehnt werden. Das ist ein sozialpolitisch problematischer Befund.

Eine naheliegende Lösung für dieses Dilemma, nämlich die stärker zielgruppenspezifische Ausrichtung von sozialen Dienstleistungen, ist bei offenen Angeboten im Bildungs- und Freizeitbereich nur schwer vorstellbar. Sie birgt auch das Problem der Stigmatisierung der ohnehin benachteiligten Gruppen in sich und fördert, wie die Diskussion etwa um das Sonderschulwesen zeigt, soziale Lernprozesse und Integration nur in einem begrenzten Rahmen. Eine andere Möglichkeit bietet sich mit gruppenspezifischen Angeboten, die als soziale Rechte ausgestaltet sind. Zu beobachten ist dies beispielsweise in den skandinavischen Ländern. Hier werden die Kinderbetreuung ebenso wie ganztägige Bildungsangebote einschließlich Freizeitaktivitäten auf hohem qualitativem Niveau als Dienstleistung für alle Bevölkerungsschichten organisiert. Auch für die Bundesrepublik sind als Ergebnis von arbeitsmarkt-, bildungs-, familien- und sozialpolitischen Erwägungen in jüngerer Zeit Schritte in diese Richtung zu konstatieren. Neben dem Ausbau der Kinderbetreuung für die unter Dreijährigen, der versucht, einem veränderten und gestiegenen Bedarf an Betreuungsdienstleistungen Rechnung zu tragen, sind hier auch Familienzentren oder Eltern-Kind-Zentren zu nennen. Sie zielen im Kern auf institutionalisierte Kooperations- und Vernetzungsformen zwischen den Regelangeboten der Kindertagesbetreuung und einem breiten Spektrum von Angeboten des Sozialraums (Rauschenbach 2008). Folgt man den empirischen Befunden aus AID:A, wird es im Wesentlichen auf die Ausgestaltung dieser Angebotsformen ankommen, wenn die Betreuungs-, Bildungs- und Erziehungsleistungen auch von bislang in zu geringem Ausmaß erreichten Familien in Anspruch genommen werden sollen.


DIE AUTOREN

Prof. Dr. Karin Gottschall ist Professorin und Abteilungsleiterin am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen. Die Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Fragen sozialer Ungleichheit, Geschlechterfragen sowie die Themen Schnittstellen von Familie und Erwerbsarbeit und Bildung.
Dr. Jens Pothmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik im Forschungsverbund DJI/TU Dortmund. Die Arbeits- und Forschungsschwerpunkte umfassen die Kinder- und Jugendhilfe und ihre Arbeitsfelder, das Jugendamt und Soziale Dienste, Kennzahlen und Indikatoren sowie die Kinder- und Jugendhilfestatistik.
Kontakt: k.gottschall@zes.uni-bremen.de, jpothmann@fk12.tu-dortmund.de


LITERATUR

FUCHS, KIRSTEN / PEUCKER, CHRISTIAN (2006): »... und raus bist du!« Welche Kinder besuchen nicht den Kindergarten und warum? In: Bien, Walter / Rauschenbach, Thomas / Riedel, Birgit (Hrsg.): Wer betreut Deutschlands Kinder? Weinheim/Basel 2006, S. 62-81

GOTTSCHALL, KARIN (2004): Vom Statuserhalt zur Sozialinvestition? Erziehung und Bildung als Sozialstaatstransformation. In: Zeitschrift für Sozialreform, Heft 1-2, S. 126-146

GOTTSCHALL, KARIN (2008): Soziale Dienstleistungen zwischen Informalisierung und Professionalisierung - oder: der schwierige Abschied vom deutschen Erbe sozialpolitischer Regulierung. In: ARBEIT, Zeitschrift für Arbeitsforschung, Arbeitsgestaltung und Arbeitspolitik, Heft 4, S. 254-267

KONSORTIUM DER STUDIE ZUR ENTWICKLUNG VON GANZTAGSSCHULEN (HRSG.; 2010): Ganztagsschule: Entwicklung und Wirkungen, Frankfurt am Main (www.projekt-steg.de vom 16.12.2010)

PREIN, GERALD (2010): Wer geht in Kitas, Jugendzentren oder Volkshochschulen? Zur Nutzung sozialstaatlicher Angebote und Dienstleistungen, AID:A-Befunde. Unveröffentlichtes Manuskript des Vortrags bei der wissenschaftlichen DJI-Fachtagung »Aufwachsen in Deutschland« am 17. und 18.11.2010 in Berlin. Weitere Informationen sind erhältlich bei prein@dji.de.

RAUSCHENBACH, THOMAS: Neue Orte für Familien. In: Diller, Angelika / Heitkötter, Martina / Rauschenbach, Thomas (Hrsg.): Familie im Zentrum. München 2008, S. 133-155

VAN SANTEN, ERIC (2010): Soziale Dienste - das Who is Who sozialstaatlicher Leistungsempfänger. AID:A-Befunde. Unveröffentlichtes Manuskript des Vortrags bei der wissenschaftlichen DJI-Fachtagung »Aufwachsen in Deutschland« am 17. und 18.11.2010 in Berlin. Weitere Informationen sind erhältlich bei santen@dji.de.


DJI Impulse 1/2011 - Das komplette Heft finden Sie im Internet unter:
www.dji.de/impulse


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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2011 - Nr. 92/93, S. 16-18
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DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Mai 2011