Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → SOZIALES

KIND/101: Brasilien - Kindesmissbrauch, neue Smartphone-App soll Zivilcourage stärken (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 25. Juni 2014

Brasilien: Rote Karte bei Kindesmissbrauch - Neue Smartphone-App soll Zivilcourage stärken

von Fabíola Ortiz


Bild: © Fabíola Ortiz/IPS

Junger Straßenhändler im Rio-Viertel Copacabana
Bild: © Fabíola Ortiz/IPS

Rio de Janeiro, 25. Juni (IPS) - Die Fußballweltmeisterschaft in Brasilien, die 3,7 Millionen Touristen an die zwölf Austragungsorte der Spiele gelockt hat, lässt bei Kinderschutzorganisationen die Alarmglocken schrillen.

Sozialverbände und das Weltkinderhilfswerk UNICEF warnen, dass das Sport-Großereignis die Risiken für die Ausbeutung von unter 16-Jährigen erhöht hat. "Wir haben zwar keine genauen Zahlen, doch wissen wir, dass es im Zusammenhang mit der WM Faktoren gibt, die den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen begünstigen", sagt Flora Werneck, Koordinatorin der brasilianischen Kinderschutzgruppe 'Childhood Brasil'.

Der Ansturm von Schlachtenbummlern und Touristen seit dem 12. Juni auf die Städte, in denen die Fußballspiele stattfinden, hat die Nachfrage nach Kinderarbeitern erhöht, wie Werneck erklärt. Childhood Brasil engagiert sich seit 15 Jahren im Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kindern.

Die Aktivistin erinnert daran, dass die Bau- und Infrastrukturprojekte im Zusammenhang mit der WM zu einem rasanten Anstieg befristeter Arbeitsmöglichkeiten und Wanderarbeit sowie zur Vertreibung ganzer Familien aus ihren Wohnungen und Vierteln geführt haben. Die Schulferien sind ein weiterer Risikofaktor. Die Gefahr sei groß, dass Kinder und Teenager zum Drogenverkauf und zur Prostitution gezwungen würden.


Arme Kinder besonders anfällig

Soziale Faktoren wie Armut, mangelnder Zugang zu Bildung und Machismo erhöhen nach Meinung von Werneck und anderen Experten die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder zu Missbrauchsopfern werden. Eine im vergangenen Jahr von der Brunel-Universität in London durchgeführte Studie, die von Childhood Brasil und der 'Oak Foundation' in Auftrag gegeben worden war, nennt zahlreiche Faktoren für eine Zunahme der Gewalt gegen Kinder.

Rio de Janeiro ist nicht nur Austragungsort der Fußballball-WM 2014, sondern wird in zwei Jahren auch die Olympischen Sommerspiele ausrichten. Experten kritisieren in diesem Zusammenhang den Mangel an verlässlichen Zahlen über das Ausmaß der Kindesausbeutung. Die einzigen greifbaren Daten stammen vom Menschenrechtssekretariat des Präsidialamtes, das eine Notruf-Hotline eingerichtet hat.

2013 gingen mehr als 120.000 Anrufe ein, die sich auf Verstöße gegen die Kinderrechte bezogen. Fünf der zwölf Bundesstaaten, in denen derzeit die WM-Spiele stattfinden, standen ganz oben auf der Liste: São Paulo mit 17.990, Rio de Janeiro mit 15.635, Bahia mit 10.957, Minas Gerais mit 9.565 und Rio Grande do Sul 6.269 Anzeigen.

"Kein Kind sollte leiden, weil ein Fußballstadion gebaut wird, oder dem Sextourismus zum Opfer fallen", so Alessandro Pinto, Koordinator der Kampagne 'Save the Dream' in Brasilien. Bisher sei der Zusammenhang zwischen Missbrauch und Großereignissen noch nicht untersucht "doch wir sind hier, um das Phänomen in den nächsten zwei Jahren genau zu beobachten".

'Save the Dream' ist eine gemeinsame Initiative des Internationalen Zentrums für Sportsicherheit (ICSS) und des Olympischen Komitees von Katar. Wie Pinto erklärt, verfolgt die Kampagne das Ziel, vor der Olympiade 2016 Fakten zu sammeln. "Sport trägt eine große Verantwortung gegenüber den Menschen, der Gesellschaft und den Menschenrechten", sagt er.

Am 20. Juni nahm Pinto an einer Veranstaltung unter der Schirmherrschaft von UNICEF und der brasilianischen Regierung teil, auf der die vorläufigen Ergebnisse der Kampagne 'Schützt Brasilien' gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern verbreitet wurden.


App gefragt

Um Bürger zu ermutigen, Gewalt gegen Kinder anzuzeigen, wurde die App 'Schützt Brasilien' eingeführt, die gratis auf Smartphones und Tablet-Computer heruntergeladen werden kann. "Dies ist eine weltweit einzigartige Initiative", meint Ideli Salvatti, Leiterin des brasilianischen Menschenrechtssekretariats. "Damit sollen die Nutzer von mehr als 70 Millionen Mobiltelefonen in Brasilien, einem Land mit über 200 Millionen Einwohnern, erreicht werden." Die App ist auf Portugiesisch, Englisch und Spanisch verfügbar.

Laut Casimira Benge vom UNICEF-Kinderschutzprogramm in Brasilien sind in dem Land der Großereignisse auch Gewalttaten gegen die 56 Millionen Kinder und Jugendlichen verbreitet. "Wir haben viel von der Fußball-WM in Südafrika 2010 gelernt. Die Kinder hatten keinen Unterricht, weil die Schulen während des Turniers geschlossen wurden. Sie blieben deshalb unbeaufsichtigt. Hier in Brasilien arbeiten wir daran, dass die Kinder auch während der Ferien betreut werden", fügt Benge hinzu.

Seit der Einführungsphase der App vom 18. Mai bis zum 20. Juni wurde sie etwa 60.000 Mal heruntergeladen. Etwa 3.800 Handyanrufe gingen bei Kinderschutzbehörden ein. Laut UNICEF hat die Kampagne in nur einem Monat 40 Millionen Menschen erreicht.

Untersuchungen der staatlichen Notruf-Hotline ergaben, dass die Opfer zur Hälfte Mädchen, zu 60 Prozent afro-brasilianische Kinder und Jugendliche und in der Mehrheit im Alter zwischen acht und 14 Jahren waren. Über 60 Prozent der Täter gehörten zum engen Familienkreis. (Ende/IPS/ck/2014)


Links:

http://www.ipsnews.net/2014/06/red-card-for-exploitation-of-children-at-brazils-world-cup/
http://www.ipsnoticias.net/2014/06/tarjeta-roja-para-explotacion-infantil-en-mundial-de-brasil/

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 25. Juni 2014
IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 / 54 81 45 31, Fax: 030 / 54 82 26 25
E-Mail: contact@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juni 2014