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LEISTUNGEN/635: Der Wert der Wohlfahrt - ein Blick zurück, nach vorn (spw)


spw - Ausgabe 2/2019 - Heft 231
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Der Wert der Wohlfahrt: ein Blick zurück, nach vorn.

von Joachim Rock(1)


Zu den Besonderheiten des deutschen Sozialstaates zählt, dass er zu großen Anteilen eben nicht "Staat" ist. Neben den öffentlich-rechtlich organisierten, aber selbstverwalteten Sozialversicherungen sind es dabei die in sechs Spitzenverbänden(2) organisierten Vereine und Dienste der Freien Wohlfahrtspflege, die das Soziale in Deutschland seit fast einem Jahrhundert wesentlich mitgestalten. Allein dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, dem nach den kirchlichen Verbänden drittgrößten Wohlfahrtsverband, gehören über 10.050 selbstständige Mitgliedsorganisationen an, darunter so mitgliederstarke Organisationen wie der Arbeiter-Samariter-Bund mit 1,3 Millionen Mitgliedern und der Sozialverband VdK mit 1,9 Millionen Mitgliedern. Die Bedeutung der Arbeit der Wohlfahrtsverbände wird dennoch unterschätzt. Im aktuellen Koalitionsvertrag ist die Wohlfahrtspflege beispielsweise nur zweimal erwähnt, im Zusammenhang mit der Förderung des ehrenamtlichen Engagements bei Grundschülern. Diese Geringschätzung kann sich fatal auswirken, denn der technische, kulturelle und demographische Wandel wird sich nur mit der Wohlfahrtspflege sozial gestalten lassen. Mit Markt und Staat allein ist kein Sozialstaat zu machen. Die gemeinnützige Wohlfahrtspflege braucht dabei ihrerseits neuen politischen Rückhalt.

Die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Sozialwirtschaft, deren Rückgrat die gemeinnützige Wohlfahrtspflege ist, ist immens. Die Sozialwirtschaft erwirtschaftet mit rund sieben Prozent der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung einen ähnlich großen Anteil wie Fahrzeugbau und Maschinenbau zusammengenommen. Zwischen 2000 und 2014 sind dort mehr als 1,3 Millionen neue Arbeitsplätze entstanden,(3) bei einem kontinuierlichen Wachstum auch in Krisenzeiten. Anders, als in anderen Beschäftigungsbereichen prognostiziert, wird der Bedarf an sozialen Dienstleistungen auch weiter wachsen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) stellt fest: "Das niedrigste Substituierbarkeitspotenzial lässt sich für das Berufssegment 'Soziale und kulturelle Dienstleistungsberufe' feststellen"(4). Das gilt besonders in der Digitalisierung; "Bei der Grundversorgung mit sozialen Dienstleistungen wie Gesundheits- und Pflegedienste, Schulausbildung oder Erwachsenenbildung zeigen sich neben dem Online-Shopping die größten Veränderungspotenziale durch die Nutzung digitaler Dienstleistungen"(5), heißt es im aktuellen Raumordnungsbericht. Wie dieser Prozess gestaltet wird, ist für die Entwicklung der sozialen Infrastruktur in Deutschland von zentraler Bedeutung. Privat-Equity-Firmen und andere profitorientierte Akteure drängen seit Jahren auf wachsende Marktanteile und "entziehen dem System viel Geld - zum Schaden der Belegschaft und der Patienten"(6). Diese Entwicklung ist auch dem Bedeutungsverlust der gemeinnützigen Wohlfahrtspflege geschuldet. Es ist deshalb höchste Zeit, gemeinnützige Dienste und Einrichtungen aufzuwerten. Praktisch findet das Gegenteil statt.

Die Bedeutung der gemeinnützigen Wohlfahrtspflege

Die Größe der Freien Wohlfahrtspflege ist vor allem Ausdruck ihrer gesellschaftspolitischen Bedeutung. Ihre Aufgabe liegt im Grundsatz, nicht im Umsatz(7). Kein anderer Akteur in Deutschland verfügt über ein derart fein gewobenes, leistungsfähiges Netzwerk von sozialen Diensten und Initiativen im ganzen Land. In den gut 11.000 Gemeinden Deutschlands bieten etwa 30.000 gemeinnützige Organisationen soziale Leistungen in knapp 120.000 Diensten und Einrichtungen an, von der Kindertagesstätte über das Altenpflegeheim, vom Flüchtlingsheim bis zur Schuldnerberatung, vom Krankenaus zum Weiterbildungsträger, von Selfkant bis Sonthofen, von List bis Neißeaue. Sie ist auch dort, wo der Staat sie nicht leisten kann und gewerbliche Anbieter sie nicht leisten wollen. Mit über drei Millionen Freiwilligen wird dabei ein unschätzbarer Beitrag zum sozialen Zusammenhalt geleistet. Freiwilliges Engagement gibt es nicht in gewerblichen und nur selten in staatlichen Strukturen, sondern vor allem in gemeinnützigen Organisationen. Auch für die Selbstorganisation und die Förderung der Partizipation von Nutzer*innen hat die Wohlfahrtspflege, in der der Verein weiter die wichtigste Rechtsform darstellt, eine zentrale Bedeutung. Da soziale Dienstleistungen in Koproduktion zwischen Dienstleister und Nutzer*in erbracht werden, kommt deren Perspektiven und Interessen ein besonders hoher Stellenwert zu. Ein erheblicher Teil der Angebote wird deshalb direkt durch Selbsthilfeorganisationen erbracht oder zumindest mit geprägt, was die Anpassungsfähigkeit und Flexibilität der Organisationen immer wieder gefordert, aber vor allem gefördert hat. Beteiligung, wie sie in anderen Wirtschaftsbereichen erst erlernt wird, wird in den gemeinnützigen Organisationen viel stärker praktiziert.

Der Status der Gemeinnützigkeit zählt zu den Funktionsbedingungen der Freien Wohlfahrtspflege, er ist ihre conditio sine qua non. Das liegt weniger an der steuerrechtlichen Behandlung der Organisationen, da die gleiche Tätigkeit ausübende gewerbliche und gemeinnützige Akteure in der Regel wettbewerbsneutral besteuert werden, sondern an der grundlegenden Bedeutung der Gemeinnützigkeit für das freiwillige Engagement der Bürgerinnen und Bürgerer. Es vollzieht sich nahezu ausschließlich in gemeinnützigen Organisationen, weil sie partizipativ organisiert sind, überwiegend weiterhin in eingetragenen Vereinen,(8) und die Gewähr dafür bieten, dass keine Gewinne entnommen werden können. Etwaige Erträge müssen in gemeinnützige Zwecke reinvestiert werden, und das ist gut so! Dass die SPD-Bundestagsfraktion 2016 ankündigte,(9) eine Aufhebung des Gewinnausschüttungsverbotes prüfen zu wollen, war deshalb weder ein Beleg für eine Wertschätzung der Wohlfahrtspflege noch für vertiefte Kenntnisse über den Bereich.

Aufmerksamkeit erhalten die Wohlfahrtsverbände regelmäßig in Zeiten der Not, wenn die Überforderung staatlicher Strukturen offenkundig ist. Bis heute gibt es immer wieder Situationen, die nur mit den Ressourcen der Verbände zu bewältigen sind. Ihnen gelang es etwa 2015 im gesamten Bundesgebiet buchstäblich über Nacht umfassende Hilfeleistungen für Geflüchtete aufzubauen. Diese Aufgaben können auch in Zukunft nur von der Wohlfahrtspflege geschultert werden, die als multifunktionale Organisationen gleichermaßen Selbsthilfeorganisationen und Mitgliedsverbände, Sozialanwälte, Dienstleister und wichtigster Akteur zur Entwicklung, Förderung und Verbreitung sozialer Innovationen sind: "Der eigene Anspruch der Wohlfahrtsverbände bestand immer auch darin, Anreger für neue Methoden und 'sozialcaritative Experimente' zu sein" sowie "durch ihre Fähigkeit, Innovationen zu initiieren"(10) und auch neue soziale Bewegungen zu integrieren. Gerade der Paritätische Wohlfahrtsverband bot immer wieder Initiativen und Bewegungen verbandliche Unterstützung und Förderung, etwa den Eltern-Kind-Initiativen, den Frauenhäusern, den Arbeitslosengruppen und Selbsthilfeinitiativen. Sie generieren dadurch nicht nur soziale Innovationen, sondern sind auch Seismographen der gesellschaftlichen Entwicklungen. Auch weitere Akteure profitieren davon, etwa Social Entrepreneurs, deren Innovationen häufig schlicht darin bestehen, "einen etablierten Lösungsansatz an einem neuen Standort umzusetzen" und die vor allem dann erfolgreich sind "wenn sie mit etablierten Wohlfahrts- und Bildungseinrichtungen kooperieren und auf deren vorhandene und ausdifferenzierte Infrastruktur aufsetzen"(11).

Von der Gemeinnützigkeit zur Profitorientierung - und wieder zurück?

Die Ökonomisierung des Sozialen wurde seit den 1990er Jahren politisch vorangetrieben. Mit der Pflegeversicherung wurde ein "Marktschaffungsgesetz"(12) beschlossen, das gezielt profitorientierte Dienstleister stärken sollte. Ziel war es dabei, Einsparungen zu erzielen, indem günstige Bedingungen für profitorientierte Träger geschaffen wurden. Dabei wurde einkalkuliert, dass der forcierte Wettbewerb im sozialen Sektor überwiegend zu Lasten der Beschäftigten gehen würde, da "die Wachstums- und Gewinnmöglichkeiten privatwirtschaftlicher Einrichtungen auf die Stellschraube der Personalkosten"(13), die zwischen 45 und 80 Prozent an den Gesamtausgaben sozialer Dienste ausmachen, verlagert werden. Hinzu kommt, dass die Entgelte für die Dienstleistungen politisch verhandelt und bestimmt werden, wobei sowohl die öffentliche Hand als auch die Klienten als Kostenträger ein Interesse an niedrigen Kosten haben, gerade im Bereich der nicht voll finanzierten Pflege. Das politische Ziel von geringeren Ausgaben durch gesteigerten Wettbewerb wurde so "durch eine Abwärtsspirale bei Entgelten und Arbeitsbedingungen erkauft"(14). Beabsichtigt oder zumindest billigend in Kauf genommen und erreicht wurde in diesem Prozess eine "'Atomisierung' der Beschäftigungs- und Vergütungsbedingungen"(15) und eine verstärkte Verbetriebswirtschaftlichung zu Lasten gemeinnütziger Organisationen, bei denen bis dahin "der Flächentarifvertrag des öffentlichen Sektors (...) unangefochten als 'Leitwährung'"(16) galt. Tatsächlich sank seitdem der Anteil gemeinnütziger Träger deutlich. Diese Entwicklung ist auch deshalb bedauerlich, weil gewerbliche Träger überwiegend niedrigere Löhne zahlen als gemeinnützige und öffentliche Träger(17) und darüber hinaus in der Regel eine schlechtere Qualität als gemeinnützige Anbieter liefern: "Die Pflegequalität in gewinnorientierten Pflegeheimen in Deutschland ist im Vergleich zu denen in gemeinnütziger Trägerschaft insgesamt schlechter".(18) Die insbesondere auf kommunaler Ebene eingeführten neuen Steuerungsmodelle dienten ebenfalls einer Forcierung des wirtschaftlichen Wettbewerbs. Durch die Ausschreibung von sozialen Dienstleistungen wurde außerdem das Wunsch- und Wahlrecht der Betroffenen eingeschränkt, obwohl dieses ein wichtiges Instrument zur Herstellung eines Qualitätswettbewerbes war und ist.

Unterschätzt wird auch das Ausmaß an zusätzlichen, nicht regelfinanzierten Leistungen und das vielfältige Engagement, das durch die Verbände an Geld und freiwilliger Leistung organisiert wird. Nicht selten werden den Verbänden dabei von öffentlicher Seite Eigenanteile vorgegeben, etwa in der Hospizarbeit. Die Möglichkeiten, diese einzubringen, werden durch den Gesetzgeber sukzessive erschwert, etwa durch die Änderung der Anwendungsregeln zur Abgabenordnung Anfang 2016.(19) Dabei sind die Wettbewerbsbedingungen zwischen profitorientierten und gemeinnützigen Trägern ohnehin asymmetrisch zu Lasten der gemeinnützigen Anbieter gestaltet. Während etwa die Reduzierung der Umsatzsteuer bei der Erbringung von Pflegeleistungen gleichermaßen für profitorientierte und gemeinnützige Dienstleister gilt, gelten Verpflichtungen wie das Gewinnausschüttungsverbot nur für gemeinnützige Dienste. Damit verschlechtern sich ihre Wettbewerbsbedingungen, was auf die Kostenträger selbst zurückfallen kann, "wenn die ehemaligen Sozialpartner vom Markt verschwinden und durch transnationale Sozialkonzerne ersetzt werden."(20)

Soziale Arbeit aufwerten, gemeinnützige Akteure stärken

Ganz oben auf der politischen Agenda muss stehen, die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen in der Sozialen Arbeit zu verbessern. An erster Stelle steht dabei die Durchsetzung einer leistungsgerechten Bezahlung. Hier besteht erheblicher Nachholbedarf, vor allem bei profitorientierten Anbietern, aber auch in der gemeinnützigen Wohlfahrtspflege und in Ausgründungen der Kommunen: "Die Altenpflege ist mit mehr als 13.600 stationären Einrichtungen und noch mal so vielen ambulanten Diensten regelrecht zerklüftet. (...) Nach Tarifvertrag zahlen in der Regel nur die kommunalen und freigemeinnützigen Arbeitgeber"(21). Die Branche leidet dabei unter der geringen gewerkschaftlichen Bindung der Beschäftigten, die häufig unter zehn Prozent liegt. Seit dem Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie vom 11.08.2014 besteht die Möglichkeit, Tarifverträge über § 7a AentG für allgemeinverbindlich erklären zu lassen. Es wäre zu wünschen, dass sich das BMAS dieser Möglichkeit bedient, wenn dies nicht zeitnahe partnerschaftlich passiert. Die Verbände ihrerseits müssen eine Grundlage dafür schaffen, indem sie gemeinsam mit ver.di und in einem gemeinsamen Arbeitgeberverband faire Bedingungen aushandeln. Zu diesem Zweck hat etwa der Paritätische im März beschlossen, sich als kooperatives Mitglied in einen solchen Verband einzubringen.

Benachteiligungen in der Erwerbsphase spiegeln sich auch in den Alterssicherungsansprüchen, weil die physisch und psychisch fordernden Tätigkeiten häufig eben keine lebenslange Vollzeittätigkeit ermöglichen. Als beispielsweise die Rente ab 63 eingeführt wurde, für die 45 Beitragsjahre in der Rentenversicherung vorzuweisen waren, war dies für Beschäftigte in der Sozialen Arbeit, die eine qualifizierte, aber rentenrechtlich nicht berücksichtigte Ausbildung benötigten, faktisch nicht zu erreichen. "Beschäftigte aus dem Sozial- und Gesundheitsbereich (werden) wegen der körperlich oft anstrengenden Arbeit häufig vorzeitig eine Erwerbsminderungsrente beantragen müssen"(22), prognostizierte dass DIW. Wenn nun von interessierter Seite auch in der Rentenkommission "Verlässlicher Generationenvertrag" eine Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre und mehr betrieben wird, wäre das nichts anderes als eine weitere Rentenkürzung für in der Sozialen Arbeit beschäftigte Menschen. Sie müssen dann eine Erwerbsminderungsrente oder eine vorzeitige Altersrente mit hohen Abschlägen beanspruchen. Für junge Menschen in der Berufsfindung ist das alles andere als einladend.

Viele Beschäftigte empfinden angesichts dieser Ausgangslage Zukunftssorgen und das Gefühl fehlender Gestaltungsmöglichkeiten bezüglich der eigenen Perspektiven. Dass damit die Anfälligkeit für rechtsextreme Deutungsmuster erhöht wird, haben Bettina Kohlrausch(23) und andere nachgewiesen. Rita Müller-Hilmer und Jérémie Gagné identifizierten an anderer Stelle die neue soziale Figur des "missachteten Leistungsträgers", einem eigentlich "klar links sozialstaatlichen Typ". Dieser fordere "eine ausgleichende und solidarische Gesellschaft, die vor bedrohlichen Marktkräften schützt - starke Gewerkschaften inbegriffen (...) Ausgeübt werden häufig Lehrberufe, bevorzugt im sozialen Bereich". Gerade bei diesen Menschen habe die SPD aber erheblich verloren, an die AfD: "In der Vergangenheit tendierte dieser Typ stark zur SPD und zur Linken. Bei der Bundestagswahl 2017 lagen dann nur mehr die Linke und darüber hinaus die AfD weit über ihrem Bevölkerungsdurchschnitt"(24). Individuelle soziale Sicherheit, gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt und die Förderung von Gestaltungsmöglichkeiten gehören deshalb eng zusammen. Die Wohlfahrtsverbände sind leistungsstarke und zu Unrecht vernachlässigte Akteure auf dem Weg dahin. Dabei können sie einen wichtigen Beitrag dazu leisten, den demographischen wie den digitalen Wandel sozial zu gestalten und - wie es der Koalitionsvertrag schon im Titel formuliert - für einen neuen Zusammenhalt zu sorgen.

Mehr Wohlfahrt wagen

Das Plädoyer für eine Stärkung gemeinnütziger und zivilgesellschaftlicher Strukturen in den laufenden Transformationsprozessen zielt gleichermaßen auf verbesserte Partizipationsmöglichkeiten der Nutzer*innen, eine Stärkung der Beschäftigten in der Sozialen Arbeit wie auch der gemeinnützigen Organisationsformen selbst. Zentrale Herausforderungen für eine Aufwertung der Leistungen sind an anderer Stelle(25) zutreffend skizziert worden. Im Vordergrund muss stehen, die Anerkennung und Vergütung der Beschäftigten deutlich zu verbessern. Soziale Arbeit wird überwiegend von Frauen geleistet, der Gender Pay Gap ist deshalb auch hier zu überwinden und eine Aufwertung der Arbeit zu erreichen. Gleichzeitig müssen die Wege in und aus Care-Tätigkeiten heraus zugänglicher gestaltet werden, etwa durch eine verringerte Arbeitsbelastung und altersgerechte Beschäftigungsmöglichkeiten oder erleichterte Möglichkeiten zur Inanspruchnahme einer abschlagsfreien Erwerbsminderungsrente. Die Produktionsbedingungen sozialer Arbeit werden durch die Trägerlandschaft massiv beeinflusst. Auf Profit getrimmte Unternehmensformen haben in einer nicht-marktlich konstituierten, auf die Deckung von sozialen Bedarfen ausgerichteten Versorgungslandschaft nichts zu suchen. Stattdessen bedarf es neuer wettbewerblicher Rahmenbedingungen, die Qualität, nicht den Preis in den Vordergrund stellen. In der staatlichen Förderpolitik muss die Benachteiligung gemeinnütziger Akteure aufgehoben werden. So sind etwa zahlreiche Förderprogramme im Bereich der Digitalisierung ausdrücklich nur an gewerbliche Anbieter gerichtet, während gemeinnützige Anbieter davon ausgeschlossen sind. Angesichts der Potentiale der Einführung neuer Technologien in den sozialen Diensten dürfen nicht ausgerechnet diese benachteiligt werden. Die Gemeinnützigkeit muss ohne Einschränkung erhalten bleiben, dazu müssen Wohlfahrtsverbände und gemeinnützige Organisationen auch im politischen Raum wieder stärkere Mitsprachemöglichkeiten erhalten. Das ist notwendig, um die skizzierten Potentiale der Wohlfahrtspflege entwickeln zu helfen und das zivilgesellschaftliche Netzwerk der gemeinnützigen Initiativen zu nutzen, um die Demokratie nicht nur gegen ihre Verächter zu verteidigen, sondern auch um lokale Partizipations- und Wirkungserfahrungen zu ermöglichen: "Gestaltungserfahrungen schützen vor Rechtspopulismus: Diejenigen in dieser Sub-Gruppe, die sich ehrenamtlich engagieren und Mitglied in einer Nicht-Regierungsorganisation sind, wählen signifikant seltener AfD"(26).

Die Wohlfahrtspflege hat sich in den vergangenen Jahren als wandelbare, anpassungsfähige und dabei sozial äußerst innovative Organisationsform erwiesen, die zudem eine über hundertjährige Erfahrung darin hat, Selbstorganisation von Menschen mit gemeinnützigen Dienstleistungen zu sozialen Zwecken zu verbinden. Das wird künftig mehr denn je gefordert sein.


Anmerkungen

(1) Dr. Joachim Rock ist Abteilungsleiter für Arbeit, Soziales und Europa im Paritätischen Gesamtverband. Der Artikel gibt seine persönliche Meinung wieder.

(2) Dazu zählen die Arbeiterwohlfahrt, der Deutsche Caritasverband, der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband, das Deutsche Rote Kreuz, das Diakonische Werk der EKD und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland.

(3) Vgl. Oliver Ehrentraut/Tobias Hackmann/Lisa Krämer/Anna-Marleen Plume 2014: Ins rechte Licht gerückt. Die Sozialwirtschaft und ihre volkswirtschaftliche Bedeutung. In: Friedrich Ebert Stiftung, WISO direkt, Bonn, März 2014.

(4) Katharina Dengler/Britta Matthes 2015: Folgen der Digitalisierung für die Arbeitswelt. Substituierbarkeitspotenziale von Berufen in Deutschland. IAB-Forschungsbericht 11/2015. Nürnberg, S. 14.

(5) Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung 2017: Raumordnungsbericht 2017. Daseinsvorsorge sichern. Bonn, Juni 2017, S. 123.

(6) Uta von Schrenk 2019: Monopoly im Pflegeheim. In: Hans Böckler Stiftung. Magazin Mitbestimmung. Ausgabe 01/2019.

(7) Vgl. Ulrich Schneider 2014: Mehr Mensch! Gegen die Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt am Main, S 131 ff.

(8) Der Survey "Zivilgesellschaft in Zahlen" 2017 weist im 3. Sektor insgesamt 603.886 eingetragene Vereine und demgegenüber 11.400 gemeinnützige GmbH, 17.274 Stiftungen und 1.322 Genossenschaften aus.

(9) "Wir werden das bisherige absolute Verbot einer Gewinnausschüttung überprüfen und die Begrenzung der freien Rücklagenbildung für Sozialunternehmen wachstumsfreundlicher gestalten." SPD Bundestagsfraktion 2016: #Neue Erfolge. Soziale Innovationspolitik. Innovation neu denken. Berlin, S. 6.

(10) Chris Langner 2018: Formierte Zivilgesellschaft. Frankfurt am Main, S. 295 f.

(11) Mercator Forschungsverbund 2012: Sozialunternehmer - Chancen für soziale Innovationen in Deutschland. S. 9. Zur Kooperation zwischen Wohlfahrtsverbänden und Entrepreneurs vgl. Joachim Rock: Nicht immer, aber immer öfter. In: Berthold Becher/Ingrid Hastedt (Hrsg) 2018: Innovative Unternehmen der Sozial- und Gesundheitswirtschaft. Wiesbaden, S. 189-208.

(12) Frank Nullmeier 2002: Auf dem Weg zu Wohlfahrtsmärkten? In: Süß, Werner (Hrsg.); Deutschland in den neunziger Jahren. Opladen, S. 273.

(13) Wolfgang Schröder 2017: Kollektives Beschäftigtenhandeln in der Altenpflege. Hans-Böckler-Stiftung. Düsseldorf.

(14) Michaela Evans 2016: Arbeitsbeziehungen in der Care-Arbeit im Wandel. Friedrich-Ebert-Stiftung. Bonn, S. 45.

(15) Heinz Jürgen Dahme/Norbert Wohlfahrt2012: Produktionsbedingungen Sozialer Arbeit in Europa, S. 129.

(16) Michael Büstrich/Norbert Wohlfahrt 2008: Die Ökonomisierung sozialer Arbeit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 12/13 2008.

(17) Vgl. Tina Groll 2018: Das schlechte Gewissen arbeitet immer mit. In: Die Zeit vom 17. Juni 2018. Im Internet:
https://www.zeit.de/wirtschaft/2018-06/altenpflege-arbeitsbedingungen-fachkraeftemangel-pflegenotstand/komplettansicht Stand: 19.02.2016.

(18) Anne-Christin Gröger: Auf Kosten der Qualität? Private Pflegeheime punkten mit dem Preis. In: Ärzte Zeitung online vom 19.02.2016,
https://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/pflege/article/901455/kosten-qualitaet-private-pflegeheime-punkten-preis.html, Stand: 22.03.2019.

(19) Vgl. Joß Steinke/Thomas Bibisidis; Die Sicherung und Weiterentwicklung des Sozialstaates ist nichts für Sprinter. In: Rolf G. Heinze/Joachim Lange/Werner Sesselmeier (Hrsg.) 2018: Neue Governancestrukturen in der Wohlfahrtspflege. Baden-Baden.

(20) Michael Büstrich/Norbert Wohlfahrt 2008: Die Ökonomisierung Sozialer Arbeit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Heft 12-13/2008 vom 17. März 2008.

(21) Tina Groll 2018: Löhne wie im öffentlichen Dienst für alle Pflegekräfte. In: Die Zeit vom 16. Oktober 2018:
https://www.zeit.de/wirtschaft/2018-10/altenpflege-verdi-allgemeinverbindlicher-tarifvertrag-jens-spahn-hubertus-heil/komplettansicht, Stand 27.03.2019.

(22) Thomas Öchsner 2014: Die Krankenschwester schuftet vergeblich. In: Süddeutsche Zeitung vom 30. April 2014, im Internet:
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/rente-mit-die-krankenschwester-schuftet-vergeblich1.1946571, Stand 27.03.2019.

(23) Bettina Kohlrausch 2018: Abstiegsängste in Deutschland. Hans Böckler Stiftung. Düsseldorf.

(24) Rita Müller-Hilmer/Jérémie Gagné 2018: Was verbindet, was trennt die Deutschen? Forschungsförderungsreport der Hans Böckler Stiftung. Düsseldorf, Februar 2018, S. 36.

(25) Jonathan Menge/Christina Schildmann/Severin Schmidt 2017: Zukunftsbranche Soziale Dienstleistungen - höchste Zeit für die Aufwertung! Friedrich Ebert Stiftung.

(26) Richard Hilmer, Bettina Kohlrausch, Rita Müller-Hilmer und Jérémie Gagné 2017: Einstellung und soziale Lebenslage. Hans Böckler Stiftung. Düsseldorf, S. 50.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 2/2019, Heft 231, Seite 47-51
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Mai 2019

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