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REDE/052: Ursula von der Leyen - Gesetzentwurf zur Ermittlung von Regelbedarfen, 29.10.10 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Rede der Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Dr. Ursula von der Leyen, zum Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vor dem Deutschen Bundestag am 29. Oktober 2010 in Berlin:


Herr Präsident!
Meine Damen und Herren!

In der Tat ist das eine große Chance. Mit diesem Gesetzentwurf schlagen wir ein völlig neues Kapitel der Sozialgesetzgebung in Deutschland auf. Wir diskutieren nicht mehr darüber, wie wir mit der Gießkanne Geld verteilen können, sondern wir reden zum ersten Mal konkret darüber: Was braucht ein bedürftiges Kind? Wie kann man seine Lebenschancen verbessern? Und vor allem: Wie können wir vor Ort dafür sorgen, dass die Hilfe beim Kind auch ankommt? Das ist das Neue an diesem Gesetzentwurf.

Das Spannende ist, dass wir jetzt die Chance haben - das ist der Geist dieses Gesetzes -, darüber zu reden: Was brauchen bedürftige Kinder? Wie kann man ihr individuelles Recht auf Teilhabe und Bildung umsetzen? Wie kann man ihr Recht auf Lebenschancen, durch Aufstieg, durch Bildung, umsetzen? War das der Fall, als Sie Verantwortung getragen haben? Wir sorgen im Rahmen der Hartz-IV-Gesetze, die aus Ihrer Feder stammen, dafür - das geschieht in der Sozialgesetzgebung zum ersten Mal -, dass diese Kinder mittags in der Schule mitessen können, wenn dort ein Mittagessen angeboten wird. Wir wollen, dass sie im Verein mitmachen können, dass sie Lernförderung bekommen und an den Schulausflügen teilnehmen können. Wir wollen mit diesem Gesetz das Mitmachen möglich machen. Das ist der Paradigmenwechsel.

Ich finde, die Agenda 2010 war richtig. Das ist gar keine Frage. Aber es ist auffallend, dass in den Hartz-Gesetzen damals mit überhaupt keinem Wort gesagt wurde, wie bedürftige Kinder eine reelle Chance bekommen können, das zu erhalten, was den gleichaltrigen Kindern in der Region zur Verfügung steht. Dieses Versäumnis können wir jetzt heilen. Der Bund nimmt 700 Millionen Euro dafür in die Hand. Dabei geht es um Aufgaben, die originär gar nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fallen. Die Verwaltungskosten dafür werden 136 Millionen Euro ausmachen. Ich habe das Geschrei gehört: Was für eine Mühe! Was für ein Aufwand! Diese Umsetzungskosten, die anfallen! - Das ist nun einmal die andere Seite der Medaille. Wenn wir nur Geld auszahlen müssten, dann brauchten wir nur Überweisungen zu tätigen und sozusagen den Hebel umzulegen. Dann können wir aber nur hoffen, dass irgendetwas vor Ort passiert.

Wir sagen denjenigen, die von großem Aufwand, einem Bürokratiemonster und dergleichen mehr sprechen: Wenn wir etwas für diese Kinder verändern wollen, dann müssen wir in Beziehungen und in Zuwendung investieren, dann müssen wir in die Menschen investieren, die ganz konkret vor Ort etwas verändern: in die Trainer, in diejenigen, die sich bei der Hausaufgabenhilfe engagieren, und in die Jugendleiter. Das ist bestens investiertes Geld. Damit helfen wir schon am Anfang und müssen kein Reparatursystem finanzieren, mit dem wir später versuchen müssen, das nachzuholen, was wir am Anfang versäumt haben. Aus diesen Gründen wird diese Investition an der richtigen Stelle getätigt.

Herr Kuhn, weil Sie die große Frage aufgeworfen haben - dieser Gedanke ist gar nicht falsch -, warum es nicht Ganztagsschulen mit einem warmen Mittagessen für alle Kinder flächendeckend geben soll, will ich Sie fragen: Wie wollen Sie das bis zum 1. Januar 2011 schaffen? Das ist die ganz konkrete Frage, die sich aus den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ergibt. - Wir sind dabei, das nachzuholen, was Sie versäumt haben. Der erste Schritt ist getan. Gehen Sie doch mit!

Entscheidend ist: Das Bundesverfassungsgericht hat nicht gefordert, von Bundesseite zu klären, wie Länderaufgaben übernommen werden können. Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr gesagt: In der Landschaft, wie sie sich heute für die Kinder darstellt - ich bin mit Ihnen der Meinung, dass wir in diesem Punkt besser werden müssen -, müssen wir, was bisher nicht der Fall gewesen ist, dafür sorgen, dass die bedürftigen Kinder wenigstens da mitmachen können, wo die anderen Kinder schon aktiv sind. Das ist etwas, wofür ich mich einsetze.

Lieber Herr Heil, ich habe mich damals als Sozialministerin in Niederschachsen - das kann ich offen sagen - gefreut, als das Ganztagsschulprogramm kam. Dieses Programm war der richtige Schritt; es hat, ganz unbenommen, viel in diesem Land bewegt. Vor Ihnen steht eine Ministerin, die mit derselben Leidenschaft in der letzten Legislaturperiode gemeinsam mit Ihnen in diesem Haus dafür gesorgt hat, dass wir den Ausbau der Kinderbetreuung, mit zwölf Milliarden Euro unterlegt, voranbringen konnten und dass wir jetzt ein Gesetz haben, das den Rechtsanspruch für die Kinderbetreuung von unter Dreijährigen regelt. Das heißt, wir sind auf dem richtigen Weg.

Aber dabei handelt es sich nicht um die Hartz-Gesetze. Ich muss den Finger in die Wunde legen und sagen: Mit Blick auf die bedürftigen Kinder, also auf die Kinder von Langzeitarbeitslosen und Kinder von Sozialhilfeempfängern, frage ich Sie: Wo war Ihr Gesetzentwurf, in dem Sach- und Dienstleistungen für bedürftige Kinder enthalten waren? Darüber wurde niemals ein Wort verloren. Das, was Sie nicht vorgelegt haben, kann der Bundesrat ja wohl nicht beschließen. Jetzt sind wir zum ersten Mal an der Stelle, dass wir Sach- und Dienstleistungen für die bedürftigen Kinder, also konkrete Hilfe vor Ort, anbieten können. Da bin ich mit dabei.

Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, Frau Ferner, dass wir bis Ende dieses Jahres Zeit haben, um das Urteil umzusetzen. Aber es hat ebenso konzediert, dass das Gesetzgebungsverfahren erst in die Wege geleitet werden kann, wenn die Zahlen vorliegen. Originalton des Gerichtes war: Diese Zahlen liegen erst im Herbst vor.

Wir haben den Gesetzentwurf im Herbst vorgelegt. Aber weil wir wissen, dass wir, wenn wir einen Paradigmenwechsel wollen, wenn wir für die bedürftigen Kinder vor Ort konkret etwas verändern wollen, sehr viel früher ansetzen müssen, haben wir bereits im Februar begonnen, gemeinsam mit Experten, Pädagogen, Schulleitern, Jobcentermitarbeitern konkret zu definieren, was bedürftige Kinder brauchen. Wir haben uns seit dem Sommer mit den Ländern, den kommunalen Spitzenverbänden, den Wohlfahrtsverbänden, denjenigen, die vor Ort die Arbeit machen, zusammengesetzt. Jetzt befinden wir uns im Gesetzgebungsverfahren. Wir haben die Möglichkeit, einen Rahmen dafür zu schaffen, dass tatsächlich zum ersten Mal für die bedürftigen Kinder in Deutschland nicht nur Bargeld ausgezahlt wird, sondern konkrete Hilfe bei den Kindern vor Ort ankommt. Ich bitte Sie schlicht und einfach: Machen Sie mit, blockieren Sie nicht, sondern seien Sie auf diesem Weg an unserer Seite, und schreiten Sie mit uns gemeinsam voran!

Mir ist bei dem Bildungspaket wichtig, dass wir eine Subjektförderung einführen können. Zum ersten Mal besteht die Möglichkeit, dass über die Förderung des einzelnen Kindes das Geld genau in den Verein, in die Musikschule, in die Lernförderung, in die Hausaufgabenhilfe geht, wo man sich um die Kinder kümmert. Wenn die Kinder kommen, fließt das Bundesgeld über diese Kinder dort hinein. Wenn die Kinder wegbleiben, bleibt auch das Bundesgeld weg. Zum ersten Mal erhalten die Institutionen nicht blindlings Mittel, egal ob sie sich um die Kinder kümmern oder nicht. Vielmehr geht das Geld über die Subjektförderung in genau die Angebote vor Ort, bei denen Qualität und Nachhaltigkeit garantiert sind. Genau so sollten Bundesmittel effizient eingesetzt werden.

In der Agenda 2010 ging es um Fördern und Fordern, das auch Sie angesprochen haben. Fördern und Fordern ist immer noch richtig. Aber es reicht eben nicht. Der Einsatz der arbeitsmarktpolitischen Mittel ist der richtige Ansatz. Wir kehren mit der zur Verfügung gestellten Summe auf den Pfad zurück, Herr Heil, der 2006 eingeschlagen wurde. Wir haben heute bereits 300.000 Bedarfsgemeinschaften weniger im SGB II, in der Langzeitarbeitslosigkeit als 2006. Das heißt, wir haben mehr Geld zur Verfügung für weniger Menschen, die Hilfe brauchen. Die behutsame Zurückführung der Mittel ist also richtig.

Die Chancen für die Langzeitarbeitslosen waren noch nie so gut wie heute. Der Arbeitsmarkt brummt, er ist robust, die Zahl der Arbeitslosen liegt unter der Drei-Millionen-Grenze. Was mir ganz wichtig ist: Wir haben bei jeder Krise in den vergangenen zwanzig, dreißig Jahren, angefangen bei den Ölkrisen, einen konstanten Anstieg der Sockelarbeitslosigkeit, der verfestigten Arbeitslosigkeit, zu verzeichnen gehabt. Zum allerersten Mal ist jetzt die Sockelarbeitslosigkeit, die verfestigte Arbeitslosigkeit, gesunken. Es sind heute 100.000 Langzeitarbeitslose weniger als vor der Krise. Das zeigt, was möglich ist. Die Menschen müssen in Arbeit vermittelt werden; wir sollten nicht darüber diskutieren, wie wir sie in der Passivität halten, sondern darüber, wie wir ihnen im Zuge des Aufschwungs auf dem Arbeitsmarkt Chancen geben.

Wir brauchen jeden. Wir gehen auf eine sehr riskante Fachkräftelücke zu. Wir wissen, dass die Arbeitsgesellschaft älter und zahlenmäßig geringer wird. Aber das muss kein unüberwindbares Problem sein, sondern es kann eine Chance sein für diejenigen, die bisher am Rand standen: für die Frauen, für Ältere, vor allem für benachteiligte Kinder und Jugendliche.

Deshalb muss nach dem Fördern und Fordern der Agenda 2010 - das ja richtig ist - das neue Thema für das Jahr 2020 vor allem das Bildungspaket für bedürftige Kinder sein; das muss das große Motto dieses Landes werden.

Ich sage noch einmal: Der Weg war richtig. Der Weg zu dem robusten Arbeitsmarkt, den wir heute haben, setzt sich zusammen aus den Arbeitsmarktreformen, die damals von Bundesrat und Bundestag gemeinsam verabschiedet worden sind, und einem klugen Krisenmanagement der Regierung Merkel in den letzten fünf Jahren. Wir sind aus der Krise stärker herausgegangen, als wir hineingegangen sind. Wir sollten heute anerkennen, dass das hervorragend gewesen ist.

In dem Geiste, dass man die großen Schritte nie alleine schafft - keiner hat den Stein der Weisen -, sondern dass wir die Vernünftigen in der Mitte zusammenführen müssen, bitte ich Sie, dass wir uns frühzeitig zusammensetzen, damit wir in den Verhandlungen etwas Vernünftiges zustande bringen. Wir sollten nicht im Vermittlungsausschuss im Dezember bei Themen, die miteinander nichts zu tun haben, Abmachungen treffen, sondern vernünftig und konkret an den großen Themen, an denen uns allen hier im Hohen Hause liegt, arbeiten.

Die Tür ist offen. Ich bin verhandlungsbereit. Kommen Sie mit auf den Weg zu Aufstieg durch Bildung und zum Bildungspaket für die Kinder. Das muss das Motto der nächsten zehn Jahre sein.


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Quelle:
Bulletin Nr. 109-2 vom 29.10.2010
Rede der Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Dr. Ursula von der Leyen,
zum Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur
Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vor dem
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2010