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KIND/100: Flüchtlingskinder - eine vergessene Zielgruppe der Kinder- und Jugendhilfe (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2014 - Nr. 105

Flüchtlingskinder: eine vergessene Zielgruppe der Kinder- und Jugendhilfe

Von Christian Peucker und Mike Seckinger



Die Kinder- und Jugendhilfe diskutiert bereits seit den 1990er-Jahren ihre interkulturelle Öffnung. Dennoch hängt es vom Einzelfall ab, ob junge Flüchtlinge und ihre Familien von den Angeboten profitieren. Um zu klären, wie die Kinder- und Jugendhilfe Flüchtlingskinder unterstützt, ist weitere Forschung nötig.


Flüchtlingspolitische Fragen sind in den letzten Monaten stärker in den Blick der Öffentlichkeit gerückt. Gründe dafür sind die Flüchtlingsproteste in mehreren Städten, das tragische Schiffsunglück vor Lampedusa mit Hunderten von Toten und die wieder steigende Anzahl von Menschen, die in Deutschland Asyl beantragen. Dieser Artikel geht der Frage nach, wie Kinder, Jugendliche und Familien mit einem ungesicherten Aufenthaltsstatus - also mit einer Duldung oder im laufenden Asylverfahren - in Deutschland leben und was die Kinder- und Jugendhilfe unternimmt, um ihre Situation zu verbessern.

Asylsuchende oder geduldete Familien bekommen in der Regel nach wie vor Sachleistungen in Form von Essenspaketen und müssen in "Gemeinschaftsunterkünften" wohnen. Die räumliche Enge und fehlende Privatsphäre sind für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen nicht förderlich. Die fehlende Gewissheit, in Deutschland bleiben zu können, ist äußerst belastend und erschwert es ihnen, eine Zukunftsperspektive zu entwickeln. Hinzu kommen belastende und traumatisierende Erlebnisse, die die Kinder, Jugendlichen und ihre Eltern in ihrem Heimatland oder auf der Flucht erfahren haben (Weiss 2009). Die Freizeitaktivitäten der Kinder und Jugendlichen sind meist eng begrenzt: Sie haben kaum Bargeld zur Verfügung und leben oft in Unterkünften, die weit weg von Stadtzentren oder Sportstätten liegen. Die Sozialbetreuung in den Gemeinschaftsunterkünften hat in der Regel einen Fokus, der nicht auf die Freizeitgestaltung von Kindern und Jugendlichen ausgerichtet ist. Ob junge Flüchtlinge ihre Freizeit altersgemäß verbringen können, hängt vielfach vom bürgerschaftlichen Engagement von Privatpersonen oder von der Bereitschaft bestehender Jugendhilfeeinrichtungen ab, sich in der Arbeit mit Flüchtlingskindern zu engagieren.

Initiativen wie "Bunt kickt gut" (eine interkulturelle Straßenfußball-Liga) oder die Flüchtlingsräte (unabhängige Vertretungen von Flüchtlingsselbstorganisationen und Unterstützungsgruppen), die es in allen Bundesländern gibt, haben Angebote für Kinder und Jugendliche mit einem Flüchtlingshintergrund entwickelt. Wie viele dieser Kinder und Jugendlichen Regelangebote und Dienste der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch nehmen, ist bundesweit nicht bekannt. Ebenso wenig weiß man, ob und mit welchen Konzepten die Kinder- und Jugendhilfe Angebote für diese Zielgruppe schafft beziehungsweise den jungen Menschen den Zugang zu ihren Angeboten erleichtert. Die Jugendhilfe hätte durchaus Möglichkeiten, die Lebenssituation dieser Kinder und Jugendlichen zu verbessern, etwa durch die Wahrnehmung ihrer Lobbyfunktion, die Kooperation mit Akteuren, die im Bereich der Flüchtlingshilfe aktiv sind, die Entwicklung und Gestaltung niedrigschwelliger Angebote und durch eine Qualifizierung der Jugendhilfeplanung.


Die Kluft zwischen Anspruch und Realität interkultureller Öffnung

Seit den 1990er-Jahren wird die interkulturelle Öffnung der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe diskutiert und programmatisch gefordert. Ein Ziel wäre dabei, die Regelangebote so zu qualifizieren, dass alle Menschen sie in Anspruch nehmen können, egal ob sie einen Migrationshintergrund haben oder nicht. Das könnte beispielsweise verwirklicht werden, indem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter interkulturell und diversitätsbewusst geschult werden und indem man Zugangsbarrieren abbaut. Die überwiegende Mehrzahl der Jugendämter (92 Prozent) betrachtet es laut einer Studie des Deutschen Jugendinstituts als Ziel, Familien, Kindern und Jugendlichen mit einem Migrationshintergrund den Zugang zu den vorhandenen Angeboten zu erleichtern. Deutlich weniger Jugendämtern ist es dagegen wichtig, interkulturelle Kompetenzen in Stellenausschreibungen zu nennen (46 Prozent) und aktiv nach Personal mit einem Migrationshintergrund zu suchen (38 Prozent; Gadow 2013). Dies ist ein Hinweis darauf, dass die interkulturelle Öffnung vielerorts noch nicht umgesetzt wurde, und es ist zu vermuten, dass dies insbesondere für Flüchtlinge gilt. Junge Menschen, die zusammen mit ihren Eltern nach Deutschland geflohen sind, sind bislang kaum ein Thema in den Diskursen der Kinder- und Jugendhilfe - und falls doch, dann im Bereich des Umgangs mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Sie in Obhut zu nehmen, ist im SGB VIII als Auftrag der Jugendhilfe verankert. Aktuell stehen Kommunen unter starkem Druck, ausreichende und qualifizierte Plätze für unbegleitete Minderjährige zu schaffen.

Die Kinder- und Jugendhilfe hat den Auftrag, dazu beizutragen, positive Lebensbedingungen für alle jungen Menschen und ihre Familien zu schaffen (Paragraph 1 SGB VIII) und ihre Interessen auch gegenüber anderen Behörden zu vertreten. Dies müsste sie gerade für Kinder und Jugendliche übernehmen, die mit ihren Familien nach Deutschland geflohen sind. Einen Rahmen dafür bieten beispielsweise Runde Tische für Flüchtlingsfragen, an denen etwa das Ausländeramt, das Jugendamt, Wohlfahrtsverbände und weitere Akteure beteiligt sind (dazu zum Beispiel Stadt Nürnberg 2012). Abgesehen von solchen nicht auf Einzelfälle bezogenen Gremien bietet sich die Zusammenarbeit mit den Ausländerbehörden an, mit den Sozialdiensten in den Gemeinschaftsunterkünften, mit engagierten privaten Initiativen und Flüchtlingsselbsthilfegruppen sowie mit den Arbeitsagenturen und mit Anbietern therapeutischer Maßnahmen.

Junge Flüchtlinge erhalten durch den Besuch von Kindertageseinrichtungen und Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit Bildungsmöglichkeiten und Freiräume, die ihnen ansonsten wegen der Isolation und räumlichen Enge der Gemeinschaftsunterkünfte und aufgrund der geringen Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes verwehrt bleiben. Die Anzahl von Kindern mit einem Flüchtlingshintergrund, die Kindertageseinrichtungen oder Jugendzentren besuchen, ist bundesweit allerdings nicht bekannt; auch auf kommunaler Ebene dürfte es dazu häufig keine Zahlen geben.


Es ist kaum statistisch erfasst, welche Angebote Flüchtlingsfamilien wahrnehmen

Es kann davon ausgegangen werden, dass der Bedarf an Hilfen zur Erziehung bei Familien mit einem Flüchtlingshintergrund nicht zuletzt aufgrund der insgesamt sehr belastenden Lebenssituation hoch ist. Wenn Flüchtlinge solche Hilfen in Anspruch nehmen, droht ihnen meist nicht die Ausweisung - es ist jedoch anzunehmen, dass dennoch derartige Ängste bestehen. Zu einer Ausweisung kann es allerdings dann kommen, wenn Familien ohne regulären Aufenthaltsstatus oder geduldete Familien für den Aufenthalt ihres Kindes in einem Heim nicht selbst aufkommen können (Kunkel 2009). Es liegen jedoch keine Daten dazu vor, wie viele Flüchtlingsfamilien ambulante oder stationäre Hilfen zur Erziehung in Anspruch nehmen. Besser ist die Datenlage bei den Inobhutnahmen unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge (Statistisches Bundesamt, Fachserie "Vorläufige Schutzmaßnahmen").

Angebote für die differenzierten Lebenslagen aller Kinder und Jugendlichen und ihrer Familien zu entwickeln, ist Aufgabe der gesetzlich vorgeschriebenen Jugendhilfeplanung. Die DJI-Jugendamtsbefragung aus dem Jahr 2009 hat ergeben, dass in den Jugendhilfeplänen auch Maßnahmen für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund formuliert sind: im Bereich Jugendarbeit zu 68 Prozent, im Bereich Hilfen zur Erziehung zu 40 Prozent (Gadow 2013). Nicht bekannt ist, inwieweit Kinder und Jugendliche mit einem Flüchtlingshintergrund als eigene Zielgruppe in der Jugendhilfeplanung berücksichtigt werden und ob in die Planungen etwa die Sozialbetreuung der Wohlfahrtsverbände in den Flüchtlingsunterkünften einbezogen ist.

Mit der gestiegenen öffentlichen Aufmerksamkeit auf flüchtlingspolitische Fragen rückt die Situation von Kindern, Jugendlichen und Familien, die nach Deutschland geflohen sind, auch in der Kinder- und Jugendhilfe stärker in den Fokus. Es besteht allerdings noch großer Forschungsbedarf, um zu klären, wie sich die Kinder- und Jugendhilfe für Kinder, Jugendliche und Familien mit einem Flüchtlingshintergrund einsetzt. Fragen, die noch offen bleiben, sind zum Beispiel, wie Jugendämter mit den Ausländerbehörden kooperieren, welche Standards es für die Inobhutnahme von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen gibt und wie viele Kinder und Jugendliche Angebote wie Kindergärten, Jugendzentren und ambulante oder stationäre Hilfen zur Erziehung in Anspruch nehmen.


DIE AUTOREN

Christian Peucker ist wissenschaftlicher Referent des Projekts "Jugendhilfe und sozialer Wandel" in der Abteilung "Jugend und Jugendhilfe" des Deutschen Jugendinstituts (DJI) und befasst sich unter anderem mit dem Umgang der Kinder- und Jugendhilfe mit Fragen der Migration.
Kontakt: peucker@dji.de

Dr. Mike Seckinger ist Leiter der Fachgruppe "Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe" in der Abteilung "Jugend und Jugendhilfe" des Deutschen Jugendinstituts. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Jugendhilfeforschung, Institutionenforschung, Jugendarbeit, Hilfen zur Erziehung, Gemeindepsychologie, Methoden empirischer Sozialforschung, Partizipation in der Kinder- und Jugendhilfe sowie Elternarbeit.
Kontakt: seckinger@dji.de


LITERATUR

GADOW, TINA/PEUCKER, CHRISTIAN/PLUTO, LIANE/VAN SANTEN, ERIC/SECKINGER, MIKE (2013): Wie geht's der Kinder- und Jugendhilfe? Empirische Befunde und Analysen. Weinheim/Basel

KUNKEL, Peter-CHRISTIAN (2009): Jugendhilfe versus Ausländerrecht. In: Jugendhilfe, Heft 2, S. 116-130

WEISS, KARIN (2009): Lebenslagen von jungen Flüchtlingen in Deutschland. In: Krappmann, Lothar/Lob-Hüdepohl, Andreas/Bohmeyer, Axel/Kurzke-Maasmeier (hrsg.; 2009): Bildung für junge Flüchtlinge - ein Menschenrecht. Erfahrungen, Grundlagen und Perspektiven. Forum Bildungsethik. Bielefeld, S. 59-70

STADT NÜRNBERG (2012): Asylbewerber/innen in Nürnberg. Im Internet verfügbar unter:
www.nuernberg.de/imperia/md/gruene/dokumente/antraege/kommission_fuer_integration/bericht_rueckfuehrung_und_potentiale_nutzen.pdf (Zugriff: 28.1.2014)

STATISTISCHES BUNDESAMT (diverse Jahrgänge): Vorläufige Schutzmaßnahmen. Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Wiesbaden


DJI Impulse 1/2014 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2014
Nr. 105, S. 12-14
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Telefon: 089/623 06-140, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: info@dji.de
Internet: www.dji.de
 
DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Mai 2014