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LEISTUNGEN/613: Gleichberechtigt - und diskriminiert (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 159/März 2018
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Gleichberechtigt - und diskriminiert

Für EU-Bürger gibt es Zugangsbarrieren zur deutschen Grundsicherung

von Nora Ratzmann


Kurz gefasst: Potenzielle ausländische Antragsteller aus der EU, die sich auf Leistungen des Arbeitslosengelds ALG II bewerben, sehen sich nicht nur mit rechtlichen Zugangsbeschränkungen (beispielsweise stark begrenzten Ansprüchen von nicht erwerbstätigen EU-Bürgern) konfrontiert, sondern auch mit einer Reihe von informellen Hindernissen wie der Amtssprache Deutsch oder der Anforderung zusätzlicher Nachweise. Dieser Artikel skizziert die wichtigsten Barrieren und die dahinterliegenden Mechanismen. Die unklare Rechtslage, fehlende und fehlerhafte Kommunikation gepaart mit unterschiedlichen Erwartungshaltungen und unzureichender interkultureller Sensibilität können in einer von Prinzipien des New Public Management getriebenen Sozialverwaltung zu großen Hindernissen werden.


In Deutschland ist die Gruppe der Grundleistungsempfänger, aber auch deren Lebenslagen und Bedürfnisse, vielfältiger geworden. Ursachen dafür sind Europäisierung, Globalisierung und Migrationsbewegungen. Die deutschen Jobcenter, die für die Antragstellung zur Grundsicherung nach dem SGB II, besser bekannt als Hartz IV, zuständig sind, sind darauf nicht unbedingt eingerichtet. Etwa 46 Prozent der ausländischen Klienten berichten von Diskriminierungserfahrungen bei ihrem Kontakt mit der deutschen Verwaltung. Leistungsrechte, die es de jure gibt, decken sich hier nicht immer mit einem tatsächlichen Zugang zum System. Die genauen Mechanismen dieser verdeckten Diskriminierung sind noch nicht erforscht. Um bestehende erste Forschungserkenntnisse zu vertiefen, beleuchtet meine Studie am Beispiel von EU-Bürgern, auf welche Schwierigkeiten Leistungsberechtigte mit Migrationshintergrund in deutschen Jobcentern stoßen und welche Ursachen es gibt.

EU-Bürgerinnen und -Bürger sind mit vier Millionen die größte migrantische Gruppe in Deutschland. Rechtlich gesehen sind sie durch die europäischen Staatsbürgerschaftsrechte den Einheimischen gleichgestellt. Im Sozialrecht wurde diese Gleichstellung jedoch nach dem Erwerbsstatus differenziert: Nur EU-Bürger, die einen Bezug zum deutschen Arbeitsmarkt nachweisen können, haben in einem vollen Umfang auch Zugang zum grundsichernden SGB II.

Die Studie basiert auf 104 durch Leitfaden gestützte Interviews (zwischen 30 und 90 Minuten lang). Das Interviewsample, das hauptsächlich zwischen September 2016 und Juli 2017 in Berlin erhoben wurde, gliedert sich in 55 Interviews mit Jobcenter-Mitarbeitern über alle Hierarchieebenen und Abteilungen hinweg. Dazu gehörten beispielsweise die Bereiche Arbeitsvermittlung, Leistungsabteilung oder Eingangszone. Weiterhin wurden 17 Interviews mit betroffenen EU-Bürgern mit unterschiedlichen Qualifikationsniveaus - von einer abgebrochenen Schulausbildung bis hin zur abgeschlossenen Promotion - geführt. Sie stammen aus Herkunftsländern wie Frankreich, Spanien, Polen und Bulgarien. Abgerundet wird das Sample durch 32 Interviews mit unterstützenden Institutionen, die aus ihrer Erfahrung der Beratung von EU-Bürgern berichteten. Hierzu zählen Gespräche mit Mitarbeitern der Beratungsstellen der Wohlfahrtsverbände wie mit deren Hauptverbänden auf Bundesebene, mit Rechtsanwälten, zivilgesellschaftlichen Organisationen einzelner nationaler Gruppen sowie Sozialattachés einiger europäischer Botschaften in Deutschland. Begleitend hospitierte ich in drei Berliner Jobcentern.

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass nicht wenige EU-Bürgerinnen und -Bürger Schwierigkeiten haben, mit ihrem Anliegen in den Jobcentern vorzudringen, und dass es dort immer wieder zu fehlerhaften Informationen und Entscheidungen der Mitarbeiter kommt. Zum einen werden die potenziellen Antragsteller selten an den Rechtskreis des SGB III, das heißt an die Arbeitsagenturen verwiesen, wo sie auch ohne Leistungsanspruch Anrecht auf Beratung zur Integration in den Arbeitsmarkt haben. Zum anderen werden einige von ihnen bereits im Eingangsbereich des Jobcenters mündlich mit der Begründung abgewiesen, sie hielten sich nur zum Zweck der Arbeitssuche in Deutschland auf und hätten damit keinen Anspruch auf das grundsichernde Arbeitslosengeld II (Hartz IV). Diese Vorgehensweise widerspricht dem deutschen Sozialrecht, demzufolge jeder Antrag angenommen und geprüft werden muss, unabhängig von dessen Aussicht auf Erfolg. Ferner kommt es im Beratungsalltag mitunter zu inadäquaten Ermessensentscheidungen. Die EU-Bürger werden häufig aufgefordert, Nachweise aus den Heimatländern zu erbringen, die dort nicht immer existieren oder nur persönlich ausgestellt werden. Das führt zu Zeitverzögerungen in der Antragstellung und finanziellem Mehraufwand. Und dies, obwohl solche Nachweise laut EU-Verordnung 883/2004 auf dem Dienstweg zwischen den Sozialverwaltungen der einzelnen EU-Länder erbracht werden müssten.

Wie lassen sich die von den EU-Bürgern erfahrenen Schwierigkeiten erklären? Welche Mechanismen stehen dahinter? Direkte Diskriminierung, für die es mittlerweile Nachweise gibt, ist nur ein Teil der Erklärung. Die Analyse des qualitativen Datensatzes ergab ein Bild zahlreicher organisationsstruktureller Mechanismen, die in ihrem Zusammenspiel diese neu Zugewanderten institutionell benachteiligen könnten.

Sprache wird von allen Beteiligten als Haupthemmnis genannt: bei der Antragstellung, in der Kommunikation, während der Leistungsgewährung und bei der Integration in den Arbeitsmarkt. Der zunehmenden Diversität der Antragsteller wird kaum Rechnung getragen. Trotz EU-Rechtslage und Weisungen der Bundesagentur für Arbeit dominiert in den untersuchten Jobcentern die Ansicht, dass EU-Bürger, die über unzureichende Deutschkenntnisse verfügen, immer selbst einen Dolmetscher mitbringen müssen. Nur wenige Mitarbeiter sind bereit, in einer ihnen geläufigen Fremdsprache zu kommunizieren. Dies ist einerseits auf das Risiko zurückzuführen, rechtsverbindliche Falschauskünfte zu geben. Einige Mitarbeiter signalisierten auch Unwillen, in einer deutschen Behörde einen Dolmetscher zur Verfügung zu stellen. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass die Amtssprache Deutsch als Instrument zur Regulierung des Zugangs zum SGB II genutzt wird.

Unzureichende interkulturelle Kompetenz und fehlende länderspezifische Kenntnisse schaffen eine weitere informelle Zugangshürde. Ausländische Antragsteller sind oft wenig vertraut mit dem deutschen Sozialsystem und den darin eingebetteten Erwartungshaltungen, die zum Beispiel eine aktive Mitarbeit miteinschließen. Leistungsanwärter aus bestimmten kulturellen Zusammenhängen sehen in den Jobcenter-Mitarbeitern einen Repräsentanten von Autorität und Expertise, dessen Anweisungen ohne Diskussion Folge zu leisten ist. Menschen aus Ländern wie Bulgarien, in denen Korruption in der Verwaltung vorkommt, nehmen den Sozialstaat zudem oft als nicht vertrauenswürdigen Gegner wahr. Arbeitsvermittler legen die daraus entstehenden passiven Haltungen oder die unterschwelligen Widerstände einiger Antragsteller mit Migrationshintergrund nicht selten als fehlende Mitwirkung aus. Gescheiterte Kommunikationsprozesse durch kulturelle Missverständnisse sind die Folge.

Die Studie zeigt auch deutlich, dass das viele Mitarbeiter zu wenig über die aktuelle Rechtslage wissen, was häufig zu Fehlentscheidungen bei Auskünften zur Antragstellung führt. Einige Interviewpartner vertraten zum Beispiel die Meinung, dass EU-Bürger grundsätzlich vom Leistungsbezug beim Arbeitslosengeld II ausgeschlossen sind, während andere aufgrund der Komplexität und Ausdifferenzierung der Rechtslage nach Erwerbsstatus unsicher wegen der Auslegung des Gesetzes waren. Zwar bedienen sich die Jobcenter eines Prüfungsschemas zur Feststellung des (Nicht-)Erwerbstätigenstatus oder einer Selbstständigkeit, aber in den jeweiligen Jobcentern werden dafür Gerichtsurteile mit unterschiedlichen Kriterien herangezogen. Oft begeben sich die Mitarbeiter auf eine ihrer Meinung nach sichere Seite, indem sie bei geringfügigen Tätigkeiten eine Grundsicherung ablehnen, um solche Grenzfälle vor Gericht klären zu lassen. Diese Rechtsunklarheiten haben mancherorts fatale Auswirkungen gegenüber EU-Bürgern wie den Roma mit rumänischer oder bulgarischer Staatsbürgerschaft, denen bisweilen Sozialbetrug durch eine vorgeschobene Scheinselbstständigkeit zum Erhalt von SGB II Leistungen unterstellt wird. Die vorhandenen Rechtsunklarheiten in Bezug auf Mindesteinkommensgrenzen, die eine Selbstständigkeit begründen, eröffnen vom Gesetzgeber nicht vorgesehene Spielräume und schaffen so Diskriminierungsmöglichkeiten für Mitarbeiter.

Eine Steuerung nach quantitativen Indikatoren wie den Eingliederungsquoten wirkt sich ferner negativ auf den Spielraum der individuellen Betreuung und die Rücksichtnahme auf spezielle Bedürfnisse von Leistungsempfängern aus. Seit den Hartz-IV-Reformen und der Schaffung der Jobcenter ist die Grundsicherung in Deutschland stark von den Prinzipien des New Public Management als Steuerungsmodell getrieben. In dem Modell wird versucht, betriebswirtschaftliche Kennzahlen als Gradmesser für die Wirkung der Verwaltungsarbeit zu etablieren. Das Jobcenter agiert somit als System der Kontrolle statt der Fürsorge. Um dem Zahlendruck gerecht zu werden, versuchen Mitarbeiter ihr Arbeitsvolumen durch Strategien der Standardisierung und des sogenannten creaming and parking zu senken, was bedeutet, dass sie schwierig zu bearbeitende Fälle nach hinten stellen, beispielsweise durch die Anforderung weiterer Nachweise oder indem ein Ansinnen gleich abgelehnt wird. Manche EU-Bürger fallen dabei automatisch in die Gruppe der schwer zu bearbeitenden Fälle aufgrund der undurchsichtigen und vielschichtigen Rechtslage und oft fehlender Sprach- und Kulturkenntnisse.

Wegen der politisch gewollten Konzentration auf die Quantität einerseits und mangelnder Wertschätzung von Beratungsqualität andererseits nehmen sich wenige Mitarbeiter die Zeit, Fehlinformationen aufseiten der Leistungsempfänger und kulturelle Mißverständnisse aufzuklären oder bei Handlungsunsicherheiten Unterstützung bei Fachorganisationen zu suchen. Kontakt zu Migrationsberatungsstellen, die eben jene blinden Flecken aufdecken könnten, gibt es nur auf Initiative einzelner Jobcenter-Mitarbeiter. Es kommt zur Isolierung einzelner Fälle, sodass EU-Bürger mit unzureichendem Wissen und Sprachkenntnissen zwischen den Systemen hängen bleiben.

Eine Änderung der derzeitigen Rechtslage, die Rechtsunsicherheiten und fehlerhaftes Verwaltungshandeln zur Folge hat, ist eine politische Frage. Andere Aspekte wie schlechte Kommunikation durch fehlende Kenntnisse und die für die EU-Bürger oft nachteilige Standardisierung der Fallbearbeitung lassen sich indes auf Ebene der Bundesagentur für Arbeit lösen. Verbesserte interinstitutionelle Kooperationen wären hier ein Weg, einige der beschriebenen Wirkungsmechanismen und deren Effekte abzubauen. Erste Versuche in diese Richtung startete die EU-Gleichbehandlungsstelle des Bundes im Jahr 2017, als sie gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit ein Modellprojekt zur Verbesserung der Kommunikationsstrukturen und Arbeitsabläufe ins Leben rief.

Mit einer Schulungsreihe zu Diversität und interkultureller Sensibilität versucht die Bundesagentur für Arbeit außerdem seit einigen Jahren potenziell diskriminierende Haltungen der Mitarbeiter zu beeinflussen - das jedoch nach Auffassung einer Expertin für Migration in der Arbeitsverwaltung ohne nachhaltigen Effekt. Sie begründet dies mit fehlenden Transfermöglichkeiten in den Arbeitsalltag und dem fehlenden Raum für Reflexion und Supervision als flankierende Maßnahmen.

Das Wissen zum migrationssensiblen Umgang in der Arbeitsmarktintegration existiert allerdings oft bereits innerhalb der Sozialverwaltung: unter den Mitarbeitern mit Migrationshintergrund und mit persönlichen interkulturellen Erfahrungen sowie in der Zivilgesellschaft wie den Wohlfahrtsverbänden oder Migrantenselbstorganisationen. Mitarbeiter mit Migrationshintergrund könnten hier als kulturelle Mittler mit Brückenfunktion agieren. Allerdings wird ihr Potenzial im Arbeitsalltag bisher unzureichend genutzt. Das Wissen zirkuliert zu wenig, da derzeit der Raum für Reflektion und gegenseitiger Austausch fehlt, der bislang auf lokale Eigeninitiativen beschränkt ist. Die Bundesagentur für Arbeit könnte hier unterstützend eingreifen, indem sie Kooperationsformate institutionalisiert. Dazu könnten Hospitationen in unterschiedlichen Fachabteilungen innerhalb des Hauses oder über verschiedene Häuser hinweg gehören sowie deutschlandweite Gesprächsrunden mit Migrationsberatungsstellen. Ferner wäre ein Überdenken der derzeitigen Steuerungslogik nach Zahlen und eine stärkere Verzahnung der Schulungskonzepte mit dem Arbeitsalltag der Mitarbeiter wünschenswert.


Literatur

• Brussig, Martin / Frings, Dorothee / Kirsch, Johannes: Diskriminierungsrisiken in der öffentlichen Arbeitsvermittlung. Baden-Baden: Nomos 2017.

• Dittmar, Vera: Arbeitsmarktintegration für Migranten fördern Potenziale der Jobcenter. Bielefeld: wbv 2016.

• Hemker, Johannes / Rink, Anselm: "Multiple Dimensions of Bureaucratic Discrimination. Evidence from German Welfare Offices". In: American Journal of Political Science, 2017, Jg. 22, H. 3, S. 419.

• Tucci, Ingrid / Eisnecker, Philipp / Brücker, Herbert: Diskriminierungserfahrungen und soziale Integration: Wie zufrieden sind Migranten mit ihrem Leben? IAB-Kurzbericht, 2014, 21.1. Nürnberg: IAB 2014.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 159, März 2018, Seite 41-43
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juni 2018

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