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ENERGIE/1984: Markt oder Staat? (spektrum - Uni Bayreuth)


spektrum - Universität Bayreuth
10. Jahrgang · Ausgabe 2 · November 2014

Markt oder Staat
Die Energiebranche zwischen Wettbewerb und Regulierung

Von Knut Werner Lange


Kaum eine Branche sieht sich seit Jahren so raschen und tiefgreifenden Veränderungen ausgesetzt wie die Energiewirtschaft. Bürgerinnen und Bürger stellen sich ebenso häufig wie Unternehmen die Frage, warum der Energiesektor (Strom, Gas und Fernwärme) nicht ebenso wie die meisten anderen Wirtschaftszweige den allgemeinen rechtlichen Rahmenbedingungen einer Marktwirtschaft überlassen wird, sondern einer besonderen staatlichen Kontrolle unterliegen muss. Der Grund dafür liegt vor allem in zwei Besonderheiten des Energiesektors, die ihn von anderen Branchen unserer Volkswirtschaft unterscheiden:

• An erster Stelle ist die Gemeinwohlbezogenheit des Energiesektors zu nennen. Verbraucher und Industrie sind auf eine sichere, preisgünstige, effiziente und umweltverträgliche Energieversorgung zwingend angewiesen.

• Ferner ist die Leitungsgebundenheit des Energiesektors zu beachten. Da die Strom-, Fernwärme- und Gasversorgung aus technisch-physikalischen Gründen nur über eine Leitung erfolgen kann und eine Duplizierung solcher Leitungen nicht sinnvoll ist, erfolgt die Versorgung entgegen den grundsätzlichen Regeln der Marktwirtschaft auf effizienteste Weise in einem Monopol. Eine solche Monopolsituation schafft jedoch für den Monopolisten die Möglichkeit des Missbrauchs seiner marktbeherrschenden Stellung. Sie erfordert daher eine dauerhafte staatliche Aufsicht, die in Deutschland vor allem durch die Bundesnetzagentur und das Bundeskartellamt gewährleistet wird.

Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass in der Bundesrepublik lange Zeit kartellrechtliche Sonderregelungen existierten. So waren früher beispielsweise Demarkations- und Konzessionsverträge zwischen Gemeinden und Versorgungsunternehmen vom Kartellverbot befreit, was zum sogenannten System der geschlossenen Versorgungsgebiete führte. Dieses Modell liegt heute noch der öffentlichen Wasserversorgung zugrunde, zumal die öffentlichen Wege und Straßen im Eigentum der jeweiligen Gemeinde stehen (Wegemonopol). Die Rechtfertigung solcher aufgeteilten Versorgungsgebiete, die erst durch die Energierechtsnovelle 1998 endgültig aufgehoben wurden, bestand in der Sicherstellung einer geregelten und preisgünstigen Energieversorgung.


Wachsender staatlicher Einfluss

Hat der alte Hexenmeister
Sich doch einmal wegbegeben!
Und nun sollen seine Geister
Auch nach meinem Willen leben.

Aufgrund umfassender Gesetzgebungspakete auf europäischer Ebene wurde in Deutschland nach der Jahrtausendwende das Energiewirtschaftsgesetz mehrfach grundlegend novelliert. Die von der Europäischen Kommission forcierte strikte Trennung von Erzeugung und Transport ("unbundling" oder "Entflechtung") hat seither den staatlichen Einfluss auf den Energiemarkt deutlich anwachsen lassen. Zuständig für die Versorgungssicherheit mit Strom sind, anders als beispielsweise bei der Bahn, nicht länger die im Hinblick auf Transport und Erzeugung vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmen alten Typs. Zuständig sind nur noch die "entflochtenen" und ausschließlich für den Stromtransport verantwortlichen vier Übertragungsnetzbetreiber sowie die Verteilnetzbetreiber.

Alle diese Schritte des europäischen wie des nationalen Gesetzgebers sollten den Wettbewerb stimulieren, was teilweise auch gelungen ist. Die traditionelle Liberalisierungsaufgabe des diskriminierungsfreien Netzzugangs bzw. Netzanschlusses wird heute zumeist als Erfolgsgeschichte begriffen. Dies zeigt sich etwa daran, dass die Konsumenten seit einigen Jahren zwischen vielen Versorgern für Strom und Gas wählen können. Mit dem Wechsel von einer monopolistischen in eine vermehrt wettbewerblich geprägte Marktstruktur sind aber weitreichende staatliche Marktinterventionen notwendig geworden. Sie gehen deutlich über die klassische Regulierung hinaus, um insbesondere die Versorgungssicherheit weiterhin sicherstellen zu können und Anreize für Investitionen in die Netze zu gewährleisten.


Sorge um die Netzstabilität

Seine Wort' und Werke
Merkt' ich, und den Brauch,
Und mit Geistesstärke
Thu' ich Wunder auch

Die Liberalisierungsansätze wurden von der breiten Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Sie verbindet mit dem Begriff der Energiewende den Ausstieg aus der Atomkraft im Jahr 2011 als Reaktion auf die Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima. Diese politisch gewollte und von der großen Mehrheit der Bevölkerung bis heute unterstützte Neuausrichtung der deutschen Energiewirtschaft traf eine Branche, die sich - wie gezeigt - mitten in einer Phase des Umbruchs befand. Anders als das Aufbrechen der geschlossenen Versorgungsgebiete oder die "Entflechtung" der vertikal integrierten großen Energieversorgungsunternehmen greift die zweite staatlich verordnete Energiewende in die Art und Weise ein, wie Energie in Deutschland erzeugt werden soll. Dieser Umbau hat den Charakter eines Paradigmenwechsels und löst seither den zuvor gültigen Liberalisierungs-Ansatz Schritt für Schritt ab.

Schon vor 2011 hatte sich der Energiesektor mit dem zunehmenden dezentralen Ausbau erneuerbarer Energien langsam aber stetig gewandelt. Der seit 2011/2012 begonnene massive Rückbau der Stromerzeugung aus Kernenergie und der gleichzeitige enorme Zuwachs der regenerativen Erzeugung verlangt aber Veränderungen in einem vollkommen unbekannten Maße und in einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Bislang wurde der benötigte Strom vor allem in stets verfügbaren konventionellen Kraftwerken und in Atomreaktoren im Westen und Süden der Republik erzeugt, wo auch die bedeutsamen Nachfragezentren liegen. Künftig soll er jedoch fluktuierend durch Wind und Sonne dezentral hergestellt werden. Die Verlagerung der Erzeugungsschwerpunkte von Süd nach Nord (insbesondere Windstrom) verlangt erhebliche zusätzliche Investitionen in den Ausbau und die Verstärkung der bisherigen Übertragungsnetze, um den Stromtransport in die Verbrauchszentren im Westen und Süden Deutschlands zu gewährleisten. Die Sorge um die Netzstabilität ist mehr als begründet. Sie betrifft übrigens keineswegs nur die sogenannten Stromautobahnen. Auch die Verteilnetze sind längst an ihre Grenzen gestoßen. Denn sie waren für die Aufnahme der Stromerzeugung "vor Ort" nie ausgelegt und müssen daher von uni- zu bidirektionalen Systemen weiterentwickelt werden.


Gefahren für die öffentliche Akzeptanz

Herr, die Noth ist groß!
Die ich rief, die Geister,
Werd' werd ich nun nicht los.

Immer häufiger zeigt sich, dass die zweite Energiewende zu viele Fehlerquellen aufweist, bei deren Beseitigung die Politik den Marktrealitäten und der technischen Entwicklung zunehmend hinterher hinkt. Eine auf Instrumente einer staatlichen Planwirtschaft zurückgreifende Politik droht bei dem Versuch zu scheitern, die Energieversorgungslandschaft in einem modernen Hochindustrieland neu zu ordnen. Während der Staat auf eine Regulierung von oben setzt, suchen immer mehr Privathaushalte und Industrieunternehmen ihr Heil in der Eigenversorgung. Sie werden zu sogenannten Prosumenten - nicht zuletzt, um ihre kontinuierlich steigenden Energiekosten in den Griff zu bekommen.

Industrieunternehmen wie Bürgerinnen und Bürger setzen also gleichermaßen auf die Mechanismen eines staatlich subventionierten, also manipulierten Marktes. Weil aber nirgends exakte Vorstellungen darüber vorhanden sind, wie sich der Ausbau der fluktuierenden Erzeugung aus Wind und Sonne mengenmäßig und regional entwickelt, bekommt man staatlicherseits Probleme, den exakten Netzausbaubedarf für die kommenden Jahre zutreffend zu beschreiben. Vor diesem Hintergrund häufen sich rechtliche Fragestellungen und Schwierigkeiten. Das sogenannte Moratorium etwa, also die unmittelbare Stilllegung einiger Atomkraftwerke wenige Tage nach der Kernschmelze in Fukushima, war nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts rechtswidrig. Daraus folgt die schlichte Erkenntnis: Wenn der Staat so radikal in eine Wirtschaft eingreift, wie es in der Energiebranche gegenwärtig geschieht, so muss dies mit der größtmöglichen Sorgfalt geschehen.

Infolge seiner marktfernen Steuerung der Energiewirtschaft ("Strommarkt-Design") drohen dem Staat zudem zwei Akteure abhanden zu kommen, auf deren Unterstützung er dringend angewiesen ist: die Bürgerinnen und Bürger sowie die Industrie. Unsere Gesellschaft läuft Gefahr, in eine Gruppe von Zahlmeistern, die ständig steigende Belastungen zu schultern haben (zum Beispiel Mieten), und eine wachsende Gruppe von Privilegierten zu zerfallen, die an der Energiewende verdienen (zum Beispiel durch den Betrieb von Photovoltaikanlagen im eigenen Haus). Der jüngste Streit um die Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes hat dies deutlich vor Augen geführt. Dennoch weicht die Politik der Frage nach der gerechten Finanzierung der Belastungen aus. Die Versorgungswirtschaft erkennt zwar den enormen Investitionsbedarf; ihr sind aber die Erträge weggebrochen, aus denen sie diese Investitionen hätte bezahlen können. Ihr Großkraftwerkspark ist zunehmend unrentabel geworden, und die Gewinne aus den noch laufenden Kernkraftwerken werden mit der Brennelementesteuer teilweise abgeschöpft.

Wer aber das Zustandekommen freier Marktpreise verhindert, muss die Produktions- und Verteilungsentscheidungen nach anderen Kriterien treffen. Sind dies Zufall, Zwang oder gute Lobbyarbeit, nagt der Staatsinterventionismus an den ethischen Wurzeln unserer Wirtschaftsverfassung und droht, die Akzeptanz der Rechtsordnung insgesamt zu unterhöhlen. Zudem setzt der Staat die Ursache für die Wettbewerbsprobleme stromintensiver Industrien auf internationalen Märkten.

Energiewenden sind Herkulesaufgaben - Deutschland hat sich gleich zwei davon geleistet. Damit gehen eine Fülle von ungeklärten Problemen, offenen Fragen und rivalisierenden Lösungsansätzen einher. Die Rechtswissenschaft ist dazu aufgerufen, sich aktiv in die Debatte einzuschalten und ihren Beitrag zum Gelingen des Projektes zu leisten.


Autor

Prof. Dr. Knut Werner Lange ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, deutsches und europäisches Handels- und Wirtschaftsrecht und stellvertretender Direktor der Forschungsstelle für deutsches und europäisches Energierecht (FER) an der Universität Bayreuth.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. 1: Illustration zu "Der Zauberlehrling." Aus "Goethe's Werke", 1882, Zeichnung von Ferdinand Barth (1842-1892). Zitate "Der Zauberlehrling" aus: Goethes Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Erster Band. S. 217-220.

Abb. 2: Entwicklung der Strompreise für die mittelspannungsseitig versorgte Industrie in Deutschland mit einem Jahresverbrauch zwischen 160 und 20.000 MWh inklusive Stromsteuer (Index 1998 = 100).Quelle: Strompreisanalyse Juni 2014 des BDEW Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e.V.

Abb. 3. Steigende Energiekosten stärken den Trend zur Eigenversorgung.


Sie finden das Magazin als PDF-Datei mit Abbildungen unter:
http://www.uni-bayreuth.de/presse/spektrum/spektrum-pdf/ausgabe_02_14.pdf

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Quelle:
spektrum - Magazin der Universität Bayreuth
Ausgabe 2, November 2014, S. 38 - 41
Herausgeber: Universität Bayreuth
Stabsstelle Presse, Marketing und Kommunikation
95440 Bayreuth
Telefon: 0921/55-53 56, -53 24, Fax: 0921/55-53 25
E-Mail: pressestelle@uni-bayreuth.de
Internet: www.uni-bayreuth.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Februar 2015

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