Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → WIRTSCHAFT


AGRAR/1770: Kritischer Agrarbericht 2016 - Wachstum, und wenn ja, wohin? (Der RABE RALF)


DER RABE RALF
Nr. 190 - Februar/März 2016
Die Berliner Umweltzeitung

Wachstum, und wenn ja, wohin?
Der Kritische Agrarbericht 2016 ist erschienen

Von Jörg Parsiegla


Grüne Woche in Berlin. Sie ist eine der "Muttermessen" in der Hauptstadt - seit immerhin 90 Jahren (in denen sie zum 81. Mal stattfand). Was mit einer schlichten lokalen Warenbörse im Premierenjahr 1926 anfing und in den Folgejahren mit dem regelmäßigen Auftauchen grüner Lodenmäntel im Stadtbild assoziiert wurde, hat sich nach Aussagen der Messemacher zur weltweit bedeutendsten Ausstellung für Landwirtschaft, Ernährung und Gartenbau entwickelt. Ideelle Träger der Messe sind der Deutsche Bauernverband (DVB) und die Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE), die beide nur zu gern die Deutungshoheit darüber beanspruchen, was hierzulande auf den Tisch kommen soll. Teile der Zivilgesellschaft, insbesondere kritische Verbraucher, sind da etwas weiter und erlauben sich, auch nach dem woher und wie zu fragen. Und so findet jedes Jahr parallel zur Präsentier- und Feierlaune der Messe eine politische Debatte zu der Frage statt, "wie dem blinden Weiter-So! der Agrarindustrie etwas Sinnvolleres entgegenzusetzen ist."

Mit diesem Zitat aus dem Editorial lässt sich umreißen, worum es in den Beiträgen des diesjährigen Kritischen Agrarberichts im Endeffekt geht: "eine bäuerliche Landwirtschaft, die ihrer Verantwortung sowohl der Gesellschaft gegenüber gerecht wird, als auch gegenüber den Tieren und der Natur, mit und von der wir alle leben."

Herausgeber des seit 1993 jährlich erscheinenden Agrarberichts ist das AgrarBündnis - ein Zusammenschluss von derzeit 24 Verbänden der bäuerlichen und ökologischen Landwirtschaft, des Umwelt- und Naturschutzes, des Tierschutzes, der Entwicklungszusammenarbeit sowie der Kirchen mit insgesamt mehr als einer Million Einzelmitgliedern. Jeweils pünktlich zum Start der Grünen Woche präsentiert, spannt der Kritische Agrarbericht einen Bogen über die gesamte thematische Breite der agrarpolitischen Debatte eines Jahres vor dem Hintergrund der europäischen und weltweiten Entwicklung. Schwerpunkt des diesjährigen Berichts, bezogen auf die aktuelle Agrarpolitik und die soziale Lage der Bauern, ist das Thema Wachstum, dem sich knapp die Hälfte der 47 Beiträge des Papiers widmet.

Weniger ist mehr

Seit Jahrtausenden ist der Mensch auf Wachstum programmiert. Zwar gab es immer wieder Rückfälle in finstere Zeiten, etwa wenn die Quellen des Wachstums versiegten - fruchtbarer Boden rar wurde oder nicht mehr genug Wasser zur Verfügung stand (selbst in Kriegen ging es um meist nichts anderes), aber die Tendenz, auch nach Jahrzehnten und zum Teil Jahrhunderten des Stillstands, blieb dieselbe: Wachsen!

Wie groß muss da die (vor)denkerische Leistung gewesen sein, dieses Mantra in Frage zu stellen beziehungsweise ad absurdum zu führen. Genau das taten bereits in den 1950er und 1960er Jahren Ökonomen wie Nicholas Georgescu-Roegen oder Kenneth E. Boulding. Deren Überlegungen führten 1972 folgerichtig zur Veröffentlichung des Berichts Die Grenzen des Wachstums an den Club of Rome. Dabei ist die Rechnung eigentlich simpel: "Dauerhaftes Wachstum ist auf einem begrenzten Planeten nicht möglich". Mit ihrem Überblick bezüglich der aktuellen wachstumskritischen Diskussion in Wirtschaft und Gesellschaft liefern die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlerin Irmi Seidl und die Ökonomin und BUND-Ehrenvorsitzende Angelika Zahrnt einen von drei Grundsatzbeiträgen zur Einleitung des Agrarberichts.

Auch zurzeit läuft unter dem Motto Weniger ist Mehr in vielen Gesellschaften Europas erneut eine Diskussion über die Grenzen des Wachstums. Und selbst wenn die Politik nach wie vor auf wirtschaftliches Wachstum als Allheilmittel zur permanenten Krisenbewältigung setzt, ist diese Ideologie offenbar brüchig geworden.

Wachstum sei auch in der Landwirtschaft längst kein Indikator mehr für Wohlstand, sagte Frieder Thomas, Geschäftsführer des AgrarBündnisses, während der Präsentation des Berichts. Selbst der Idee des "Grünen Wachstums" als Verbindung zwischen Wachstum und Ökologie wird eine Absage erteilt. Denn es käme allenfalls im "Grünen Gewand" daher, da es de facto nirgendwo stattfindet. Zukunftsfähig seien "allein agrarökologische Formen bäuerlicher Landwirtschaft", so Reinhild Benning und Tilman Santarius (beide von Germanwatch, Referentin und Vorstandsmitglied). "Nur sie führen zu einer ökologisch tragfähigen und sozial gerechten Landnutzung sowie zu einer gesunden Ernährung der Weltbevölkerung."

Weniger ist schwer

Mehr Wachstum, höhere Exporte und starker ökonomischer Druck: Auch die Situation in der Landwirtschaft ist geprägt von der Auseinandersetzung "Wachse oder Weiche". Über Jahrzehnte hat sich die Agrarwirtschaft diesem Diktat gebeugt, das vom DBV in den Rang eines Naturgesetzes erhoben wurde. Doch auch hier dürften die Grenzen des Wachstums längst überschritten sein. Denn mit dem agrarindustriellen Wachstum wachsen auch die Probleme mit: beim Tierschutz, bei der Nährstoffversorgung der Böden, beim "Einsatz von Pestiziden, beim Schutz der biologischen Vielfalt, aber auch bei der Arbeitssituation der betroffenen Menschen. All diese Probleme nimmt der Kritische Agrarbericht 2016 unter die Lupe.

Auch das Wachstum der Ökobranche wird kritisch beleuchtet." Dort lasse sich derzeit eine "Konventionalisierung" beobachten, schreibt der Agrarwissenschaftler Franz-Theo Gottwald in seinem Beitrag zu Kapitel 3 (Ökologischer Landbau) des Agrarberichts. Zunehmend gelte die marktwirtschaftliche Logik des "Wachsens oder Weichens". Als alternatives Anbausystem benötige der Ökolandbau deshalb dringend ein eigenes, wertebezogenes Wachstumsverständnis sowie ein Leitbild qualitativen Wachstums, das sich vom industriellen Wettbewerbssystem abhebe. Ein Wachstum ohne Wertschöpfung sei abzulehnen.

Viele andere Themen des Kritischen Agrarberichts abseits des Schwerpunktthemas Wachstum stehen dennoch in engem Zusammenhang mit dem Wachstumsstreben in der Landwirtschaft. So zum Beispiel die Milchkrise 2015 und die als Folge daraus dramatisch gesunkenen Milchpreise (S. 40-46), die Auseinandersetzung um die Wiederzulassung von Glyphosat und die äußerst zweifelhafte Rolle der Behörden dabei (S. 64-73) oder die fortschreitende Konzentration in der Tierhaltung und den Streit um die Düngeverordnung (S. 200-205).

Seit Jahren ein Thema im Bericht ist auch die Exportorientierung der deutschen wie der europäischen Landwirtschaft mit ihren fatalen Auswirkungen auf die Erzeugerpreise hierzulande, aber auch auf die Märkte im globalen Süden.

Agrarwende? Fehlanzeige!

Die Chancen für eine nachhaltige Agrarwende sehen trotz des in den letzten Jahren gewachsenen Bewusstseins der Bevölkerung weg vom Geiz-ist-geil-Image alles andere als rosig aus. Statt des angestrebten und von einem Großteil der Gesellschaft gewünschten Strukturwandels hin zu einer bäuerlichen Landwirtschafi hat die verfehlte Politik der Weltmarktorientierung seitens EU-Kommission, Bundesregierung, Bauernverband und Ernährungsindustrie die Bäuerinnen und Bauern in eine tiefe Marktkrise gestürzt. Insbesondere die Milch-, aber auch die Schweinebauern müssen seit anderthalb Jahren ihre Produkte weit unterhalb der Kostendeckung abliefern. Viele Bauernhöfe sind in ihrer Existenz bedroht, das Gespenst des Strukturbruchs geht um!

Vor diesem Hintergrund haben sich auch die Fronten zwischen konventionell wirtschaftenden Landwirten und Öko-Bauern und deren Abnehmern eher wieder verhärtet. Es wäre die Pflicht des DVB, jetzt endlich eine konstruktive Diskussion mit seinen Mitgliedern, Verbrauchern und Umweltschützern zu führen - und Druck auf die Politik auszuüben. Aber die Funktionäre des Berufsstandes scheitern an dieser Aufgabe und suchen eher den Schulterschluss mit der Macht. Besitzstandswahrung und der Unwille zu grundlegenden umweltschonenden Reformen gehen offenbar vor. Dabei ist mehr Tier- und Umweltschutz nicht nur möglich, beides ist zwingend nötig. Ein Weiter-So! gefährdet die Produktionsgrundlagen einer ganzen Industrie.

Eine große Hoffnung in dieser Situation sind nicht zuletzt die Verbraucher, sie können mit ihrem Einkaufskorb abstimmen. Wenn es gelingt, noch mehr Menschen von Lebensmitteln zu überzeugen, die unter fairen, ökologisch nachhaltigen Bedingungen hergestellt werden und transparent gekennzeichnet sind, kann zumindest ein Achtungszeichen gesetzt werden!


AgrarBündnis e.V. (Hrsg.):
Der kritische Agrarbericht 2016
AbL-Verlag Hamm, 2016
(14. Januar)
320 Seiten, 22 Euro, Paperback
ISBN: 978-3-930413-59-1

*

Quelle:
DER RABE RALF
27. Jahrgang, Nr. 190, Seite 1 + 4
Herausgeber:
GRÜNE LIGA Berlin e.V. - Netzwerk ökologischer Bewegungen
Prenzlauer Allee 8, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg
Redaktion DER RABE RALF:
Tel.: 030/44 33 91-47/-0, Fax: 030/44 33 91-33
E-mail: raberalf@grueneliga.de
Internet: www.raberalf.grueneliga-berlin.de
 
Erscheinen: zu Beginn gerader Monate
Abonnement: jährlich, 20 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. März 2016

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang