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DISKURS/101: Wirtschaftsdemokratie - eine Bedingung individueller Emanzipation (spw)


spw - Ausgabe 5/2010 - Heft 180
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Wirtschaftsdemokratie - eine Bedingung individueller Emanzipation

Von Klaus Dörre


Für lange Zeit als angestaubtes Relikt aus der Mottenkiste des Traditionssozialismus ad acta gelegt, ist Wirtschaftsdemokratie auch in den Sozialwissenschaften wieder zu einem Thema geworden.(1) Allerdings erscheint die Rückbesinnung auf entsprechende Konzepte gegenwärtig eher als Verlegenheitslösung. Angesichts der ökonomisch-ökologischen Doppelkrise wächst offenbar der Bedarf an Leitbildern, die grundlegende gesellschaftliche Weichenstellungen thematisieren. Vor diesem Hintergrund fällt die programmatische Leere auf, die in den Gewerkschaften, aber auch in weiten Teilen der politischen Linken herrscht. Spätestens mit der Implosion des staatsbürokratischen Sozialismus schien die Systemfrage passé. Zur Diskussion standen Variationen des Kapitalismus: mehr oder weniger Sozialstaat, Shareholder- oder Stakeholder-Ansatz, entfesselte oder eingebettete Märkte.


Ein anderer Dritter Weg?

Derart in den Kampf für einen modernen Teilhabekapitalismus vertieft, wurden nicht nur die regierenden Eliten, sondern auch oppositionelle Linke von der globalen Krise des Finanzmarktkapitalismus überrascht. Zu einem Zeitpunkt, als selbst marktradikale Ökonomen von "Systemfehlern"(2) sprachen, verfügten weder Gewerkschaften noch linke Parteien über glaubwürdige programmatische Alternativen. Wirtschaftsdemokratie konnte vor allem deshalb zu einem fokussierenden Begriff avancieren, weil er ideologisch als unbedenklich galt. In ihren zahlreichen Variationen handelte es sich stets um Konzepte, die einen Dritten Weg zwischen sozialreformerischem Pragmatismus und revolutionärem Kommunismus anvisierten. Trotz der Ablehnung von sowjetischer Planwirtschaft und Leninschem Sozialismus-Modell, ging es in ihren klassischen Versionen jedoch immer auch darum, den Kapitalismus zu "zerbrechen"(3), zu überwinden.

Diese Zielsetzung polarisiert noch heute. Erklären die einen Systemüberwindung zum Tabu, um sich auf die Suche nach einem "guten Kapitalismus"(4) zu begeben, erscheint Wirtschaftsdemokratie anderen als zu etatistisch, zu sozialdemokratisch und zu wenig radikal, um noch Lösungen für die drängenden Probleme der Gegenwart bieten zu können.(5) Doch auch jene, die sich positiv auf den Begriff beziehen, müssen sich angesichts tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen fragen, was an wirtschaftsdemokratischen Konzeptionen neu bedacht werden muss, um sie realitätstauglich zu machen. Eines der ungelösten Probleme ist das Verhältnis von Planungsprozessen in Wirtschaft und Gesellschaft einerseits und den Möglichkeiten zu direkter und individueller Partizipation, wie auch zur Befriedigung der Bedürfnisse nach Besonderheit, Unverwechselbarkeit, nach der Ausweitung individueller Freiheit andererseits. Leitbilder einer neuen Wirtschaftsdemokratie werden - das lässt sich unschwer prophezeien - zumindest in den entwickelten Kapitalismen nur dann Anklang finden, wenn sie diese Problematik produktiv bearbeiten. Wirtschaftsdemokratie wäre als gesellschaftliche Regulationsweise neu zu definieren, die Menschen in großer Zahl in die Lage versetzt, "ihr Leben so zu gestalten wie sie es wollen".(6)


Drei Säulen der Wirtschaftsdemokratie

Beim Versuch, diese anspruchsvolle Idee zu konkretisieren, stößt man auf eine Fülle von Schwierigkeiten. Einigermaßen elaborierte Wirtschaftsdemokratie-Konzepte leiden allesamt daran, dass sie auf unterschiedliche Ausprägungen eines organisierten Kapitalismus oder eines zentralistisch-staatsbürokratischen Sozialismus zugeschnitten sind. Das gilt selbst für die Konzeption von Ota Sik(7), einem intellektuellen Kopf der Prager Reformer. Sik benennt drei Säulen einer Wirtschaftsdemokratie: erstens neue Eigentums- und Partizipationsformen in Wirtschaft und Arbeitswelt, zweitens eine makroökonomische Verteilungsplanung, die, anders als im Staatssozialismus, auf detaillierte Produktionsvorgaben verzichtet sowie drittens eine optimale Förderung von marktwirtschaftlichem Wettbewerb einschließlich antimonopolistischer Maßnahmen gegen Kartellbildungen und die Zentralisierung wirtschaftlicher Macht. Im Kontext einer generellen Aufwertung demokratischer Verfahren spielten direkte Partizipation und Selbstbestimmung konzeptionell eine wichtige Rolle. Sik plädierte dafür, große Unternehmen auf dem Weg der Kapitalneutralisierung generell in Mitarbeitergesellschaften umzuwandeln.Innerhalb der Betriebe und Unternehmen sollten transparente, demokratische Entscheidungsstrukturen Partizipationsmöglichkeiten eröffnen. Neben materieller Partizipation der Beschäftigten an den Geschäftsergebnissen galt eine selbstbestimmte Arbeitsorganisation als entscheidende Voraussetzung für eine direkte Beteiligung an betrieblichen Entscheidungsprozessen. Individuelle Partizipationsrechte sollten jedoch auch jenseits der betrieblichen Sphäre geschaffen werden. So skizziert Sik nicht nur die Grundzüge einer makroökonomischen Verteilungsplanung mit demokratisch zusammengesetzten Planungskommissionen. Er geht soweit, Planvarianten vorzuschlagen, die der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt werden. Die jeweils beschlossene Variante sollte dann für Regierungen, nicht jedoch für einzelne Betriebe verbindlich sein.


Chance für individuelle Emanzipation

Heute wirken solche Vorschläge geradezu utopisch-revolutionär. Sie machen jedoch deutlich, dass individuelle Partizipation in wirtschaftsdemokratischen Konzeptionen keine bloße Frage von Entscheidungsebenen und betriebspolitischen Instrumenten ist. Es geht nicht allein darum, die betriebliche Mitbestimmung durch eine "Mitbestimmung in der ersten Person" zu erweitern. Vielmehr impliziert ein wirtschaftsdemokratisches Leitbild, dass sich die Individuen innerhalb wie außerhalb der Arbeitswelt besser entwickeln können. Wirtschaftsdemokratie bedeutet schon in den klassischen Konzeptionen immer auch eine Ausweitung individueller Freiheit der Angehörigen subalterner sozialer Gruppen. Sie ist als Chance und Bedingung nicht nur kollektiver, sondern immer auch individueller Emanzipation zu verstehen.

So gesehen fallen Überlegungen zu einer Mitbestimmung am Arbeitsplatz, wie sie in der Bundesrepublik seit den späten 1960 Jahren periodisch diskutiert werden, weit hinter den eigentlichen wirtschaftsdemokratischen Anspruch zurück. Von den Septemberstreiks und der außerparlamentarischen Protestbewegung inspiriert, verfolgten solche Ansätze ursprünglich einen doppelten Zweck: Sie wollte Arbeitern und Angestellten durch eine Ausweitung direkter Entscheidungsmöglichkeiten (z. B. gewählte Sprecher in allen Abteilungen) die Chance zur selbstbestimmten Gestaltung des unmittelbaren Arbeitsumfeldes geben und so Demokratisierungsansprüche stärken, von denen sich die Verfechter erhofften, dass sie auch in der Gesellschaft und nicht zuletzt in den Gewerkschaften eingeklagt würden.(8) Diese Position blieb seinerzeit selbst in der IG Metall minoritär. Anfang der 1990er Jahre schien sie kurzzeitig wieder an Aktualität zu gewinnen, weil es nun das Top-Management selbst war, das die Produktionsintelligenz, das tacit knowledge von Beschäftigten als Ressource für eine "Rationalisierung in Eigenregie" von Arbeitsgruppen und Teams entdeckt zu haben schien. Indessen stellte sich rasch heraus, dass entsprechende Varianten partizipativen Managements eher darauf zielten, vorhandene kollektive Mitbestimmungsmöglichkeiten auszuhebeln, statt einer Mitbestimmung in der ersten Person den Weg zu ebnen.


Demokratiefeindliche Arbeitsgesellschaft

Zu den bittersten Realitäten der Gegenwart gehört, dass in der zeitgenössischen Arbeitswelt selbst solche Formen direkter Beschäftigtenpartizipation auf dem Rückzug sind, die zu Beginn der 1990er Jahre aus der Perspektive eines aufgeklärten Managements noch als sinnvolle und notwendige Antworten auf den gesellschaftlichen Wandel galten. Mehr noch, die nachfordistische Arbeitsgesellschaft entwickelt - gerade auch in Deutschland - geradezu demokratiefeindliche Züge. Dafür sind im Wesentlichen drei Entwicklungen ausschlaggebend.

Erstens fordern "entgrenzte" Arbeitsformen vor allem bei qualifizierten Angestelltentätigkeiten, aber auch bei Kreativarbeitern, die als Solo-Selbstständige oder Freelancer tätig sind, mehr denn je das entscheidungsfähige und freudige "unternehmerische Selbst". Die Fähigkeit zu selbstbestimmtem Arbeiten wird in diesen Segmenten in gewisser Weise zu einem Zwang. Einem Zwang, dem ein marktzentrierter Kontrollmodus Wirkungsmacht verleiht. In diesem Kontrollregime, das häufig auf individuellen Aushandlungen beruht, hat sich die Taylorismus- und Bürokratiekritik, wie sie in den überkommenen Konzepten einer Mitbestimmung am Arbeitsplatz transportiert wurde, im Grunde erledigt. Hier geht es eher darum, den expansiven Anspruch flexibler Arbeits(zeit)konzepte, die zunehmend die Lebenszeit der Beschäftigten und ihrer Familien okkupieren, wirksam zu begrenzen.

Anders verhält es sich zweitens in den industriellen Produktionsbereichen. Dort hat sich ein flexibler Taylorismus durchgesetzt, der von dem Ideal einer qualifizierten, teilautonomen Gruppenarbeit mit demokratisch gewählten Sprechern meilenweit entfernt ist. Selbst für Hochburgen gewerkschaftlicher Organisierung gilt, dass die Chance auf eine einigermaßen sichere und halbwegs gut bezahlte Arbeit genügen soll, um Beschäftigten maximale Flexibilität und Einsatzbereitschaft abzuverlangen. Die Möglichkeit zu direkter Partizipation am Arbeitsplatz wird häufig nicht einmal mehr dann gewährt, wenn dies ökonomisch effizient wäre.

Eine derartig regressive arbeitspolitische Entwicklung war möglich, weil sich drittens auch in Deutschland ein Sektor mit prekären Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen herausgebildet hat, in welchem elementare Prinzipien des für kapitalistische Märkte eigentlich charakteristischen Äquivalententauschs außer Kraft gesetzt sind. In diesem prekären Sektor, der mit 23% Niedriglohnbeschäftigten nur sehr unpräzise bezeichnet ist, wird im Grunde Repression gegen Angst getauscht.(9) In diesem Bereich, der vor allem Dienstleistungstätigkeiten umfasst, die in überdurchschnittlichem Maße von Frauen und Migranten ausgeübt werden, dominieren Arbeitsregimes, die auf Überausbeutung und despotischer Herrschaft beruhen. Zu den arbeitspolitischen Wirkungen dieses Sektors gehört nicht nur, dass er denjenigen, die sich länger in solchen Verhältnissen betätigen, die Energie für jede Art demokratischer Partizipation raubt. Prekäre Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse wirken auch innerhalb der vermeintlich geschützten Bereiche als disziplinierende Macht. Sie fördern einen Trend zu gefügigen Lohnabhängigen, die ihre Festanstellung mit Zähnen und Klauen verteidigen und deshalb bereit sind, viele Belastungen einfach hinzunehmen, die die flexible Arbeitswelt und das verallgemeinerte Konkurrenzprinzip ihnen aufherrscht.


Wo ansetzen?

Dieses - zugegeben stark verdichtete - Szenario vor Augen, stellt sich die Frage, wo wirtschaftsdemokratische Konzepte mit ihrem Anspruch auf individuelle Emanzipation überhaupt ansetzen können. Eine erste Antwort, so scheint es, müssen Gewerkschaften und politische Linke in ihren eigenen Organisationen suchen. Wenn Partizipationsansprüche entweder für Verwertungsinteressen instrumentalisiert oder aber autoritär blockiert werden, dann ist es Aufgabe zunächst dieser Organisationen, solche Ansprüche überhaupt zu entwickeln und zu stabilisieren. In ersten zaghaften Bemühungen geschieht dies bereits. So etwa, wenn Gewerkschaften ihre Mitglieder wieder entdecken, wenn sie Standortpakte nur unter Beteiligung ihrer betrieblichen Basis schließen, wenn sie zu offensivem Organizing mit Selbstbetätigungsmöglichkeiten von Beschäftigten übergehen oder auch, wenn sie bei Themen wie dem betrieblichen Gesundheitsschutz oder der Durchsetzung von Qualitätsmaßstäben für gute Arbeit Chancen zu direkter und teilweise individueller Partizipation eröffnen.

Allerdings, das sei hinzugefügt, stellen sich Partizipationsansprüche in den unterschiedlichen Arbeitsmarktsegmenten höchst differenziert dar. Ist individuelle Entscheidungsfähigkeit bei Hochqualifizierten ein alltägliches Strukturmerkmal von Arbeitsprozessen, das Gewerkschaften in ihrer Praxis häufig unterbieten, erweisen sich im prekären Bereich häufig solche Partizipations- und Konfliktformen als besonders erfolgreich, die sich durch eine klare Hierarchiebildung und eine wirksame Top-Down-Führung auszeichnen.(10)

Ungeachtet dessen gibt es doch einen Anknüpfungspunkt für demokratische Partizipation, der sich als fraktionsübergreifender Angelpunkt einer auf die Emanzipation von Individuen gerichteten Interessenpolitik erweisen könnte. Gemeint ist das Bedürfnis nach Zeitsouveränität, nach wirklicher und individueller Verfügung über Lebenszeit. Gleich ob prekär oder nicht, die modernen Formen flexibler Erwerbsarbeit tendieren allesamt dazu, andere, z. B. reproduktive Tätigkeiten zu funktionalisieren. Und sie vereinnahmen Zeitbudgets, die nötig wären, um direkte Partizipation innerhalb wie außerhalb der Arbeitswelt überhaupt zu ermöglichen. Deshalb gehört der "Kampf um jedes Zeitatom"(11) unbedingt wieder auf die arbeitspolitische Tagesordnung. Unter den Bedingungen einer flexiblen Arbeitswelt muss er jedoch anders geführt werden, als in den 1980er Jahren. Sprich: Es kann nicht mehr allein um eine lineare Verkürzung der Wochenarbeitszeit gehen. Stattdessen müsste ein Kampf um "Zeit für Demokratie" geführt werden. Denn eines ist klar: Direkte und individuelle Partizipation innerhalb wie außerhalb von Betrieben benötigt frei verfügbare Zeit. In Zeiten sozialer Beschleunigung und Aktivierung werden freie Zeitbudgets zudem als Refugien herrschaftsfreier Reflexion benötigt. Und ohne solche Zeitreserven bleiben auch die Postulate von Geschlechterdemokratie letztendlich Makulatur. Eine institutionell garantierte Verfügung über freie Zeitbudgets, die für eine Praktizierung demokratischer Partizipation bereits gestellt werden, könnte indessen Impulse auslösen, die postdemokratischen Tendenzen wirksam entgegen wirken.


Wie ansetzen?

Doch gibt es für eine solch offensive Partizipationspolitik überhaupt Anknüpfungspunkte im Bewusstsein von Beschäftigten? Die Datenlage ist hier sicherlich ebenso unbefriedigend wie die arbeitspolitische Praxis. Unsere Belegschaftsbefragungen lassen indessen nur eine Antwort zu. In keinem der untersuchten Betriebe(12) gelingt es Betriebsräten wie Gewerkschaften auch nur annähernd, das vorhandene Beteiligungspotential zu nutzen. Bekundete Ansprüche, an betrieblichen und Unternehmensentscheidungen stärker beteiligt zu werden, aber auch die Bereitschaft, sich zu bestimmten Themen stärker in Gewerkschaften oder im Betriebsratskontext engagieren zu wollen, weist in allen Fällen deutlich über die etablierte Praxis der Interessenvertretung hinaus. Selbst in schwach organisierten Betrieben gibt es bei Minderheiten durchaus den Wunsch, sich aktiv in gewerkschaftlichen Kontexten zu engagieren. Offenbar gelingt es den Interessenorganisationen jedoch nicht, dieses Beteiligungspotential tatsächlich zu aktivieren.

Nun lässt sich einwenden, dass in Fragebögen bekundete und reale Partizipationsbereitschaft nicht identisch sind. Und in der Tat stoßen wir in unseren Befragungen auf einen merkwürdigen Widerspruch. Wir treffen auf eine Bewusstseinsform, die sich plakativ auf die Formel "guter Betrieb, schlechte Gesellschaft" bringen lässt. Tatsächlich ist die Identifikation der meisten Beschäftigten mit ihren Betrieben/Werken/Unternehmen groß. Betrieb und Unternehmen gelten - trotz allem - noch als Stabilitätsrefugien, wenngleich die Identifikation vor allem mit Stolz auf die eigene Qualifikation, mit Innovationsfähigkeit und eigener Leistungsbereitschaft begründet wird. Dies ist zugleich die subjektive Basis, aus der sich Kritik am Management, aber auch an Gewerkschaften und Interessenvertretungen speist. Und diese Identifikation mit dem Werk oder dem Unternehmen dient zugleich als Legitimation für unbefriedigte arbeitsbezogene Partizipationsbedürfnisse.

Auffällig ist jedoch, dass die Identifikation mit dem Betrieb/dem Unternehmen mit einer äußerst kritischen Sicht auf die Gesellschaft einhergeht. Jeweils deutliche Mehrheiten der befragten Arbeiter und Angestellten in Ost und West können der Aussage etwas abgewinnen, dass die dominierende Wirtschaftsweise auf Dauer nicht überlebensfähig ist. Die Daten zu den Ostbetrieben sind bereits an anderer Stelle präsentiert worden.(13) Daher sei hier nur eine Kostprobe aus den aktuellen West-Befragungen (n = 1615) geboten: Danach sind 69,3% eher der Meinung, dass es in der Gesellschaft nur noch oben und unten, aber keine gesellschaftliche Mitte mehr gibt.(14) 39,2% halten die heutige Wirtschaftsweise auf Dauer nicht für überlebensfähig (rechnet man die teils-teils Antworten hinzu 71%). 65,4% finden, dass die Interessen der Arbeitnehmer immer weniger berücksichtigt werden, 75,9% glauben, dass Arbeiternehmer wegen der internationalen Standortkonkurrenzen immer mehr unter Druck geraten, 67% meinen, der gesellschaftliche Wohlstand könnte viel gerechter verteilt werden und immerhin 42% der Befragten empfinden Hartz IV als "sozialpolitische Grausamkeit". Anders als im Osten stößt die Aussage "Kritik am kapitalistischen System führt uns nicht weiter, das sind nun mal die Spielregeln" im Westen bei einer relativen Mehrheit auf Zustimmung (35,3% stimmen voll oder eher zu, 30,7% wählen teils-teils).

Ungeachtet dieser Einschränkung gilt, dass es auch bei Arbeitern und Angestellten, die noch immer zu den relativ geschützten Stammbeschäftigten zählen, ein latentes gesellschafts- und kapitalismuskritisches Bewusstsein gibt, das jedoch gegenwärtig keinen politischen Adressaten findet. Dieses Bewusstsein ist weder bei Gewerkschaften noch bei betrieblichen Interessenvertretungen "aufgehoben" und findet häufig auch im politischen Raum keine adäquate Resonanz. Exakt hier liegt die eigentliche Problematik moderner wirtschaftsdemokratischer Vorstellungen. Zwischen den Arbeits- und dem Gesellschaftsbewusstsein der Befragten scheinen die Verbindungslinien gekappt. Offenbar fehlt es derzeit an einem intellektuellen Bezugssystem, das es Arbeitern und Angestellten erlauben würde, solche Verbindungen eigenständig herzustellen.


Wirtschaftsdemokratie als regulative Idee

Auch deshalb kann es bei der aktuellen Diskussion zunächst nicht darum gehen, fertige Konzepte und unmittelbar praktikable Instrumente für eine wirtschaftsdemokratische Orientierung zu liefern. Gegenwärtig geht es eher darum, eine regulative Idee zu entwickeln, die latenter Gesellschaftskritik eine Perspektive bietet. In diesem Zusammenhang gilt es, "dicke Bretter" zu bohren. Der Auseinandersetzung um den Freiheitsbegriff kommt dabei ein zentraler Stellenwert zu. Die marktradikale Theodizee präsentiert sich gern als Befreiungsprojekt und schreibt Werte wie Eigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmung auf ihre Fahnen. Real bedeutet sie allein die Maximierung von negativen Freiheiten für privilegierte Gruppen, die diese Freiheiten auf Kosten gesellschaftlicher Mehrheiten nutzen. Insofern ist ein altes Anliegen wirtschaftsdemokratischer Konzepte von brennender Aktualität. Erst die Überwindung struktureller Machtasymmetrien in Wirtschaft und Arbeitswelt kann die Voraussetzungen für eine Gesellschaft schaffen, "worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist".(15)


Dr. Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich Schiller-Universität Jena und Mitherausgeber der spw.


ANMERKUNGEN

(1) Einen Überblick über die Diskussion geben: Demirovic, Alex (2007): Demokratie in der Wirtschaft. Positionen. Probleme. Perspektiven. Münster; Martens, Helmut (2010): Neue Wirtschaftsdemokratie. Anknüpfungspunkte im Zeichen von Ökonomie, Ökologie und Politik. Hamburg; Bontrup, Heinz J. (2005): Arbeit, Kapital und Staat. Plädoyer für eine demokratische Wirtschaft. Köln; Krätke, Michael (2008): Eine andere Demokratie für eine andere Wirtschaft. Wirtschaftsdemokratie und Kontrolle der Finanzmärkte. In: Widerspruch 55, S. 5-16.

(2) Sinn, Hans-Werner (2008):"1929 traf es die Juden - heute die Manager", in: Der Tagespiegel vom 27.10.2008.

(3) Vgl.: Naphtali, Fritz (1928): Wirtschaftsdemokratie. Ihr Wesen, Weg und Ziel. Berlin; kritisch: Abendroth, Wolfgang (1954). Die deutschen Gewerkschaften. Weg demokratischer Integration. Berlin.

(4) Dullien, Sebastian; Herr, Hansjörg; Kellermann, Christian (2009): Der gute Kapitalismus ... und was sich nach der Krise ändern müsste. Bielefeld.

(5) Vgl. die Kontroverse in: Vgl.: Dörre, Klaus; Lessenich, Stephan, Rosa, Hartmut (2009): Soziologie. Kapitalismus. Kritik. Eine Debatte. Frankfurt a. M.

(6) Lutz, Burkart (2009): "Sozialismus, warum denn nicht?", in: Mitbestimmung 55, H. 1/2, S. 48-51, hier S. 51.

(7) Sik, Ota (1979): Humane Wirtschaftsdemokratie. Ein dritter Weg. Hamburg.

(8) Vgl.: Abelshauser, Werner (2009): Nach dem Wirtschaftswunder. Der Gewerkschafter, Politiker und Unternehmer Hans Matthöfer. Bonn, S. 103-202.

(9) Vgl. z. B. Artus, Ingrid/Böhm, Sabine/Lücking Stefan/Trinczek, Rainer (2009): Jenseits der Mitbestimmung. Interessenhandeln in Betrieben ohne Betriebsrat. Frankfurt/New York: Campus.

(10) Choi, Hae-Lin (2010): "Die Organisierung der Unorganisierbaren. Gewerkschaftliche Strategien zur Organisierung von prekär Beschäftigten in den USA, Südkorea und Italien". Berlin (unveröffentlichte Dissertation).

(11) Negt, Oskar (1984): Lebendige Arbeit, enteignete Zeit. Politische und kulturelle Dimensionen des Kampfes um die Arbeitszeit. Frankfurt/New York: Campus.

(12) Befragt wurden Arbeiter und Angestellte aus sechs Betrieben der Metall- und Elektroindustrie in Ost- und Westdeutschland. Die Befragungen erfolgten zwischen 2008 und 2010. Insgesamt wurden 2074 Arbeiter und Angestellte befragt.

(13) Dörre, Klaus/Behr, Michael/Eversberg, Dennis/Schierhorn, Karen (2009): Krise ohne Krisenbewusstsein? Zur subjektiven Dimension kapitalistischer Landnahmen. In: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 39. Jahrgang 2009, Nr. 41,S. 559-576.

(14) Die Antwortvorgaben waren: stimme voll zu, stimme eher zu, teils-teils, stimmeehernicht zu,stimmegarnicht zu.BeidenzustimmendenAntworten wurde teils-teils nicht berücksichtigt.

(15) Marx, Karl/Engels, Friedrich (1977), "Das Manifest der kommunistischen Partei". In: MEW, Band 4, S. 459-493. Berlin: Dietz (zuerst 1848), hier S. 482.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 5/2010, Heft 180, Seite 18-23
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. November 2010