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WOHNEN/105: Der Kiez als Heimat (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2012

"Hier fühl ich mich wohl, hier lebe ich!"
Der Kiez als Heimat

Von Susanne Wolkenhauer



Mit dem Programm "Soziale Stadt" versuchen Bund und Länder seit 1999 Problembezirke lebenswerter zu gestalten und die Chancen der dort Lebenden zu verbessern. Was hat sich seitdem getan? Welche Herausforderungen gilt es noch zu meistern?

"Frau Nachbarin, wie geht's denn so?" - Sabine S. ist auf dem Weg von der Bushaltestelle nach Hause, mit kurzemStopp am Eck-Kiosk. Bei Brathühnchen- und Dönerduft tauscht sie ein paar Worte mit Mehmet, der am Grill steht. Dann geht's weiter zum Bäcker, der bei ihrem Anblick gleich die täglichen fünf Brötchen in die Papiertüte steckt. Schließlich, nach einem kurzen Plausch mit der Nachbarin, steigt sie die Treppen hoch ins traute Heim.

So richtig groß ist ihre Wohnung nicht, auch nicht wirklich hell, und einen Balkon hat sie auch keinen - aber auf die Frage, ob sie sich nicht mal was Neues suchen würde, meint Sabine S. fast empört: "Hier wegziehen? Nee, kommt mir gar nicht in die Tüte! Hier kenn' ich alle, weiß, wo was ist. Und auch wenn der Kiez hier nicht so ne angesagte Gegend ist: Hier bin ich zuhause und hier bleibe ich."


Wenn es knackt und knirscht im Getriebe

Zuhause sein, für sich eine Heimat gefunden haben, ein Kiez-Gefühl entwickeln - das ist für viele, gerade auch in größeren Städten, ein essenzielles Wohlfühl-Kriterium. Dahinter stecken mehrere Faktoren, die sich nicht ausschließlich durch Stadtplanung oder Verschönerungsprogramme steuern lassen: Natürlich ist eine für den täglichen Bedarf ausreichende Infrastruktur, die Versorgung mit Läden, Kitas und Schulen, Arztpraxen oder auch Cafés, Sport- und Kultureinrichtungen eine schöne Sache. Ebenso, wenn den Straßenrand gepflegte Grünanlagen zieren statt ausgedienter Kühlschränke. Aber alles ist es nicht - saubere Straßenzüge und ein Lebensmittelmarkt an der nächsten Ecke machen per se weder einen Kiez noch Heimatgefühle aus.

Der "Kiez" - das ist eine als eigenständig empfundene Stadt-Gegend, ein überschaubarer Rahmen von oft wenigen Straßenzügen. In einer Großstadt, in der ein einzelner Stadtbezirk mal eben ein paar Hunderttausend Einwohner haben kann, braucht es eine kleinteiligere Struktur, vielleicht schon schlicht als Notwehr gegen die als überwältigend empfundene Anzahl von Menschen, Straßen, Häusern rundum. "Noch nie gehört von dem Laden, muss jenseits des Kanals liegen". Oft genug bilden viel befahrene Straßen, Wasserwege, S-Bahn-Gleise, Parks oder andere städtebauliche Einschnitte die Grenzen des eigenen Kiezes, der alltäglich erlebten Gegend, in der man sich auskennt und eben zuhause fühlt.

Doch was, wenn dem nicht so ist? Wenn es knackt und knirscht im Getriebe eines Viertels, wenn es "runterkommt", sich die Leute "nicht grün sind", vielleicht sogar die Kriminalitätsrate nach oben schnellt? Wenn Menschen dort nur wohnen, weil sie sich die Mieten in einer besseren Gegend nicht leisten können, und eher verschämt damit herausrücken, wo ihre Adresse ist? Und wenn sowohl Anwohner schickerer Gegenden als auch Stadt- und Sozialplaner mit einem unguten Gefühl auf bestimmte Teile des Stadtplans blicken, bis im Extremfall der Abriss von "schwierigen" Wohnanlagen gefordert wird - als ob man der Probleme, oft nicht zuletzt aus verfehlter Stadtplanung entstanden, damit Herr werden könnte?


Soziale Stadtentwicklung statt Sprengung

Weg mit den Glasscherbenvierteln, mit den Schandflecken der Stadt: Noch 1998 hatte der damalige Berliner CDU-Fraktionsvorsitzende Klaus Landowski mit Blick auf bekannte "Brennpunktgebiete" öffentlich gefordert, doch den Mut zu haben, "Gebäude wie das Neue Kreuzberger Zentrum [Kottbusser Tor] oder den Sozialpalast zu sprengen".

Glücklicherweise kam es anders: Unter anderem startete 1999 das Bund-Länder-Programm "Soziale Stadt", das seitdem zusammen mit dem "Quartiersmanagement" den Negativ-Tendenzen in "Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf" entgegenwirken soll. Darin enthalten waren von Anfang an sowohl städtebauliche Ziele, die Verbesserung der Infrastruktur vor Ort als auch Schwerpunkte in den Bereichen Bildung, Integration und Gesundheit der Bewohnerinnen und Bewohner sowie die Förderung des nachbarschaftlichen Zusammenlebens und die Übernahme von Verantwortung für die Gegend vor der eigenen Haustür.

An der stetig steigenden Zahl teilnehmender Stadtteile lassen sich sowohl die Erfolge des Programms ablesen als auch der gestiegene Bedarf, der Segregation in "gute" und "schlechte" Viertel entgegenzuwirken: Seit dem Start mit bundesweit 161 Stadtteilen erhöhte sich die Zahl allein bis zum Jahr 2010 auf 603.

Solche Stadtteile haben mit verschiedenen Schwierigkeiten zu kämpfen. Die Kriterien für die Festsetzung als Fördergebiet sind beispielsweise ein hoher Anteil an Arbeitslosen und Empfängern staatlicher Transferleistungen, oft sind diese Gebiete geprägt durch einen hohen Migrantenanteil. Neben Daten zur Altersstruktur, der städtebaulichen und ökonomischen Lage oder zum Gesundheitsstatus fließen auch Beobachtungen zur Fluktuation in die Kriterienliste ein - wenn etwa finanziell besser gestellte und oft bildungsnähere Familien wegziehen, verbessert das die Lage nicht.


Mitmachen schafft Identifikation

Hässliche Ecken, wenige Möglichkeiten sich zu begegnen und Nachbarschaft zu erleben: Gerade in neu ausgewiesenen QM-Gebieten machen Baumaßnahmen oft einen guten Anteil der Arbeit vor Ort aus, vom Park anstelle eines Parkplatzes über gemeinsam mit den Schüler/innen gestaltete Schulhöfe bis zur Einrichtung von Nachbarschafts- und Familientreffs. Das Besondere daran ist: Diese Veränderungen ihres Stadtteils werden den Menschen nicht "vor die Nase geklotzt", sondern sie können mitreden. Diskussionsveranstaltungen, Möglichkeiten Ideen einzubringen und sie dann tatsächlich Wirklichkeit werden zu sehen - auch wenn so etwas für Stadtentwickler vielleicht unbequem und mit einem höheren Aufwand verbunden ist, es zahlt sich aus, denn in "meinem Park" fühle ich mich wohler; und ich behandle ihn auch besser.

Mitreden, mitbestimmen, Verantwortung für den eigenen Stadtteil übernehmen, das sind Schlüsselthemen in der Quartiersmanagement-Arbeit. Auf Stadtteiltreffen und in Diskussionsrunden ist Platz für persönliche Anliegen, doch auch in der Entscheidung darüber, welche Projekte für den Kiez starten sollen, also an der Vergabe der Fördermittel, haben die Menschen vor Ort als Fachleute für ihren Kiez entscheidend Anteil. So treffen sich regelmäßig ehrenamtliche Beiräte oder "Quartiersräte", Gremien aus öffentlich gewählten Anwohner/innen und Vertreter/innen der vor Ort aktiven Einrichtungen und Initiativen, um über Projektideen und -anträge mitzubestimmen. Das geschieht nicht im luftleeren Raum. Immer steht der Gedanke der Vernetzung im Hintergrund: örtliche Verwaltung und Politik, Wohnungsbaugesellschaften, Polizei, städtische und private Träger und weitere Partner aus Bildungs-, Kultur- oder sonstigen Bereichen sind je nach Themenfeld mit eingebunden. Denn nur gemeinsam können tragfähige und über eine Förderung hinaus nachhaltige Verflechtungen entstehen.

Über mehrere Jahre beobachtet - Quartiersmanagement ist keine Maßnahme, die sofort Wirkung zeigt - springen die Erfolge der "geförderten Projekte" ins Auge: Im neu geschaffenen Nachbarschaftstreff starten Angebote für alle Altersgruppen, auf dem Spielplatz steigt das Kiez-Sommerfest, beim regelmäßigen Trödelmarkt auf dem neu gestalteten Platz plauschen die Leute miteinander... Der Schwerpunkt der Aktivitäten verschiebt sich von den anfänglichen Baumaßnahmen über die Jahre in Richtung der Bereiche Soziales, Bildung, Kultur/Kulturen, Integration etc..

Ob sich Nachbarinnen und Nachbarn beim Bau von bepflanzten Skulpturen in ihren Straßen näher kommen, erfolgreiche Jugendliche den Jüngeren auf der Straße "verklickern", warum es schlau ist, in der Schule mitzumachen. Ob sich lokale Gewerbetreibende vernetzen und gemeinsame Marketing-Strategien entwickeln, Mütter bei Deutschkursen ihre Kinder getrost in die Hände von Betreuerinnen geben oder bei einer "Lesung in 10 Runden" Schau-Boxkämpfe das Rahmenprogramm über die Historie des eigenen Stadtteils bilden: Die Liste solcher Projekte ist lang und schlägt einen großen Bogen.

Was das alles mit dem Kiez als Heimat zu tun hat? Viel! Denn es geht ja gerade darum, die Nachbarn aus verschiedenen Kulturkreisen kennen und schätzen zu lernen, die Gegend vor der eigenen Haustür mit zu gestalten, vor Ort kulturelle, gesundheitsfördernde oder Bildungs-Angebote zu finden, sprich: Das Gefühl zu haben, am richtigen Ort und zuhause zu sein. Und genau dieses Gefühl ist Voraussetzung dafür, sich für eben jenen Ort zu engagieren und gemeinsam mit anderen weiter an seiner Entwicklung zu stricken.


Unsichere Zukunft für die soziale Stadt

Ein Problem haben viele dieser Projekte gemeinsam: Erfolge sind schlecht messbar. Um wie viel besser kommt jemand mit seinen Nachbarn aus, seitdem sie gemeinsam das Zuckerfest gefeiert haben? Wie viel lieber gehen Jugendliche zur Hausaufgabenhilfe in ihren Club, den sie mit künstlerischen Graffitis selbst gestaltet haben?

Sehr wohl messbar ist hingegen der Umgang von Verkehrsminister Peter Ramsauer mit dem Programm Soziale Stadt. Entgegen aller Expertenmeinungen und bundesweiten Proteste wurde der Bundesanteil am Programm von 95 Millionen (2010) auf derzeit 40 Millionen Euro gekürzt. Noch gravierender wird diese Einsparung dadurch, dass seit 2011 nur noch "investive", also Bau-Maßnahmen mit den verbleibenden Mitteln gefördert werden dürfen - Fachleute kritisieren das Aus für die soziale Komponente der Sozialen Stadt.

Das Land Berlin geht seit 2011 einen eigenen Weg: Trotz klammer Kassen gleicht die Stadt die fehlende Summe aus, so dass auch weiterhin Projekte aus dem sozialen Bereich stattfinden können. Denn dass in jahrelanger Arbeit aufgebaute Netzwerke und Initiativen sterben, die "Quartiere mit besonderem Entwicklungsbedarf" Gefahr laufen wieder abzurutschen und dann kostspielige "Feuerwehreinsätze" die Auswirkungen auffangen müssen, daran kann niemandem gelegen sein.

Wenn sich die Lage in einem Quartier stabilisiert, wird es schrittweise aus der Förderung entlassen. Doch gerade die Stabilisierung kann auch wiederum neue Probleme schaffen: "Wir bleiben alle! Unser Kiez soll dreckig bleiben!" ist beispielsweise auf einer Berliner Hauswand zu lesen. Ohne Glasscherben-Image drohen nämlich die Mieten zu steigen - mit dem Effekt, dass sich die Alteingesessenen ihr eigenes Viertel nicht mehr leisten können. Dies ist eine Zwickmühle, in der auch der politische Wille gefragt ist, Wege zur Regulierung zu finden

Noch ist nicht klar, wie die Zukunft des Programms "Soziale Stadt" aussehen wird. Fest steht: Auch zukünftig wird es gerade in den "schwierigen" Vierteln darum gehen, keinen auszugrenzen, das Leben vor Ort angenehmer zu machen, ein friedliches Zusammenleben ebenso zu stärken wie die Chancen für die Menschen durch Angebote in ihrem Lebensumfeld zu verbessern. Damit es nicht knackt und knirscht im Stadtteilgetriebe, sondern der eigene Kiez ein Ort ist, an dem man gerne lebt - mit dem Gefühl "Hier bin ich zuhause".


Susanne Wolkenhauer arbeitet als freie Journalistin in Berlin, unter anderem seit mehr als zehn Jahren zum Themenbereich "Quartiersmanagement/Quartiersentwicklung".
(wolkenhauer@tulip-photo.de)

Für Interessierte zum Weiterlesen:

http://www.staedtebaufoerderung.info > Soziale Stadt
http://soziale-stadt-retten.de
http://www.quartiersmanagement-berlin.de
http://gentrificationblog.wordpress.com

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2012, S. 25-28
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und Peter Struck
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Dezember 2012